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Ein Tag wie jeder andere
Kurz vor Mitternacht betritt der Alte das Wohnzimmer. Ohne das Licht anzumachen geht er in Richtung seines Lieblingsplatzes und stellt eine frische Flasche Whiskey auf den kleinen Tisch neben dem Sessel. Er seufzt leise in sich hinein, setzt sich in den Sessel, öffnet die Flasche und nimmt einen großen Schluck. Danach noch einen. Und noch einen. “Ein Tag wie jeder andere”, flüstert er mit seiner alten rauen Stimme und kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Er nimmt einen weiteren Schluck.
Lautes Gelächter von der anderen Straßenseite unterbricht seine Stille in dem Zimmer im ersten Stock . “Hm? Was soll das denn?”, lallt er bereits leicht gezeichnet vom Alkohol und schleppt sich zum Fenster. Vor dem Haus gegenüber stehen 4 Menschen, welche er nicht genauer erkennen kann, und unterhalten sich aufgeregt. Er versucht zu hören was sie reden, bekommt jedoch nur einige Wortfetzen mit: “Schöne Party”, “Danke für das Fest”. Der Blick des Alten wird leicht verärgert: “ Party…” schnauft er und schüttelt den Kopf. Gerade als er sich wieder in seinen Sessel begeben will, bemerkt er, dass eine der 4 Personen in Richtung seines Hauses läuft. In diesem Moment, als die Kirchturmglocken Mitternacht schlagen, klingelt es an der Tür. Genervt schleppt er sich zur Gegensprechanlage :” Was?” - “Opa? Ich bins Susanne!”. Susanne ist seine Enkelin. “Was will die schon wieder hier?”, denkt er sich und öffnet die Tür. Während Susanne auf dem Weg in die Wohnung ist, setzt sich der Alte wieder in seinen Sessel und nimmt einen kleinen Schluck aus der Flasche.
Er hört die Wohnungstür zu fallen. ”Hier.”, ruft er genervt. Susanne läuft in das Wohnzimmer und schält das Licht ein. Der Alte stöhnt, doch bevor er etwas sagen kann unterbricht ihn Susanne: “Entschuldigung, dass ich so spät noch störe, aber Papa meinte vorhin du seiest um die Uhrzeit bestimmt noch wach. Ich war gerade sowieso in der Nähe auf einem Fest von einer Freundin. Und da dacht ich mir, dass es doch nett wäre wenn ich die erste bin die dir zum Geburtstag gratuliert!”. “Nett -- Du solltest nach Hause gehen, es ist schon spät”. Susanne scheint etwas verärgert, aber lässt sich nicht von ihrem freundlichen Lächeln abbringen. “Hör mal Opa: Warum denn so Griesgrämig? Es ist dein 75.! Zeig doch mal ein bisschen Freude!“ - “Freude? Soll ich mich etwa freuen, dass du mich um die Uhrzeit noch störst, nur um mir zu gratulieren wie alt ich schon bin?” Susanne lächelt immer noch, obwohl sie längst die angebrochene Whiskeyflasche bemerkt hat und leicht angenervt ist von dem Verhalten des Alten. “Warum fällt es dir so schwer mal etwas Dankbarkeit zu zeigen? Oder dich für jemand zu freuen? Warum warst du an Feiertagen oder Geburtstagen nie bei der Familie?” Susanne unterbricht ihre Fragen mit einem Seufzer, ihr freundliches Lächeln verschwindet um dann noch eine weitere Frage zu stellen: “Nicht einmal bei der Beerdigung von Oma warst du da! Fällt es dir so schwer Gefühle zu zeigen?”
Eine kurze aber erdrückende Stille kehrt in das Zimmer ein. “Gefühle - Gefühle sind das schwächste am Menschen, wenn man sie zulässt wird man nur verletzt! Ich habe nicht getrauert, als deine Oma gestorben ist. Hätte ich das getan, wäre ich nur zu abgelenkt gewesen von den Wichtigen Dingen im Leben! Ich kann den Tod nicht ändern, also warum soll ich mich damit aufhalten? Ich lebe mein Leben wie ich will und du deins wie du willst. Warum musst du mir jetzt irgendwas mit Gefühlen aufquatschen?”
Geschockt von der kalten Antwort des Alten, kämpft Susanne mit den Tränen. “ Sie ist also “meine Oma“? Ist dir klar, dass sie auch deine Frau war? Und von welchen wichtigen Dingen redest du? Schau dich an! Du bist Rentner und anstatt deine alten Tage zu genießen, sitzt du hier und betrinkst dich! Wie kannst du ohne jegliches Gefühl leben?”
Wieder kehrt eine Stille in das Zimmer ein bevor der Alte antwortet :” Leben? - Ich bin tot. Ich bin tot und es ist mir egal.”. Diese Antwort lässt Susanne verstummen und der Alte fährt fort “ Und jetzt geh bitte. Ich brauch keine Gesellschaft von niemanden. Schon gar nicht wenn mir dieser jemand erzählen will, wie und ob ich was zu fühlen habe. Gute Nacht.”
Susanne fehlen die Worte. Sie steht auf und will die Wohnung verlassen. “Ach Susanne” räusperte der Alte. “Was?” - “Mach das Licht aus beim Rausgehen”. Wütend schlägt sie auf den Lichtschalter: “Sogar an seinem Geburtstag”, denkt sie und verlässt die Wohnung. Der Alte nimmt einen letzten großen Schluck für den Abend und grinst : “ Ein Tag wie jeder andere.”