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Ein Zeichen der Götter
Er trampelte mit seiner scheckigen Mähre tiefe Spuren in den versumpften Weg, den man fast nicht mehr als solchen ausmachen konnte. Es wunderte ihn nicht mehr, dass auch dieses Dorf gottverlassen in der Gegend hing. Schöne Freunde hatte er da gefunden. Haben ihn vorgeschickt, zu diesen verwöhnten Bastard von Offizier. Mit seinen Hängebacken und schmollenden Lippen, die geradezu danach bettelten, geschlagen zu werden. »Als wäre es eine allzu große Beleidigung für sein Amt, sich mit niederen Wesen wie uns abgeben zu müssen«, dachte er. »Ali, tu was für dein Geld und reite vor! Komm’ zurück, wenn du mir berichten kannst, wo das Gesindel abgeblieben ist!«, hatte er mir entgegen gespuckt. Ich sollte wahrscheinlich noch froh sein, dass er meinen Namen kennt.
»Aber langsam wird mir diese Farce hier zu blöd«, dachte er. Das sieht doch ein Blinder, dass hier nichts mehr zu finden ist. Sind wahrscheinlich schon vor Tagen geflohen. »Aber vor was?«, murmelte er leise in sich hinein. Weder Spuren von Zerstörung noch Leichen konnte Ali ausmachen. Ja, sogar die Alten und Kinder mussten alle entkommen sein. Ich werd’ langsam verrückt. Ali fuhr sich kopfschüttelnd durch das schüttere Haar und beobachtete noch einmal vorsichtig seine Umgebung. »Irgendetwas … irgendetwas«, stammelte er. Und dann musste er heftig schlucken. Abermals konnte er seinen Augen und Ohren nicht trauen. Ali wandte seinen Blick gen Westen. Der Rubin strahlte ihm blutrot entgegen. Das rote Licht musste die gelben Strahlen zur Gänze verschluckt haben, denn seine Augen sahen keinen Fingerbreit mehr, von dem Sonnenlicht, dass er sich eigentlich zu sehen erhofft hatte. Das Urlicht war verschwunden. Der Rubin war ihm schon immer unheimlich erschienen, doch in dieser Nacht … Nacht!? War es denn schon so spät? Ali konnte kaum mehr als die Umrisse dessen erkennen, was zuvor noch einer verfallenen Barackenlandschaft glich. Es war ihm, als hätte der Rubin alle Zeit in sich aufgenommen und würde nun gierig darauf harren, dass etwas passierte.
Während er nervös auf der zerflederten Satteldecke hin und her rutschte und dabei die alte Stute sanft am Hals tätschelte, mehr um sich selbst zu beruhigen als seine treue Gefährtin, plante er fest seinen Rückzug. Und wenn mir der Offizier auch noch meinen letzten Sold streicht, ich hab’ genug von diesen Kundschaftungen im Alleingang. »Da kann mir mein Unglück im Spiel gestohlen bleiben. Ich schulde weder Krik noch Siam noch sonst wem, auch nur das Geringste«, dachte er. Nur Baldschid, dem alten Haudegen, schulde ich noch ein paar Silberlinge. »Aber der würde kaum solche abenteuerlichen Unternehmungen von mir verlangen«, grinste Ali in sich hinein.
Doch das Grinsen gefror schnell auf seinem, mittlerweile zerfurchten, Gesicht. Keine Geräusche, keine Lebewesen, nicht einmal Wind. Verzweifelt klammerte er sich an den Nacken des einzigen Lebewesens weit und breit. »Pah! Da fürchtest du dich vor der Dunkelheit, während dein Bruder an der Westfront kämpft und sein Leben für die Familie riskiert«, dachte er. Ja, mein Bruder. Fünf Jahre jünger und doch wurde er dazu auserkoren diese Teufelsanbeter im Westen in das Loch zurückzujagen, aus dem sie gekrochen kamen. Es juckte ihn in den Fingern, nach seinem Säbel zu greifen und gegen das anzukämpfen, was da vor ihm lag. Aber da lag nichts. Nichts ist da! Das rote Licht musste ihm den Verstand vernebelt haben, denn nun begann er auch noch zu fantasieren, dass die Dunkelheit, die ihn umgab, auf ihn zukroch. Langsam, schwerfällig, unaufhaltsam.
Ali wollte lachen, schreien. Seine Gedanken verwoben sich, flogen durcheinander und machten ihn auf Banalitäten aufmerksam, ganz alltägliche Dinge. Die trunkenen Nächte in den Spelunken, die Spielabende, die Frauen, seine Frau, sein Neffe, Michael, der ihn trotz seines jungen Alters genauso beachtete wie seinen Vater. Vater … Der Alte erwartete wohl noch immer einen Enkel von ihm. Bald schon würde er zurückkehren. Der Alte soll seinen Enkel schon noch bekommen. Und wenn die Hadschar einmal vertrieben sind würden ihm die Tore offen stehen in den Süden zu reisen. Soll schön dort sein.
Ali schlug hart auf dem Boden auf, als Flea durchging. Sein Becken brannte und die Schmerzen zogen ihm bis in die Kniekehle. Das war ihm bisher noch nie passiert. Er konnte sein Herz schlagen hören, als sich die Stute in der Finsternis verlor. Das Wiehern seiner Leidensgenossin brach abrupt ab. Weg. Und da war sie wieder, die nervenaufreibende Stille. Zähneknirschend versuchte er sein Bein zu beugen und sich aufzurichten. Was da auch kam, er wollte dem tapfer entgegentreten. Er wollte es sehen. Doch sein Bein gab nach und nochmal landete er im nassen Dreck. Seine schwieligen Fäuste hämmerten gegen sein schwaches Glied. Er verfluchte sich und nun hatte ihn endlich die Angst gepackt. Wie ein verwundetes Tier, dass auf den Gnadenstoß wartete, lag er auf dem Boden. Sein Herz raste und obwohl er schon als Kind davon überzeugt war, dass der Tod eine Erlösung sein musste, war er sich jetzt, im entscheidenden Moment, nicht mehr sicher.
Ich will leben, verdammt! Tränen übergossen nun sein schmutziges Gesicht. Mit zitternden Händen löste er den Säbel vom Gurt und richtete ihn vor sich.
Die schwitzigen Finger umfassten das Heft so fest, dass seine Hand weiß wurde. Licht. Es war bloß ein Augenblick, doch er war davon überzeugt, dass sich ein Sonnenstrahl am Ende der Klinge sammelte. Der Stahl begann erst schwach, dann stärker zu glühen. Ein mächtiges Gefühl begann sich in ihm breit zu machen. Die Stärke, die von seinem Säbel auszugehen schien, durchflutete ihn. Immer neue Wogen von Kraft schossen durch seine Adern. Ali musste stoßweise ausatmen, um sein wallendes Blut unter Kontrolle zu halten. Abermals versuchte er sich aufzurichten. Er stand fest.
Mit gemessenen Schritten watete er der Dunkelheit entgegen. Er spürte, wie sie von allen Seiten seinen Körper heraufkroch und ihn zu zersetzten drohte.
Sein Hieb wirkte wie eine Stichflamme. Die Finsternis verzog sich schlagartig und das Hochgefühl, dass er dabei fühlte brachte ihn zum Lachen. Diese Freude hatte er vermisst. Lange schon war sie in Vergessenheit geraten, erdrückt von den Lastern der Welt. Abermals drangen Gedankenfetzen an die Oberfläche seines geistigen Auges. Er sah sich und seinen Bruder auf dem Hinterhof kämpfen.
»Na los! Komm nur! Oder willst du dich so vor deinen Freunden blamieren?«, sprach Ali mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Leicht gekränkt erhob sich Faris. Die mandelförmigen Augen seines Bruders fixierten ihn. Obwohl er nun schon das dritte Mal zu Boden gefallen ist, blieb er hartnäckig. Langsam wurde er aufmerksam. Nachdem Ali einige Sekunden darauf gewartet hatte, dass Faris abermals den Anfang machte, tat er selbst den ersten Zug. Mit schnellen Bewegungen hieb er nach seinen, zumindest einen Kopf kleineren, Kontrahenten. Faris fiel wieder in die Verteidigung, doch diesmal gelang es ihm einige Hiebe zu parieren. Ali bemerkte im Augenwinkel, dass die Freunde seines Bruders vor Freude auf und ab sprangen und lief rot an.
Diese Demütigung würde er länger hinter sich herziehen müssen. Er kontrollierte seinen Atem, biss sich auf die Lippe und versuchte sich durch seine Größe und Schlagkraft einen Vorteil zu erkämpfen. Die Schneise fiel ihm schnell ins Auge und mit einem gezielten Hieb gegen den Handrücken stieß er Faris viel zu kurz geratenes Schwert aus der Hand.
Langsam kam sein Grinsen wieder zurück. »Nicht schlecht, Kleiner. Komm’ ich helf’ dir auf«, sagte er und streckte seinem jüngeren Bruder die Hand entgegen. Er bemerkte, dass seine Mutter dem kindlichen Publikum beigetreten war. Selbst mit ihrer bescheidenen Größe war das nicht zu übersehen. Die Einkäufe waren wohl schon erledigt. Der geflochtene Korb war voll mit reifem Gemüse und hier und da lugten sogar ein paar Pflaumen und Pfirsiche hervor.
Stolz und mit durchgestreckten Rücken wollte er seinen Sieg demonstrieren, als das hölzerne Schwert in sein Bein fuhr. Mit Tränen in den Augen rappelte er sich hastig wieder auf. Er wollte schon aufschreien, doch als er das verschmitzte Lächeln seines Bruders erblickte, blieb ihm der Fluch in der Kehle stecken.
Als ob die Demütigung noch nicht groß genug wäre, fühlte sich seine Mutter nun auch noch dazu auserkoren ihn anstatt seines Bruders, der ja der eigentliche Verlierer des Kampfes war, zu trösten und zu liebkosen.
Es war schon spät, als sich das Licht des roten und des gelben Sterns am Westhimmel kreuzten und die Hoffnung auf eine fahle Nacht zerstört wurde. Der Vater setzte sich zu ihm und sprach belustigt darüber, was am Markt vorgefallen war. Mutter musste ihm von allem berichtet haben.
»Ali, ich weiß doch, dass du der Stärkere bist, aber du darfst deinen Gegner nie aus den Augen verlieren. Hörst du?«
»Der Kampf war schon zu Ende! Faris hat die Regeln gebrochen!«, entgegnete Ali.
»Der Kampf … nein, die Welt kennt keine Regeln.«, sagte der Vater ruhig.
»Jetzt höre mir gut zu: Dein Mut ist groß und dein Wille ist hart wie Stahl. Aber Mut und Leichtsinn gehen oft Hand in Hand. Und der Wille allein kann nicht siegen. Dein Bruder hat den Kampf gewonnen, weil du dich auf deiner Überlegenheit ausgeruht hast. Verstehst du?«
Der Säbel lag federleicht in seiner Hand und glomm, einem Leuchtfeuer gleich. »Mit seiner jetzigen Stärke würde er seinem Bruder niemals unterliegen«, dachte Ali. Er fühlte weder Erschöpfung noch Schmerzen. Ich könnte einfach entkommen. Weglaufen. Der Finsternis entfliehen. Doch Gott selbst hat mir seine Macht geliehen. Es ist ein Zeichen. Fuß vor Fuß bahnte er sich einen Weg durch die Dunkelheit. Das Laub unter seinen Füßen gab keinen Ton von sich. Nur sein tiefer Atem und das Glimmen seiner Klinge störten die vollkommene Stille. Seine Zunge benetzte die trockenen, aufgesprungenen Lippen und der salzige Geschmack machte ihn auf seine tränenden Augen aufmerksam. Mit dem flickbedürftigen Ärmel wischte er sich die nassen Spuren seiner Tränen aus dem Gesicht.
Und da sah er es. Zuerst nur undeutlich und dann immer klarer. Die Finsternis sammelte sich, sie manifestierte sich zu ... Der Atem stockte ihm und Schweiß entfuhr seiner Stirn. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er ersticken zu müssen. Der Wahnsinn drohte ihn zu übermannen, als er dieses Ding vor sich sah. Es war kein Lebewesen. Es kann nicht leben. Was es auch immer war, es konnte nicht von dieser Welt stammen. Es konnte von überhaupt nirgendwo stammen. Der Mut war verflogen. Alle seine Sinne sträubten sich gegen das, was da vor ihm stand. Ali schmeckte wieder Salz auf den Lippen. Das Leuchten der Klinge wurde schwächer. Egal wie sehr er es versuchte, er konnte seinen Blick nicht davon abwenden. In diesem Moment wären ihm alle Qualen der Welt lieber gewesen als DAS.
Es fühlte sich nicht real an, als dieses Ding, das nur vorgab zu leben, auf diese viel zu irdische Weise auf ihn zukroch. Die Welt kennt keine Re …
Der glimmende Säbel fiel nieder. Die stählerne Fackel brannte in der Finsternis langsam aus und verschwand.