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Ein Tag
Es war eine dieser Wochen gewesen, die an den Nerven zerren. Eine dieser Wochen - laut, hektisch und voller Unruhe. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt gewesen, die Tage lang und schwer, die Nächte kurz und kalt.
Doch sie hatte es geschafft – zum ersten Mal hatte sie ihren lang gehegten Wunsch in die Tat umgesetzt – sie hatte sich das Wochenende frei gehalten, war geflohen aus der lauten Großstadt.
Seit Stunden schon ging sie durch die schöne Hügellandschaft, vorbei an Feldern und Bauernhöfen, durchquerte tiefe Wälder mit kleinen gurgelnden Bächen und langsam, Schritt für Schritt, wurde ihr Kopf frei, die Gedanken wurden klarer und die Last des Alltags fiel von ihr ab. Die warme Spätsommersonne schien in ihr Gesicht.
Eine angenehme Müdigkeit breitete sich aus und sie machte Rast auf einem felsigen, grasbewachsenen Hügel, von dem aus sie weit in das Land blicken konnte. Sie setzte sich in das warme Gras, und genoss den Anblick der bunten Wälder im Tal. Erschöpft lehnte sie sich an einen Felsen und schloss für einen Moment die Augen um die Sonne und die Stille zu spüren.
Das Wiehern eines Pferdes ließ sie hochschrecken und benommen blinzelte sie in das helle Sonnenlicht. Die Wälder schienen in ein tiefes Rot getaucht und die Blätter leuchteten in allen Farben des nahenden Herbstes. Sie kniff die Augen zusammen und starrte ungläubig auf die Landschaft, die völlig verändert schien. In der Ferne, dort wo eben noch grüne Hügel waren, erhob sich eine hohe Bergkette, die schneebedeckten Gipfel verschwammen in blaugrauem Dunst – ein Adler zog majestätisch seine Kreise am blauen Himmel. Sie rieb sich die Augen und sah im Tal ein Dorf – aber es war kein gewöhnliches Dorf. Es war ein Indianerdorf. Einige Tipis standen verstreut auf der Ebene und Pferde grasten friedlich auf den Wiesen. Kinderlachen drang in ihre Ohren und sie sah, wie die Kleinen unbeschwert und frei auf den Wiesen tollten – ohne Sorgen vor den kommenden Tagen, vor dem nahenden Herbst und dem harten Winter. Einige Frauen saßen beieinander, sie schienen sich leise zu unterhalten und waren offensichtlich damit beschäftigt Kleidung herzustellen. Ein wenig entfernt von den Frauen saß eine Gruppe älterer Männer im Kreis und es schien, als diskutierten sie eine wichtige Angelegenheit.
Noch nie in ihrem Leben war die Frau so erstaunt gewesen, noch nie hatte sie den Herbst in solcher Pracht leuchten sehen – noch nie hatte sie einen so tiefen Frieden verspürt. Alles war so unwirklich und doch so vertraut – sie hatte das Gefühl, als wäre ihr diese Umgebung sehr gut bekannt, ihr war als wäre dies vor langer Zeit einmal ihr Zuhause gewesen. Sie wollte aufstehen und zu den Menschen laufen um sie zu begrüßen, doch sie konnte nur unbeweglich dasitzen und die Szenerie beobachten. Sie war unfähig zu denken oder zu handeln, sie konnte nur schauen und fühlen. Sie roch den Duft von Leder und spürte weiche Mokassins an ihren Füßen.
Fasziniert schaute sie in das Tal hinab und sie sah, wie die Kinder plötzlich fröhlich rufend losliefen – ihr Blick folgte der Richtung und in weiter Ferne sah sie eine Gruppe Reiter sich dem Dorf nähern. Als sie sich näherten erkannte sie auf einem schwarzen Pferd ihren Anführer, es war ein stolzer, schöner Krieger – zu jung für einen Häuptling – vielleicht sein Sohn. Die Männer, die zuvor im Kreis saßen, gingen nun langsam auf die Gruppe zu und ein paar Frauen erhoben sich. In ihrer Mitte stand eine junge Frau mit langem, tiefschwarzem Haar das in der Sonne glänzte.
Doch plötzlich spürte die Frau auf dem Hügel etwas anderes – langsam drehte sie den Kopf zur Seite und da sah sie ihn. Es war der Wanderer mit der warmen Seele, der ihr schon so oft begegnet war und dessen Blick immer wieder ihr Herz getroffen und ihre Seele berührt hatte. Aber was machte er hier? Er passte so gar nicht in die Umgebung und doch verschmolz er mit ihr. Langsam ging er quer durch das Dorf, doch niemand schenkte ihm Beachtung, niemand außer ihr schien ihn zu bemerken. Es war, als blickte er kurz zu ihr hoch und in seinem schönen Gesicht erahnte sie ein trauriges Lächeln. Sie schloss die Augen und als sie wieder zu ihm hinunter blickte, hatte er seinen Weg schon fortgesetzt und sie sah wie er sich im roten Licht der Abendsonne immer weiter entfernte bis er nur noch ein kleiner Punkt im Abenddunst war. Wie oft hatte sie ihn so gesehen - doch dieses mal spürte sie keine Trauer, sie spürte etwas anderes, etwas Neues...
Während die anderen Reiter die Kinder und die alten Männer begrüßten, ritt der Krieger ohne Regung durch die Menge und stoppte sein Pferd vor der jungen Frau, die ebenso stolz zu sein schien wie er. Lange schauten sie sich in die Augen und beide schienen unmerklich zu lächeln. Dann streckte der Krieger seine Hand aus, sie ergriff sie und er zog sie kraftvoll auf sein Pferd. Sein Blick schweifte umher bis zu dem Felsvorsprung auf dem die Frau saß und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Sie erkannte ihn nicht und doch schien er sie gut zu kennen. Sie spürte, dass sie ihm schon einmal begegnet war, aber sie konnte sich nicht erinnern. Doch dieser ernste, stille, kurze Blick erzählte ihr Geschichten – lang vergessene, tief vergrabene Geschichten über ihre Seele und ihr wahres Wesen. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden, selbst als er bereits sein Pferd gewendet hatte und sich langsam entfernte. Ohne sich noch einmal umzuschauen ritten die beiden auf die glühenden Berge zu – einer ungewissen Zukunft entgegen und ihre Shillouette verschmolz mit dem Rot der Bergkette.
Es war still geworden im Dorf, nur das Knistern des Feuers war noch zu hören. Das Kinderlachen und der Schrei des Adlers waren verstummt. Der schöne Wanderer, der stolze Krieger und die junge Frau waren lange schon fort und der Abendstern leuchtete hell über den dunklen Bergen. Frieden und Wehmut umgaben die Frau auf dem Hügel und als sie die Augen schloss wehte ein leiser Wind ihr Freiheit ins Gesicht.
Als sie die Augen wieder öffnete und auf die dunkle Hügellandschaft blickte, wusste sie, wo sie war und sie ahnte, wer sie war. Geblieben war der Hauch der Freiheit der sie noch immer umgab – und sie wusste, sie würde nicht zurückkehren.