Eine Begegnung
Eine Begegnung
Beine haben sie ihm gemacht. Ich habe ihn kaum wiedererkannt, denn seit unserer letzten Begegnung sind einige Jahre ins Land gezogen. “Wie geht es dir?” frage ich ihn, “ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.” Er blickt mich lange an, als ob es ihm schwerfällt auf eine komplizierte Frage die richtigen Worte zu finden. ”Gut... danke... und selbst?” Die Antwort befriedigt mich nicht. Wir kennen uns bereits seit Kindertagen, und es ist kaum zu übersehen, daß in der letzten Zeit eine Veränderung in ihm stattgefunden haben muß. Früher hatten wir ihn “der Träumer” genannt. Aber der Mann dem ich nun gegenüberstehe macht durchaus nicht den Eindruck eines Phantasten. Auch mit viel gutem Willen ist es mir nicht möglich den Menschen wiederzuerkennen mit dem ich einst befreundet gewesen war. Ich lächle. Er lächelt. Und was für ein Lächeln! Ein Lächeln voll versteckter Ironie! So antworte ich ihm nicht. Und auch er sagt kein Wort, sondern blickt mich scharf an. Mit seinem Lächeln, dem halbironischen Lächeln, das ihm wie ein Stempel im Gesicht sitzt. Ich ziehe meine Krawatte etwas lockerer. Schon seit geraumer Zeit habe ich mich nicht wohl gefühlt. Und nun weiß ich auch worin der Grund für mein Unbehagen liegt. Der Knoten ist zu fest. Er sagt irgend etwas. Ich kann ihn nicht verstehen. Ich bin zu sehr damit beschäftigt den Sitz meiner Krawatte zu korrigieren. Ich will ordentlich und gepflegt zu meiner Verabredung erscheinen. “Hast du was gesagt?” frage ich ihn. ”Bei dem Verkehr habe ich kein Wort verstehen können”. Ich deute mit einer leichten Handbewegung Richtung Hauptverkehrsstraße. Zur Bestätigung meiner Aussage. Er nickt.
In den Schaufenstern spiegeln sich die Lichter der halogenbetriebenen Werbeschilder. Sie laden das Auge des Betrachters zu einem unruhigen Tanz ein. Einem Tanz aus Farben und Formen. “Ich glaube ich kann fliegen”, schallt es zur musikalischen Unterstützung aus den metallenen Lautsprechern, die am oberen Eingang eines Bekleidungsgeschäftes als Käuferfalle angebracht worden sind. “Ich glaube ich kann fliegen”, wird seit Wochen in den staatlichen und privaten Radiosendern hoch und runter gespielt. Noch vor wenigen Tagen hätte er dieses Lied als Kitsch abgetan. Als eine rührselige, verlogene Darstellung der Wirklichkeit. Aber vor Tagen hatte es sie in seinem Leben noch nicht gegeben. Erst heute in seiner Mittagspause hatten sie sich geliebt. Er war spontan zu ihrer Wohnung gefahren und hatte geklingelt. Er hatte ein zweites Mal geklingelt und gehofft sie nicht anzutreffen. Nach dem dritten Versuch öffnete sich die Tür und er war eingetreten. Es war das erste Mal das er sah wie sie wohnte. Es gefiel ihm. Dabei konnte er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen ob ihm die Wohnung in der sie lebte gefiel, oder ob ihm die Wohnung gefiel da sie darin lebte. Er verbrachte seine gesamte Pause bei ihr. Sogar ein paar Minuten zu viel. Und als sie die Haustür von innen öffnete, damit er sie hinter sich wieder schließen konnte, sagte sie: “Wir sehen uns heute abend vor der Oper.” Sie lächelte als sie dies sagte.
Er bemüht sich nicht im geringsten eine ehrliche Antwort zu geben. Was hätte es für einen Zweck? Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Jahre in denen viel Wasser die Berge herunter geflossen war. Sie hatten damals nicht darüber gesprochen, warum es heute tun? Nein, er haßte ihn nicht. Er hatte schon lange aufgehört etwas zu fühlen. Die ersten Tage hatte er noch auf ihn gewartet. Die unerreichbar ferne Türe nicht aus den Augen verloren. Wütend war er auf ihn gewesen. Später enttäuscht. Zuletzt stellte sich dann diese Gleichgültigkeit ein die er nun schon seit einer Ewigkeit mit sich herumtrug. Aber war nicht Gleichgültigkeit auch ein Gefühlszustand? Demnach ist Gleichgültigkeit das falsche Wort. Etwas was nicht existiert kann man schlecht beim Namen nennen. Er lächelt. Es mußte ein kaltes Lächeln sein. Ein herausgewundenes Lächeln. Kein natürliches Lächeln. Er bewegt die Mundwinkel. Zeigt seine weißen gepflegten Zähne. Seine Augen bleiben stumm. Aus einiger Entfernung schallt ein Lied zu ihm herüber. Er kennt es nicht. Nimmt nur Bruchteile der Musik, vereinzelte Ton- und Wortfetzen einer Frauenstimme war. Er glaubt das Wort “fliegen” zu verstehen. Ist nicht Titan das ideale Material zum Fliegen? Leicht ist es. Leicht und trotzdem robust. Dennoch schmiedet dieses Göttereisen ihn fest an den Felsen der Realität. Unmöglich mit diesem Gewicht zu fliegen.
Ich blicke auf meine Armbanduhr. Dreiundzwanzig vor Acht. Zeit zu gehen. Sicher wartet sie schon auf mich. In diesem Moment steht sie bereits auf dem Opernplatz an der großen Treppe und wartet. Den Blicken vorbeieilender Männer ausgeliefert. Sie haßt es zu warten. Und ich hasse es sie Warten zu lassen. Mir fällt ein Geldstück auf, das auf die Straße gerollt ist. Gehört es mir oder ihm? Ich bücke mich und stecke es ein. Hätte ich doch nur einen anderen Weg genommen. Wäre ich nur eine Straße früher links abgebogen. Ich hätte mir diese Begegnung ersparen können. Ich wäre einfach die Nebenstraße, in der sich das kleine Café, in dem wir beide so gerne sitzen und uns stundenlang unterhalten, befindet, entlang gegangen und so pünktlich an der Oper erschienen. Statt dessen stehe ich nun hier und bin seinem Lächeln ausgeliefert. Diesem ironischen Lächeln. “Schön dich mal wieder zu sehen” sage ich, aus dem Schweigen erwachend.