Ein weiterer Abschied
Das Auto ist randvoll bepackt mit dem allerletzten Kram, den es aus der fast leeren Wohnung noch abzuholen gab. Und neben dem ganzen Zeug hängt nun noch eine unangenehme Verstimmung zwischen den Sitzen. Wozu ich das alles mitschleppen muß, war ihre genervte Frage, die ich nur mit einem genervten Gesichtsausdruck beantwortete. Das hatte gereicht.
Sie fährt langsam, damit die lockere Ladung nicht am Lack des neuen Autos kratzt.
Nein, ich weiß es selbst nicht, was ich mit dem Kram anfangen werde. Nichts. Irgendwo ablagern. Als hätte ich nicht schon genug angesammelt. Die Erklärung, dass es schließlich meiner Mutter gehöre, zählt nicht mehr, denn sie wird es nicht mehr, nie mehr, brauchen. Im Heim ist alles Nötige und noch ein wenig mehr in dem Zimmer untergebracht, das sie mit einer anderen alten Frau teilt.
Hatte ich nicht einmal gesagt, ich würde Tupperdosen hassen? Jetzt verteidige ich stumm den Besitz von gleich etwa dreißig derartigen Dingern. In allen Größen, Formen und Farben. Für jeden Anlass eine Tupperdose.
In Gedanken schaue ich mich noch einmal um. Blicke zurück in die Straße meiner Kindheit, meiner Jugend. Im Vormittagschatten der Gefängnismauer und im Nachmittagschatten des Wohnblocks habe ich gespielt. Immer etwas zurückhaltender, leiser, ängstlicher als die anderen Kinder vom Hof. Bis ich neun war, durfte ich sowieso fast nie „runter“, wie es hieß, wenn man im dritten Stock wohnte. Ganz oben. Aber von dort oben hatte ich einen tollen Blick auf das Innenleben des Knasts, der mir Angst machte, mich aber auch geradezu magisch anzog.
Bis Ende der 70er spielten die „Knastis“ auf ihrer Rasenfläche Großfeldhandball, der inzwischen wohl überall ausgestorben ist. Danach begann die Volleyball-Ära. Ich hing stundenlang am Küchen- oder Klofenster, wenn die spielten. Schon damals, als es wohl noch nicht in Mode war, sondern sicher fast ausschließlich ein Erkennungsmerkmal der besonders harten Jungs, gab es Ganzkörpertätowierte. Das faszinierte mich kolossal. Für mich waren es ausnahmslos unvorstellbar gefährliche Kerle – Räuber, Piraten, mindestens aber Mörder.
Später, etwa ab meinem elften Lebensjahr, wahrsagte Mutter mir oft, eines Tages würde sie mich dort drüben sehen. Dabei war ich nur mäßig frech, eher freundlich, mit einer Neigung zum Aufmüpfigsein, aber ohne jede Ambition zum Rauben und Morden. Nun, sie war eben meine Mutter, und keine Pädagogin.
Ich verlasse die Straße mit dem Gefühl, sie nie wieder zu sehen. Wozu auch? Die Wohnungsübergabe wird meine ältere Schwester regeln. Und dann?
Würde ich meinen Kindern, die sich schon bald nur noch schemenhaft daran erinnern werden, wo und wie die Oma gewohnt hat, aus irgendeinem Grunde zeigen wollen, wo ich mal Kind war? Dann schon lieber die Tierparknummer, und ihnen erzählen, wie viele Leute früher immer am Affenkäfig standen, um über das vermeintlich drollige Verhalten der Rhesusfamilie zu lachen.
Nein, meine Straße, die Karl-Hans-Straße, gibt es schon seit über zehn Jahren nicht mehr. Namen von linken Antifaschisten haben die neuen Eliten der Stadt systematisch gelöscht.
Selbst die Wohnung war nicht mehr die gleiche, weil Mutter irgendwann in einen Nachbareingang gezogen ist, zwei Treppen tiefer, um es sich angenehmer zu machen. Das Treppensteigen quälte sie schon lange.
Auf diese Art den Ort meiner Kindheit endgültig hinter mir zu lassen, tut unendlich weh. Da klammere ich mich eben an Dinge, die, so sinnlos sie auch zu sein scheinen, für mich eine Brücke in die Vergangenheit sein können.
Eine Brücke aus Tupperdosen.