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Ein Tag
Mein Wecker klingelt, denn es ist acht Uhr. Um acht Uhr stehe ich für gewöhnlich auf, es sei denn, ich habe mehr oder weniger angenehme Pflichten zu erfüllen oder habe etwas vor, auf das ich Lust habe, auf das ich mich freue.
Heute muss ich an die Uni. Ich mag das Fach, welches ich studiere und freue mich, mehr darüber zu lernen. Aber auf die meisten Menschen, die mir dort begegnen, seien es Kommilitonen oder Dozenten, sowie auf die Lehrmethoden der Letzteren, könnte ich getrost verzichten.
Ich gehe in die Küche, um zu frühstücken. Dort schaue ich aus dem Fenster und sehe eine kleine Meise auf einem Ast eines der Bäume sitzen, die vor dem Haus stehen, in dem ich wohne. Das Haus befindet sich mitten in der Stadt, es ist von mehreren Straßen umgeben. Diese Wohnlage ist momentan unentbehrlich für mich, da ich mit dem Zug an die Uni fahren muss und so auf die Nähe zum Bahnhof angewiesen bin. Wirklich still ist es hier höchstens sonntagmorgens.
Deswegen liebe ich die Bäume vor dem Haus und die Vögel, die sich gerne in ihrer Umgebung aufhalten. Ich liebe die kleinen Meisen, die so herrlich zwitschern. Ich liebe die Taubenpärchen, die sich auf die Äste setzen, um dort zu kuscheln und zu schlafen. Ich liebe die Krähen, die, mit ihrem frisch erbeuteten Fressen im Schnabel, auf dem Baum Rast machen, um zu überblicken, wo es wohl die nächste Beute zu ergattern gibt.
Ich liebe die Tiere und jedes Mal, wenn ich mit Menschen in Kontakt trete, liebe ich sie umso mehr.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, ziehe ich mich um. Ich betrachte mich im Spiegel und überlege, ob ich mich schminken soll. Nein, das ist mir das bisschen Mühe heute nicht wert. Warum soll ich mich überhaupt „schön“ machen? Ich gehe an die Uni, um zu lernen und eine Ausbildung abzuschließen. Einen Schönheitspreis möchte ich nicht gewinnen, weder dort noch sonst irgendwo. Und Menschen beeindrucken? Falls mir das jemals in den Sinn käme, würde ich es nicht mit solch banalen Oberflächlichkeiten versuchen. Wenn überhaupt, wollte ich die Menschen auf geistiger Ebene erreichen. Aber wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, dass das wohl keinen Sinn haben wird. Die meisten stehen auf Oberflächliches und ernsthaft nachdenken wollen und können ja ohnehin die wenigsten.
Ich packe meine Tasche, ziehe mir Schuhe und Jacke an und verlasse meine Wohnung. Auf dem Weg zum Bahnhof gehen mir die zahlreichen Autos ganz schön auf die Nerven. In ihnen sitzen Leute, die bereits morgens vor der Arbeit bis ins Unermessliche gestresst sind. Das muss ja ein ganz tolles Leben sein. Ich weiß, dass ich so nie enden möchte – komme, was wolle.
Ein Krankenwagen fährt mit Blaulicht und Sirene an mir vorbei und lässt beinahe mein Trommelfell platzen.
Noch ehe ich den Bahnhof erreiche, ist meine Motivation, diesen Tag zu bestreiten, fast gänzlich erloschen. Aber ich bin mir darüber im Klaren, dass mir auch vieles von dem, was ich heute meistern werde, in meinem späteren Leben nützlich sein wird, egal, wie nervig es ist. Deswegen steige ich in den Zug.
Eine knappe Stunde später betrete ich eines der Universitätsgebäude und begebe mich sogleich in den Hörsaal, in dem ich meine erste Lehrveranstaltung für heute habe. Es ist meine Lieblingsvorlesung und obwohl ich schon die ein oder andere ungeliebte Visage erblickt habe, freue ich mich darauf, mehr über das Fach zu erfahren. Ich packe mein Mäppchen, meinen Ordner und meinen Thermosbecher, gefüllt mit Kamillentee, aus und richte mich auf meinem Platz in der vierten Reihe ein, sodass ich die nächsten anderthalb Stunden so angenehm wie möglich verbringen kann. Ich sitze hier alleine – einige Freundinnen und Bekannte sind zwar auch da, doch sie wollen lieber weiter hinten sitzen. Da ich primär an die Uni gehe, um zu lernen und nicht, um irgendwie geartete soziale Kontakte zu pflegen, verzichte ich auf Gesellschaft und konzentriere mich lieber völlig auf die Lerninhalte.
Der Professor betritt den Saal, das Gemurmel wird langsam leiser bis es schließlich verschwindet. Ich nehme meinen Füller in die Hand. Die Vorlesung beginnt.
Nach fünfeinhalb Stunden geballter Informationsverarbeitung und einigen Nerven weniger verlasse ich die Uni wieder und mache mich auf den Heimweg. Ich habe Hunger und bin etwas erschöpft. Die Informationsflut ist zwar anstrengend, aber viel schlimmer ist die Reizüberflutung allgemein. Überall sind Menschen, Gegenstände, Geräusche, Gerüche. Immer muss man aufpassen, dass man nichts Falsches tut, nichts kaputt macht, höflich ist. Für jemanden wie mich, der nicht einfach so abschalten kann, ist das nach einer Weile ziemlich auslaugend. Ich bin immer wieder froh, daheim zu sein. Man macht sich gerne etwas vor, aber wirklich sich selbst sein kann man eben nur alleine. Jede andere Person bringt einen dazu, in mehr oder weniger ausgeprägter Form eine Rolle zu spielen, dabei merkt man das meist gar nicht, es passiert unterbewusst. Man möchte sich anpassen, um akzeptiert zu werden. Obwohl man das selbst vielleicht gar nicht weiß, ist es anstrengend und auf Dauer hat jeder damit zu kämpfen, der eine früher, der andere später. Ich habe die Tücken und den Aufbau der Gesellschaft diesbezüglich durchschaut und weiß, wie ich selbst damit umgehen muss. Ich passe auf mich auf und achte darauf, dass mir alles nicht zu viel wird. Doch selbst, wenn man achtgibt, kann man nicht alles vermeiden. Niemand kann der Gesellschaft komplett ausweichen.
Im Zug döse ich ein. Eigentlich kann ich in der Öffentlichkeit weder schlafen noch dösen, aber wenn es mir mal gelingt, ist das ein Zeichen dafür, dass mein Körper es wirklich braucht.
Als ich kurz vor meinem Heimatort aufwache und immer noch schlapp bin, wird mir (wie eigentlich jeden Tag) mal wieder bewusst, dass ich einfach nicht gesellschaftstauglich bin. Ich bin es nicht und eigentlich will ich es auch nicht sein. Denn ich mag die Gesellschaft nicht. Ich mag sie nicht, weil ich die Menschen nicht mag.
Ob ich wohl ein Misanthrop bin? Wer weiß. Ist es wirklich notwendig, immer alles zu benennen?
Es gibt auch Menschen, die ich liebe, ganz so ist es ja nicht. Aber ich liebe eben auch die Tiere und die Natur, und wie uns unsere Geschichte und unsere Gegenwart zeigen (und ich bin mir sicher, dass die Zukunft alles bestätigen wird), schließen sich Menschheit und Natur auf lange Sicht betrachtet aus. Ich stehe eindeutig auf Seite der Natur.
Als ich nach Hause komme, esse ich eine Kleinigkeit. Ich genieße es, dass ich mich beim Essen fühlen, in mich reinhorchen kann. Wann hat man in dieser schnelllebigen Welt schon noch Zeit, sich selbst zu empfinden? Dabei sollte doch eigentlich genau das unser Leben, unsere Existenz ausmachen. Aber wer interessiert sich schon noch für das Existenzielle! Lasst uns doch lieber alle Bäume fällen! Dann bekommen wir zwar irgendwann keine Luft mehr, aber immerhin haben wir enorm viel Geld verdient!
Ich beschließe, noch etwas für die Uni zu machen und setze mich an meinen Schreibtisch. Die Uni nimmt wirklich viel Zeit in Anspruch und wenn ich bedenke, dass zwar nicht alles, aber vieles, was man sich in den Kopf quetscht, im späteren Beruf und Leben nie wieder abgerufen werden muss, könnte ich meinen vollgestopften Kopf einfach nur schütteln. Aber was sein muss, muss sein, und so schlage ich mein Lehrbuch auf.
Ehe ich es mich versehe, ist es Abend. Ich esse gewohnheitsmäßig, mache mich frisch, verschicke per Handy einige Nachrichten und gönne mir noch ein wenig Zeit zum Nichtstun. Ich versuche wenigstens, abzuschalten, auch wenn es oft nicht gelingt.
Schließlich gehe ich ans Fester, um die Vorhänge zu schließen. Auf dem Baum vor dem Fenster meines Schlafzimmers sitzt ein Taubenpärchen eng zusammen. Die beiden haben sich aufgeplustert, um der nächtlichen Frische zu trotzen. Ihre kleinen Augen sind geschlossen. Sie schlafen friedlich. Ich finde, dass sie zufrieden aussehen, so im Reinen mit der Welt. Ich muss bei diesem Anblick lächeln.
Schließlich ziehe ich die Vorhänge zu, stelle meinen Wecker auf acht Uhr, lege mich ins Bett und mache das Licht aus. Während ich versuche, einzuschlafen, denke ich noch über so manches nach. Ich lasse den Tag Revue passieren und stelle fest, dass er im Prinzip war, wie die meisten anderen auch. Er war sicher nicht unnütz, aber zur sofortigen Lebensqualität hat er nicht beigetragen – aber daran hat man sich gewöhnt.
Langsam spüre ich, wie mein Körper schwerer wird und mein Geist immer leichter. Kurz vor dem Übergang in den Schlaf fragt sich mein davongleitendes Ich, ob ich wohl, wenn ich schlafe, genauso zufrieden aussehe wie die zwei Tauben vor meinem Fenster.
Vermutlich nicht.
So vergeht ein Tag in meinem Leben.