Einbahnstrasse
Die Fratzengesichter blickten vom gotischen Kirchenportal auf die Touristen vor Notre Dame hasserfüllt herunter.
Ein regenbogenfarbenes Plakat „Super – Trouper – Reiseveranstaltungen“ erschien über den weißhaarigen Köpfen. Die Besucher sammelten sich darunter. Der Reiseführer gab sich erst zufrieden, als die korrekte Zahl der Gruppenteilnehmer festgestellt worden war.
Angenehm überrascht diskutierte nun die Gruppe und schaute am mächtigen Kirchenportal hoch. Historisierende Kommentare. Blitzlichter. Ausrufe von Begeisterung. Die Tauben flatterten aufgeschreckt herab und ließen ihren Kot über die Menschengruppe fallen.
„Notre Dame ist die älteste Stadtkirche Dijons“, begann der Reiseführer mit kaum hörbaren und doch von den Besuchern gewünschtem französischen Akzent seine Führung.
Die Touristen standen gespannt erwartungsvoll um dem jungen Mann, einen Studenten, herum. Es war eine Gruppe von Senioren aus dem gar nicht so weit entfernten Koblenz, die in Dijon die Pfingstwoche verbringen wollte.
„Woher können Sie gut Deutsch?“, wollte Helma wissen.
„Aber, Helma!“, wischte ihr Ehemann Hugo die Frage weg.
„Schon gut“, sagte der junge Mann, „meine Mutter ist Deutsche, und ich habe einen Teil meiner Schulzeit in Deutschland verbracht.
„Erstaunlich“, sagte Helma tief beeindruckt.
„Bitte folgen Sie mir bitte in die Kirche“, rief der Mann der Reisegruppe zu und ging voran. Ein Bettler hielt die Kirchentür und seine Hand auf. Die Touristen gingen ihn ignorierend oder schräg anschauend vorbei.
Das hohe gotische Kirchenschiff strahlte Ruhe und Kühle aus.
„Habt ihr die Postkartenpreise gesehen? Ein Euro pro Karte!“, entrüstete sich Hermann, ein stattlicher Witwer mit schlohweißem wehenden Schopf.
„Wir müssen die ja auch nicht hier kaufen“, wiegelte Helma ab.
„Liegt eine deutsche Version der Kirchenbeschreibung irgendwo aus?“, fragte Hugo den Rest der Gruppe.
„Pscht, du silence, s’il vous plaît », zischte ein Kirchenbesucher gereizt im Vorbeigehen.
„Man darf ja wohl fragen...“, antwortete Hugo beleidigt.
„Wann müssen wir wieder am Bus sein?“, fragte Irmgard von ganz hinten. Ganz vorne am Altar hatte man sie sicher auch gehört.
„Ich bitte um Ruhe“, schritt der junge Reiseführer ein, „wir treffen uns in einer halben Stunde am Bus. Ich bitte diejenigen, die mir zuhören wollen, mich jetzt zu den schönen Chorfenstern zu begleiten.“
„Und was hat er noch gesagt?“, fragte Till ins Handy.
Die Frauenstimme wirkte gelöst: „Dass wir es bald tun sollten.“ Die Frau hatte geweint – vor Glück.
„Noch mal herzlichen Glückwunsch zum Heiratsantrag. – Kommst du denn morgen abend überhaupt noch?“
„Klar, ich muss doch jetzt den Hochzeitswalzer üben“, erscholl eine helles Mädchenlachen im Hörer. Die beiden verabschiedeten sich.
Till legte das Handy ab, stieg aus seinem Wagen aus und ging zum massiven Holz-Portal, das den Innenhof des klassizistischen Baus von der Strasse abschloss. Er stieß es auf, hakte es seitlich fest und setzte sich wieder hinter das Steuer seines kleinen Peugeots. Der Kleinwagen hoppelte langsam und unbeholfen über die Pflastersteine und die Steinschwelle des Patrizierhauses in den Innenhof. Das Gebäude war in einem weißen Sandstein gebaut. Die bewehrte Mauer vor dem Innenhof grenzte das U-förmige Haus vom Straßenlärm und von den Passanten auf dem Bürgersteig vollständig ab. Till wendete rasch mit seinem Wagen auf dem knirschenden Kies, schaltete den Motor aus und entstieg dem Wagen.
Er ging zurück zum halbrunden Torbogen und schloss krachend das Portal.
Hinter dem Vorhang der großen Fensterscheiben des Haupteingangs im Erdgeschoss erschien natürlich wutentbrannt das anmutige Gesicht der jungen Besitzerin.
Ihre weiße Perlenkette wippte an ihrem hautkrem-behandelten Hals auf und ab, als sie aus der Eingangstür trat und entschlossen ihrem Mieter die Leviten lesen wollte: „Monsieur Dupont, es ist Ihnen sicher unmöglich, die leiseste Konzessionen Denkmal-geschützter Bauten gegenüber zu machen, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Holzportal, das Sie gerade mit der Gleichgültigkeit eines Vorstadt-Arabers ins Schloss fallen ließen, aus dem 18. Jahrhundert stammt und nach Angabe eines Sachverständigen unersetzlich und eine Reparatur unbezahlbar ist...“
Sie wollte, Luft holend, sich schon umdrehen, als dann doch eine Replik ihres Mieters kam. Leise sprechend, aber fest seiner Vermieterin ins Auge schauend fragte Till: „Haben Sie die Glühbirne im Durchgang zu meiner Wohnung endlich reparieren lassen? Gestern nacht bin ich fast hingefallen.“
Sie schaute ihn an, als ob er ein Ufo wäre und entschloss sich, dass sie es nicht nötig hatte, sich auf dieses Diskussionsniveau herabzulassen. Sie zischte ab, und Till wandte sich mit einem müden Schulterzucken zum Seitenflügel des Hauses, in dem sich seine kleine Wohnung befand. Er fühlte sich eingeschlossen in diesem Kasten aus dem 18. Jahrhundert, er musste sich eine andere Wohnung suchen, er erstickte hier drinnen.
Schon vom Gang her war die bollernde Tanzmusik zu vernehmen. Till rief immer wieder Aufmunterungen und Verbesserungen in die festen Takte der hämmernden Füße hinein. Thea ging den holzgetäfelten Gang entlang bis zu der Tür, aus der die Musik bummerte. Sie öffnete die Tür, und eine Woge an schweißiger, abgestanden warmer Luft kam ihr entgegen.
„Noch nicht! Noch fünf Minuten!“, rief der Tanzlehrer sofort. Doch als er sich umschaute und seine Vorzeigetanzschülerin mit dem feinen Gesicht und dem samt-bronzenen Teint sah, nahm er seine Bemerkung zurück: „Du kannst bleiben, Thea! Aber es sind noch fünf Minuten!“
Die Algerierin setzte sich auf die Holzbank und sah den mehr oder weniger plump dahinziehenden Paaren kritisch nach. Till war in Hochform und rief mit rotem Kopf: „Und 1, und 2, und 3, und 4, nein nicht immer nachhinken, Hélène, schneller! Kopf hoch, François! Tango ist kein Herumschlendern, sondern Ausdruckstanz, Monique! Und hepp! Und Wie-ge-schritt und Rück-Seit-Schliessen.“
Die Minuten zogen wie die Tänzer langsam und mühsam an Thea vorbei. Andere Kursteilnehmer kamen und setzten sich zu ihr, begrüßten sie und wollten mit ihr sprechen; sie blieb einsilbig.
Till klatschte abschließend dreimal schnell in die Hände: „Das war’s, danke. Bis zur nächsten Woche. Und wer Zeit hat, den Wiegenschritt des letzten Tangoabschnitts zu üben, den wir gerade gelernt haben, macht sich beim Tanzlehrer beliebt.“
Till sah sie an und hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber die neuen Kursteilnehmer hatten ihn schon eingekreist mit Fragen, Lachen und Kommentaren.
„Mensch, waren wir als Anfänger auch so schlecht, Till?“
„Du sicher, Fred!“
„Wann machen wir die Aufbauschritte für den Tango? Wenn man die Anfänger sieht, hat man Lust, da mitzumachen.“
„Wieviel schulde ich dir noch, Till?“
„Für wieviele Kurse zahlst du, Angélie?“
Als er sie genauer ansah, wusste er genau, dass etwas nicht stimmte. Er nahm sie beiseite.
„Ist heut kein Kurs?“, fragte sofort ein Neuankömmling.
„Doch, doch, ich komme gleich“, versicherte Till der Kundschaft.
Sie gingen aus dem Übungsraum heraus in den Gang. Als sie ungestört waren, hielt Till an und steckte sich eine Zigarette in den Mund.
„Er ist ein Arschloch!“, sagte sie, ohne dass er sie gefragt hätte.
„Gestern hast du dich noch über seinen Heiratsantrag gefreut.“
„Er ist ein Tyrann, verschroben. Er redet nur, wenn er Lust hat.“
„So sind alle Männer.“, meinte Till und fand bei genauer Überlegung, dass dies in den Ohren einer Frau kein Grund zur Beruhigung war.
„Was soll ich machen? Er redet nicht mit mir.“, beklagte sie sich.
„Hat er nicht Freunde?“, hakte Till nach.
„Unter uns gesagt, ich kenne ihn seit 3 Jahren; er hat mir nie Leute vorgestellt, die ich öfters als zweimal gesehen habe. Manchmal glaube ich, dass er überhaupt keine Freunde hat.
In der katholischen Wohltätigkeitsorganisation ließ sich Ahmed bei seinem zweiten Vornamen nennen: Pierre. Pierre Dumargne. Das klang hier besser als Ahmed Dumargne. Es war eins dieser informellen Treffen, wo man jeden antrifft, der in diesem Milieu tätig ist.
„Ach, Herr Dumargne! Schön Sie zu sehen!“, begrüßte ihn ausnehmend freundlich Madame de Tessigny. „ Wie sehen die Finanzen unseres Vereins aus?“
„Ich habe unsere Buchhaltung mit meinen Kollegen in der Bank geprüft“, meinte Ahmed lässig, „da ist alles auf dem neusten Stand. Und für unsere Werbeaktion vor Weihnachten steht schon jetzt die Finanzierung. Dank der Vorfinanzierung durch Ihre Weinhandlung, wenn ich mir erlaube, anzufügen.“
„Schön zu hören. Wir sollten vielleicht noch mehr Geld in unsere Kindergärten geben... Was meinen Sie, Dumargne?“
„Das ist sicher wünschenswert“, stimmte Ahmed Pierre zu.
„Darf ich Ihnen in Ihrer Rolle als Schatzmeister anbieten, zu mir zum Kaffeetrinken zu kommen“, lächelte die zweite Ehrenvorsitzende des Vereins ihn an.
„Gerne, Comtesse, mit größtem Vergnügen.“
Frau Tessigny liebte es Comtesse genannt zu werden, auch wenn es nicht wirklich ihr Adelstitel war.
„Aber, Herr Dumargne, wie oft muss ich Ihnen sagen, dass ich keine Comtesse bin? Sie Schlitzohr!“
Der Agent entschlüsselte die E-mail- Nachricht auf seinem Laptop.
„Höchste Alarmstufe. Attentat geplant. Schlafender Löwe wird aktiviert werden. Verstärkung angefordert.“
Dann musste er schnell den Computer schließen. Die Kunden warteten schon wieder.
Till kam aus dem „Tabac“, dem kleinen Schreibwarengeschäft wieder heraus, wo sein Freund, Fabrice Kim, der kleine Koreaner, ihm wieder den neusten Nachbarschaftstratsch erzählte hatte.
Rrrrooommmm, machte es, und ein nagelneuer, roter Porsche Cabriolet rauschte an ihm vorbei. Die Fahrerin winkte ihm locker hinter ihrer Sonnenbrille lächelnd zu.
Till zog die Augenbrauen misstrauisch herab. Er hatte keine Freunde, die das nötige Kleingeld für einen Porsche übrig hatten.
Der Porsche hielt 50 Meter weiter an.
Die Fahrerin winkte ihm wieder zu.
Till steckte sich eine Zigarette an und näherte sich dem geheimnisvollen Statussymbol.
„Er hat ihn mir geschenkt.“, rief ihm Thea schon von weitem zu.
„Wer?“
„Ahmed natürlich.“
„Hat er im Lotto gewonnen?“
„Wohl nicht, aber hat gesagt: Warum so lange warten, wenn ich ihn dir zur Hochzeit schenken will?“
„Das ist ein Standpunkt.“, Till schüttelte mit dem Kopf.
Thea stieg frohgelaunt aus dem Schlitten aus und klingelte bei ihrem Verlobten, der kaum 500 Meter weiter von Tills Wohnung wohnte.
Ein weiterer Höhepunkt der „Super-Trouper-Pauschalreise“ sollte der Besuch des Chateau de Marsannay sein, eines der größten Weinkeller Europas. Der Reisebus hielt an, und die Bustüren klappten pneumatisch auf.
„Aber Achtung, dass mir keiner zu tief ins Glas schaut“, bemerkte schon beim Aussteigen Herr Schmitz mit seinem gemütlichen Altherrenhumor. Seine Frau gluckste einen unterdrückten Lacher an seiner Seite. Witzelnd und mit dem einen oder anderen Stöhnerchen aus Anstrengung stiegen die Senioren aus dem Reisebus. Am Eingang des Weinkellers wurden sie von Madame Tessigny und einer ältlichen Dame empfangen.
„Wieviele sind Sie, bitte?“, fragte Madame de Tessigny auf französisch den Reisebegleiter in das ausgelassene Schwatzen der Senioren hinein.
„25“, antwortete ihr der junge Fremdenführer.
„Danke. Bitte, sagen Sie Ihrer Gruppe, dass es los gehen kann.“, meinte Frau Tessigny trocken.
„Dann nur zu! Bitte steigen Sie in einen der herrlichsten Weinkeller Burgunds hinab“, lud der junge Gruppenführer auf deutsch die Senioren ein. Und die deutsche Touri-Gruppe zog an der burgundischen Adligen und ihrem Begleiter vorbei.
Frau Tessigny versuchte zu zählen, aber die Senioren liefen schnell an ihr vorbei in den Keller, und sie hatte das Gefühl, sich verzählt zu haben, als sie vor dem letzten Besucher stand.
„Aber was machen Sie denn hier, Herr Dumargne?“, fragte Frau de Tessigny erstaunt.
„Schauen Sie, was ich Ihnen mitgebracht habe“, antwortete ihr Ahmed Pierre freundlich und hielt das rosane Dokument hoch.
„Meinen Führerschein?“, fragte Frau Tessigny erstaunt.
„Ich wollte schon nach dem Kaffeetrinken losfahren. Da sah ich ihn vor Ihrem Portal liegen. Er ist Ihnen vor dem Haus sicher aus der Handtasche gefallen. Und ich dachte, wenn Sie in eine Polizeikontrolle kommen, ist das doch...“
„Das ist wirklich sehr nett“, fiel ihm die Dame ins Wort. „Bleiben Sie doch bitte einen Moment und nehmen an meiner Weinprobe teil.“
„Ich habe nicht viel Zeit... in der Bank werde ich erwartet“, entgegnete der Mann hin- und hergerissen. Er hatte seinen schweren Mantel an und war auf dem Weg zur Arbeit.
„Doch, doch“, beharrte die Weinhändlerin, „ich stehe in Ihrer Schuld. Ich bestehe darauf.“
„Nun gut“, ließ sich ihr Vereinsschatzmeister erweichen. Er zog sein Handy aus einer Jackentasche und rief in der Bank an, dass er etwas später kommen würde.
Es war kalt und roch nach Gärresten. Die dunklen Weinfässer lagen stumm und beängstigend hoch gestapelt in dem riesigen Kellergewölbe vor ihnen. Allen Seiten der Gewölbemauer waren durch Halogenlampen erleuchtet. Die Besucher suchten sich ihren Weg durch die in Reih und Glied sauber aufgereiht liegenden Fässer auf dem Gewölbeboden. Im Sinne der Besuchsrichtung waren am anderen Ende des Gewölbes offene Weinflaschen und Weingläser adrett auf Weinfasstischen aufgebaut.
Die Tour war schon fast zu Ende, und Frau Tessigny fragte sich schon, wann diese trinkwütigen Deutschen über 60 endlich wieder abziehen würden, als sie unterbrochen wurde.
Die ältliche Billet-Verkäuferin vom Eingang kam auf sie zu und stellte sich dicht zu ihr: „Kann ich gerade mit Ihnen sprechen, bitte?“
Frau Tessigny verstand.
Die beiden Frauen gingen ein paar Schritte abseits von der Besuchergruppe, wo die Dame vom Eingang anfing, wie ein Wasserfall loszusprudeln: „Es kommt ganz hoher Besuch, der Präfekt, mit einem hohen ausländischen Gast...“
„Wann denn ? Und wer genau?“
„Das hat die Polizei am Telefon nicht gesagt, aber draußen auf dem Parkplatz ist schon alles abgesperrt und mehrer Polizeifahrzeuge sind vorgefahren.“
Frau Tessigny dachte nach. Als erstes mussten die Touris hier raus...
„Leidär müssän wir schon gähn; isch bittä Sie, mir zu folgän. Sie könnän Wein in unseres Geschäft kaufän.“, sagte Madame de Tessigny auf Deutsch, und der junge Reiseleiter trieb seine Herde an.
„Können Sie mir noch mal sagen, wie der letzte Wein hieß, den wir probiert haben?“, fragte Helma und blickte Frau Tessigny an.
„Ein Moment, bitte. Der Wein warr ein eschter Gevrey Chambertin, Jahrgank 19-99.“
„Danke“, meinte Helma und lächelte, „habe ich dir doch gesagt, Hugo!“, wandte sie sich an ihren Mann.
Die Wagenkolonne kam unerwartet schnell an.
Es waren schwarze Limousinen, die zweite hatte eine französische Standarte, die vorletzte eine britische. Dahinter kamen verschiedene andere Pkws, zum Teil mit TV- und Zeitungsaufschriften auf Kühlerhaube und Kotflügel, die die Reportagenteams der Presse ankündigten.
Den schwarzen Wagen entsprangen mehrere Sicherheitsbeamte, bevor die Journalisten überhaupt Zeit hatten, aus ihren Pkws zu steigen und sich den Politikern zu nähern. Die Sicherheitskräfte bildeten einen Gürtel, um den Präfekten und seinen englischen Gast in Ruhe am gläsernen Eingang des Weinkellers aussteigen zu lassen.
„Oh! Ah!“, machten die deutschen Touristen, als sie neben dem französischen Präfekten mit der rot-weiß-blauen Schärpe um den Bauch und seiner imposanten Frau im hellgrauen Kostüm den britischen Premierminister mit Familie erkannten.
„Das ist doch der Blair!“, rief Helma ihrem Mann aufgeregt zu.
„Bitte gehen Sie in den Bus zurück“, war die eindeutige Aufforderung des jungen Reisebegleiters.
Er selbst aber ging zu dem Journalistenauflauf zurück, der sich in gewünschter Entfernung um die freundlich winkenden Politiker gebildet hatte. Es hagelte eine Blitzlichtgewitter, Mikros wurden nach vorne gereicht, laute Fragen nach Blairs Lieblingswein gestellt und auch die Frage, ob er selbst nach der Weinprobe noch fahren würde. Erwartetes, fotogenes Lachen beim Angesprochenen war die Antwort. Wieder Blitzlichter. Die beiden Politiker und ihre Angehörigen zogen sich in das Innere des Weinkellers ein.
Der junge Fremdenführer bahnte sich an Kameras, Mikros, Reportern und Lichthaltern vorbei in Richtung Politiker, doch wurde er von einem Sicherheitsbeamten aufgehalten.
„Nicht weiter.“
„Wer ist bitte der Sicherheitschef des Premierministers?“ Doch der Sicherheitsmann ließ ihn nur in jeder Hinsicht auflaufen und blieb stumm.
„I have to speak to the security chief of Mister Blair“, rief nun der junge Mann aufgeregt in Richtung der entschwindenden Politikergruppe.
Ein Mann mit Sonnenbrille und leicht ausgewaschenen, mittelblauen Anzug kam auf den Ruhestörer zurück.
„What do you want?“, meinte er in lautem verständlichen Ton zu dem jetzt englisch sprechenden Mann.
Der junge Mann zögerte, doch dann fuhr er entschlossen weiter fort: „I am a secret service man from an allied country. I have not my ID card on me. But I tell you not to authorize the Prime Minsiter to go down into the wine cellar. A suicide bomber is hidden there.”
„Do you have proofs?”
„None which I could present you here.”
„So it’s bull shit.”, schlussfolgerte der Sonnenbrillenträger kopfschüttelnd.
„Don’t do it“, ergriff der junge Mann noch einmal das Wort und das Schulterstück des wischi-waschi blauen Anzugs. Doch der Sicherheitschef fand das gar nicht komisch, riss sich los, zeigte seinen Mitarbeitern den Ruhestörer. Der wurde dann auch sofort von zwei kurzhaarigen Bodyguards abgedrängt und neutralisiert.
Ahmed war vollbepackt, der Sprengstoff wog schwer in seinem Mantel, er schwitzte. Der kalte Stein der Kellerwand kühlte ihm etwas den Rücken. Mit Freude dachte er an das Ende dieses Tags. Er hatte keine Angst. Vielmehr ging eine dreijährige Wartezeit zu ende. Drei Jahre Warten, Hoffen, Bangen auf den großen Einsatz. Drei Jahre Schweigen, Stillhalten, ohne Anerkennung, Leben unter den Gottlosen, seinen Feinden.
Heute würde sich sein Schicksal erfüllen.
Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Das ewige Paradies und ein Ehrenplatz unter den Gerechten erwarteten ihn.
Er zitterte vor Aufregung und Vorfreude. Da näherte sich am Ende des Gangs der Tross.
„Monsieur le Premier Ministre“, sprach der Gastgeber den britischen Gast an, bevor sie sich beide zu einem besonderen Weinfass hinabbückten.
Der Attentäter trat hinter den Weinfässern vor, noch von der Besuchergruppe unbemerkt. Er ging langsam, fast gemessen Schrittes wie bei der Abnahme einer Militärparade (war es das nicht?) auf die Gruppe zu. Ein Sicherheitsbeamter hatte ihn entdeckt: „Was machen Sie hier? Der Bereich ist gesperrt!“
Doch Ahmed kam nicht weiter.
Er hatte sie nicht gehört. Er hatte zu sehr in sich hineingehört. Nichts von außen sich in sich hineingelassen. Von hinten sprangen ihn mehrere Männer gleichzeitig an. Sie hatten den Weinkeller entgegen der Besuchsrichtung betreten. Dabei hatte Ahmed doch paranoid in den letzten drei Jahren auf alle Zeichen geachtet und seine Feinde genau beobachtet. Ihre Fehler und Schwächen kennengelernt. Nur jetzt nicht. Ein einziges Mal. In der Stunde, die seine letzte sein sollte.
Die Sicherheitsbeamten übermannten ihn.
Oben außerhalb des Weinkellers war der Premierminister natürlich schon abgefahren. Seine Sicherheitsberater hatten nicht gezögert, bei diesem eindeutigen Verdachtsfall nur einen Doppelgänger in den Weinkeller zu schicken.
Der Präfekt sah Till an und schüttelte ungläubig den Kopf, sein dicker Bauch wiegte die blau-weiß-rote Schärpe hin und her, so als ob er sie abwerfen wollte wie ein Stück Ballast.
„Guter Freund, Sie haben unserer Demokratie, unserer Republik und der westlichen Welt einen großen Dienst erwiesen.“
„Ich danke Ihnen, Herr Präfekt“, meinte Till geniert, „ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass ich nur durch Zufall in meinem Viertel erfahren habe, dass Ahmed Teilzeitkraft in der Bank und nicht als BWLer am Schalter sondern als Hilfskraft in der Telefonzentrale arbeitete.“
„Aber Ihre Rückschlussfolgerungen waren genial!“, wandte der dicke Staatsrepräsentant ein.
„Ein Freund hat mir vielmehr bei einem Glas Bier in einer Kneipe gesagt“, entgegnete Till, „dass er Ahmed bei einer Vereinsbesprechung radikaler junger Islamisten gesehen hat.“
„Dass es so etwas gibt“, entfuhr es dem Präfekten und wippte nervös mit dem Bauch. „Dem muss nachgegangen werden. Ich fordere vollständige Aufklärung.“
Till sagte nichts mehr. Was sollte er auch dem dicken Politiker sagen? Das, was er dachte? Der Präfekt hätte es schon fünf Minuten später vergessen.
Till war nicht entsetzt darüber, dass es Terroristen und gewalttätige Menschen in seiner Stadt gab, er war nur zutiefst beunruhigt, dass es ein reiner Zufall war, der ihn über die wahre Identität seines Nachbarn aufgeklärt hatte.
Was wissen wir schon über unsere Nachbarn?