Ein Wintermärchen
Schon eines sternenklaren Abends im November waren ihr die Darstellungen von Laetitia Casta aufgefallen und sie hatte beschlossen, ..... was sie eben beschlossen hatte. Jetzt war sie froh, dass die schwerste aller Entscheidungen wieder wie von selbst gefallen war.
Es war an der Zeit. Der Kühlschrank hatte schon vor Wochen Bankrott erklärt, ein Besuch bei der Landesbank war nicht mehr aufzuschieben, die Gelegenheit schien günstig. Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz vor der Oper – fast legal und unverschämt teuer - wie die anderen auch. Sie fütterte die Parkuhr ohne Mühe. Weil sie Parkuhren sonst nie bezahlte, hatte sie auch jetzt keine Probleme, sich auf dieses neueste Modell einzustellen. Einen Augenblick überlegte sie, ob ihre neuerdings friedliche Einstellung gegenüber dieser Einrichtung etwa jenen Einflüssen zuzuschreiben war, die in letzter Zeit so eindringlich von ihren Alltag Besitz ergriffen. Während sie gegen den stürmischen Wind auf das imposante Portal der Landesbank zueilte, verwarf sie den Gedanken wieder, denn ihr Glaube, dass nichts auf dieser Erde das Recht hatte, sie zu ändern – ausser sie selbst, war unerschütterlich.
Der Goldpreis, zu dem sie die kleinen nuggets ihrer Grossmutter in etwas Essbares umwandeln wollte, stand schlecht, das Päckchen Scheine allerdings fühlte sich gut an. Sicherheitshalber hatte sie es beim Verlassen der Bank an den Oberschenkel gesteckt, eine Vorsichtsmassnahme, die sie leider nur in Deutschland ergriff. In anderen Ländern pflegte sie ihr Geld im Portemonnaie aufzubewahren, ein Umstand, der zahlreichen Zigeunern zu beträchtlichem Wohlstand verholfen hatte, während sie neue Papiere inzwischen in der Rekordzeit von 15 Telefonaten und siebeneinhalb Wochen beantragte.
Kalter Wind schlug ihr in böigen Schwaden eisige Regentropfen ins Gesicht, als sie mit leichten, ausgreifenden, nicht sehr damenhaften Schritten einem der grossen Fachgeschäfte der Landeshauptstadt entgegen eilte. Sie spürte wenig davon, zu sehr waren ihre Gedanken bei dem einen Menschen, der alles für sie war, uralt und ewig jung, Baum und Gras, Wurzel und Krone, durchschleierter Fels, gleichzeitig Feuer, Wasser, Luft und Eis, unendlicher Schmerz, und immer wieder ewiges Glück. Woche für Woche knallte sie in voller Fahrt gegen ihn, gegen eine Mauer aus Stein, die einen strahlenden Rubin verbarg, unerbittlich, undurchdringlich, stürmisch, leidenschaftlich und weit wie das Meer; Wenn er vor ihr flüchtete, war er empfindsam wie ein warmer leichter Sommerwind – das bedeutete täglich frischen Wind. Und dennoch, er war ihr Buch, in dem sie zwischen den Zeilen las, in dem sie all das fühlte, was er nicht ausgesprochen und doch gesagt hatte, oft erst viele Stunden, nachdem sie sich getrennt hatten. Und, was das Entscheidenste überhaupt war: er genügte ihr, so wie er war: widerborstig, egoistisch, kleinlich, dickköpfig, verschroben, voller Sehnsucht und Liebe, voller Mitgefühl und Verständnis – zumindest manchmal. Nein, falsch. Er genügte ihr nicht, er war alles, er war mehr, als sie sich jemals erträumt hatte und mehr, als sie verkraften konnte. An diesem stürmischen Wintermorgen durchwärmten die Gedanken an ihn sie wie ein glühendes Kaminfeuer und es war Weihnachten.
Die zuständige Fachabteilung war leer, Wieder einmal hatte sie ihren fehlenden Sinn für die praktischen Dinge des Lebens unter Beweis gestellt, denn sie hatte Minuten angestanden, um nach dem Weg zu dem gesuchten Band zu erfragen. Die Darstellungen von Laetitia Casta konnten sinnvollerweise nur dort sein, wo sie eben waren. Voller Erwartung trug sie der Verkäuferin ihren Wunsch vor. Sie war gespannt, wie das, was sie in so mancher Präsentation gesehen hatte, in realitas aussehen würde. Dann verschlug es ihr die Sprache. Halleluja!, das war nicht nur Kunst, das war Schönheit, Sex und Erotik, wie mann sie sich nur wünschen konnte. „Das muss einem Mann doch Spaß machen“, murmelte sie verblüfft, denn ihre eigene Schönheit lag eindeutig mehr in der Seele. Die Verkäuferin grinste und antwortete: „Das haben schon drei andere Frauen für ihre Männer gekauft.“ Jetzt grinste sie. Die Vorstellung war witzig, sie musste lachen und die Verkäuferin freute sich über ihren gelungenen Satz. Oft hatten Sehnsucht und Erregung ihren Körper wie in einem goldenen Strom zerfließen lassen und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er einmal zärtlich ohne Worte den Arm um ihre Schultern legte, träumte von Momenten, wo er still zuhören würde, bis sie beendet hatte, was sie ihm und nur ihm erzählen wollte, sehnte sich nach seinem Vertrauen, seinen Ängsten und seiner Hingabe. Ihn als „ihren“ Mann bezeichnet zu hören, war allerdings der beste Witz des Milleniums. Nicht in 2000 weiteren Jahren würde es ihnen gelingen, die Träume von Liebe, Verständnis, Akzeptanz und unerschütterlichem Vertrauen über die Abgründe ihrer eigenen täglich spürbaren Grenzen zu retten. Oder doch? In Italien sollte es mal zwei gegeben haben und in Hollywood in einem geliehenen Lotus. Aber das war nichts für sie. Also für sie schon, aber nicht für ihn. Auf den Gedanken, dass eine seiner zahlreichen Freundinnen die gleiche Idee gehabt haben könnte, kam sie vorsichtshalber nicht. Manchmal hatte sie wirklich Glück.
Erst einmal zufrieden mit ihrem Kauf flüchtete sie sich zu ihrer Parkuhr, die oh Wunder, entgegen der Unendlichkeit ihrer Traumestänze, noch nicht abgelaufen war. Das war er gewesen, dieser Einkauf: Ein Wintermärchen, eine sonnenbeschienene Landschaft im Abendlicht der untergehenden Sonne - ein unendlicher Traum. Sie wußte, dass er ihr letzter Traum war, denn das neue Jahr würde sie als nüchterne, realitätsbezogene Frau erleben, deren Kopf und beide Beine fest auf dem Boden der Tatsachen verwurzelt waren. Herzensträume und Seelenhüpfer? Nur zur Belohnung.