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Ein-Wohner
„Willst du dir wieder die Nacht um die Ohren schlagen?“
Alexia zuckte zusammen, sie hatte Walter einen Augenblick lang nicht wahrgenommen. „Ja, wie du siehst.“
„Warum bleibst du nicht mal einen Abend zu Hause?“
Wortlos zog sie mit einem kohleschwarzen Kajalstift dicke Striche um ihre dunklen Augen.
„Du könntest dir einen Krimi im Fernsehen anschauen.“
Alexia betrachtete sich kritisch im Spiegel. Jetzt noch ein wenig Lipgloss, und das Make-up war perfekt.
„Hörst du nicht, was ich sage?“
Alexia seufzte. „Wie oft soll ich es noch wiederholen? Ich will nicht zu Hause bleiben. Ein Mord im Film ist fad. Überhaupt ist Fernsehen nur was für alte Leute.“
„Wieso?“, begehrte Walter auf. „Ich bin genauso alt wie du und sehe gern fern.“
„Ich bin viel älter. Trotzdem gehe ich lieber aus. Los, komm!“
Vor dem großen Spiegel im Flur blieb Alexia stehen und betrachtete ihre langen Beine in den hochhackigen Schuhen. Heute trug sie einen sehr kurzen Rock und ein knapp geschnittenes Oberteil. „Sexy, findest du nicht?“
„Du siehst aus wie eine Nutte.“
Alexia klimperte mit den falschen Wimpern. Der goldene Flitterstaub auf ihren Wangen glitzerte im Lampenlicht. „Wie eine Nutte? Dann ist es genau richtig, um sie anzulocken.“
„Weißt du, was du bist?“, fuhr Walter sie an. „Du bist mannstoll - und grausam.“
Alexia setzte mit geübtem Griff ihre Perücke auf und zupfte die schwarzen Locken zurecht, die ihr bis auf die Schultern fielen. „Ich liebe Männer. Besonders wenn sie vom Sex mit mir erschöpft sind. Schade, dass wir beide nicht ...“ Sie kicherte.
„Alexia! Schämst du dich nicht?“
„Kein bisschen.“ Sie wiegte sich in den Hüften, während sie zur Tür schritt.
„Ich will nicht mitkommen. Es ist mir peinlich, wie du dich aufführst. Ich kann das nicht mit ansehen.“
„Hör auf herumzunörgeln!“
Er verlegte sich aufs Bitten. „Bleib nur ein einziges Mal zu Hause! Mir zuliebe.“
Sie blieb hart. „Du kannst dich ja zurückziehen“, sagte sie. „Niemand braucht dich zu bemerken. Das ist mir sowieso lieber.“
„Du bist rücksichtslos“, jammerte Walter. „Nie denkst du an andere! Auch nicht an mich.“
„Warum sollte ich?“
Die Transibar, in der Alexia ihre Nächte verbrachte, lag versteckt in einer dunklen Seitengasse. Walter gefiel es dort gar nicht: das schummrige Licht, die stickige, verqualmte Luft, die zwielichtigen Gestalten, die sich in den Ecken herumdrückten.
Ganz anders Alexia: Sie schwang sich auf einen Barhocker, bestellte einen Drink nach dem anderen und flirtete mit allem, was Hosen anhatte.
Vergeblich versuchte Walter, Augen und Ohren vor dem zu verschließen, was sie trieb. Der Alkohol machte ihn schwindlig und ihm wurde übel, wenn sie anfing, mit einem Kerl herumzuknutschen. Schließlich verschwand sie mit ihm in einem billigen Hotelzimmer - einfach ekelhaft!
Doch das Schlimmste stand ihm noch bevor. Danach, wenn der Kerl eingeschlafen war, setzte Alexia sich im Bett auf und griff verstohlen nach ihrer Handtasche, die neben ihr auf dem Boden stand. Sie holte einen schmalen, blitzenden Gegenstand heraus und fing das Licht der trüben Nachttischlampe darin ein.
Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen. Durch ihre Augen sah Walter den schlafenden Mann. Sie drückte sanft gegen seine Schulter, bis er sich auf den Rücken drehte. Langsam zog sie das Kissen unter seinem Kopf weg.
Sie wiegte das Skalpell in der Hand, bis sie unvermittelt den Schaft wie einen Speer umklammerte. Langsam, unendlich langsam, näherte sich ihre Hand dem Adamsapfel des Mannes. Vorsichtig setzte sie die Spitze auf, verstärkte den Druck. In dem Augenblick, als der Mann die Augen aufriss, stieß sie zu.
Das trockene, knirschende Geräusch und das Röcheln jagten Walter jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken.
Wie im Rausch zog Alexia die scharfe Klinge durch das Fleisch des Mannes, badete ihre Hände in dem austretenden Blut, bis der Körper ganz und gar ausgelaufen war. Zum Schluss leckte sie genießerisch das Blut von den Fingern, seufzte zufrieden und ließ sich zurück in die Kissen sinken.
Wenn sie endlich die Augen schloss, bekam auch Walter ein bisschen Ruhe.
Ab und zu wachte er ein paar Augenblicke vor ihr auf. Diese Momente der Stille nutzte er, um zu grübeln. War sie in sein Leben gekommen? Oder er in ihres? Wer war Gast und wer Gastgeber? Er verabscheute sie. Manchmal, wenn ihm aus dem Spiegel nicht ihre dämonische Fratze, sondern sein eigenes Gesicht entgegenblickte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie endgültig loszuwerden.
Eines Abends versuchte er, mit ihr darüber zu reden. „Du musst verschwinden“, sagte er. „Es wäre besser – für uns beide.“
Sie lachte leise. „Ich denke gar nicht daran! Wohin sollte ich auch gehen?“
„Dorthin, wo du hergekommen bist.“
Alexia lachte wieder. „Du bist es, der nach mir gekommen ist. Ich war schon immer da.“
Walter schwieg.
Lange zog er sich zurück. Er wollte nachdenken, heimlich, ohne dass Alexia ihn ausspionierte. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken gegen sie abzuschotten. „Wenn du mich zerstörst, zerstörst du dich selbst“, warnte sie ihn. „Also lass deine Finger von meinem Körper!“
Walter wurde wütend. „Er gehört nicht dir! In diesem Leib wohnte ursprünglich ich! Nur ich!“
Alexia blieb gelassen. „Vergiss es nie: Ich bin stark und du bist schwach.“
Für eine Weile versank er in sich selbst. Zweifel nagten an ihm. Gehörte der Körper, den sie sich teilten, tatsächlich ihr?
Er regte sich erst wieder, als ihm die Veränderungen bewusst wurden. Immer seltener suchte Alexia bei ihren nächtlichen Streifzügen ein Opfer. Stattdessen nahm sie regelmäßig LSD.
„Du gefährdest unsere Gesundheit“, mahnte Walter.
Alexia stieß ein spöttisches Lachen aus. „Ich pfeife auf deine Gesundheit. Was ich will, ist Abwechslung. Einen neuen Kick. Und was ich brauche, nehme ich mir.“
Das Rauschgift umnebelte auch Walters Hirn, sein Verstand blieb jedoch klar genug, um zu erkennen, dass sie unter Wahnvorstellungen litt.
„Ich bin unbesiegbar“, rief sie, wenn sie sich nach solch einer Drogennacht auf den Heimweg machten. Dabei breitete sie die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. „Jedem Auto, sogar Bussen könnte ich mich entgegenstellen.“
Walter atmete auf, wenn sie sicher die Wohnung erreichten. Doch er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein Unglück geschehen würde.
Eines Nachts wollte Alexia zu Fuß von der Transibar noch Hause gehen.
„Du bist verrückt!“, rief er.
„Wenn hier jemand verrückt ist, dann du.“ Alexia summte vor sich hin und tänzelte die Straße entlang.
„Es ist viel zu weit! Denk an deine hochhackigen Schuhe.“
„Ich kann alles“, sang Alexia. „Alles kann ich, wenn ich will.“
Bevor Walter den Wagen sah, konnte er ihn hören. Er glaubte sogar, ein Vibrieren des Bodens zu spüren, bevor der Jeep um die Ecke bog.
Alexia blieb stehen. „Ich werde dir etwas beweisen.“ Mit einem gewaltigen Satz sprang sie auf die Straße.
„Du bringst uns beide um!“, schrie Walter.
„Ich bin unsterblich.“ Alexia stellte sich mitten auf die Fahrbahn und streckte gebieterisch die Hände aus.
Erst traf sie das Scheinwerferlicht. Im nächsten Augenblick kreischten Bremsen, der Wagen scherte aus, ein Kotflügel rammte den Leib und schleuderte ihn auf den Asphalt.
Der Jeep kam zum Stillstand. Die Fahrertür wurde aufgerissen, eine Gestalt rannte herbei. Das bleiche Gesicht des Fahrers beugte sich über sie.
„Es ist mein Körper“, wisperte Walter. Er begann zu wimmern und schloss die Augen.
„Ich will mich vergnügen“, raunte der Dämon, „mit Seelen spielen, ihre Wohnstatt zerstören, das ist mein Ziel.“
Walters Stöhnen erstarb. Seine Lider hoben sich. Die schwarzen Augen waren wie Löcher in seinem Gesicht.
Alexia aber lachte - und gesellte sich zu dem Fahrer des Wagens.