- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Eine Blume ganz aus Eis
Wunderschön. Weiß und Blau. Die Kälte malte den Abend in den schönsten Farben und die Augen eines Mannes, der am Rande einer Felsspalte stand, folgten jeder Nuance, die sich im Spektrum der eisigen Malerei ergab. Er blickte hinauf in den schneeverhangenen Himmel, der das weiche Mondlicht wie ein Schwamm in sich aufnahm. Dort waren seine Gedanken und Wünsche, die ein Teil des feinen winterlichen Netzes aus Wind und Wasser wurden. Die Gestalt des Mannes offenbarte sich in schillerndem Blau und wurde von zahlreichen Schneeflocken umhüllt, die eine Böe hin zu den kleinen Lichtern, die am Fuße des Berges entzündet wurden, trieb. Fenster um Fenster erhellte sich und aus den Schornsteinen der hölzernen Häuser und Hütten begann der Rauch dichter dem Himmel entgegenzustreben. Der Mann glaubte den Qualm fast fassen zu können, denn trotz der Entfernung, die zwischen seinem Heim und den Bergbewohnern lag, sahen seine Augen in der einbrechenden Dunkelheit alles. Sie beobachteten, wie die Schneeflocken Pirouetten drehten und dann leicht zu Boden gingen. Und dies war der Moment, in dem sich die Sehnsucht in ihm schmerzhaft regte. Jede einzelne Flocke, die bis zu diesem Augenblick ihren Weg vom Himmel herab für sich bestritten hatte, legte sich zu ihresgleichen und bildete eine ebene, kühle und helle Fläche. Sie war nun ein Teil des Ganzen und ihre Einsamkeit nichts weiter als eine Erinnerung.
Knirschend gab der Schnee unter seinen Füßen nach und schmeichelnd legte der Wind sich auf seine nackte Haut Er genoss die Nacht, denn zu dieser Zeit musste er sich nicht mehr vor den warmen Strahlen der Sonne verstecken. Die Kälte belebte ihn, machte ihn stark und flink und so huschte er wie ein scheues Tier zuerst die Felsen hinab und schließlich von Baum zu Baum durch den angrenzenden Wald, bis die Lichter des Dorfes durch die Äste schimmerten.
Die Menschen versuchten die Kälte auszusperren. Und so wie die Wände aus Stein, Lehm und Holz das Wetter fern hielten, stießen sie auch David ab. Er konnte die Wärme im Inneren der Häuser riechen. Der würzige Geruch nach brennendem Holz kratzte in seiner Nase und der Qualm, der im Dorf überall zu sein schien, brannte in seinen Augen.
Als das letzte Licht erlosch und alle Fenster blind in die Nacht hinausschauten, verließ David sein Versteck und bewegte sich im Dunkeln durch die Schatten, die nur er sehen konnte. Jedes Geräusch ließ ihn innehalten und jede Bewegung machte den nächsten Schritt noch vorsichtiger. Doch er ging weiter, denn der Hunger trieb ihn voran.
An den Häusern vorbei suchte er sich seinen Weg zu dem kleinen Vorratsschuppen, der in der Mitte des Dorfes stand. Die aus grob gezimmerten Holzbrettern gebaute Hütte offenbarte mehr als sie verbarg, denn durch die Ritzen und Fugen konnte David den verführerischen Geruch von abgehangenem und geräuchertem Fleisch wahrnehmen. Vor der Tür waren Spuren von Tieren im Schnee zu sehen, die genau wie er nach etwas essbarem suchten. Doch die dicken Bretter und ein großes, metallenes Schloss schützten die Vorräte. David ließ seine Hände über das kantige Holz gleiten bis sich seine Hand um das Schloss legte. Er ballte eine Faust, erhöhte den Druck und spürte, wie der Frost langsam in das Metall kroch. Eine Minute verharrte er so in völliger Stille und ließ die Kälte in das Schloss fließen. Dann zog er und der eiserne Riegel zersprang in unzählige Splitter, die bläulich in den Augen Davids widerschienen.
Auf seinem Weg zurück durch die Schatten drückte sich der Schnee durch die Lücken seiner Zehen und entlockte ihm ein seliges Lächeln. In dieser Nacht war es wunderbar kalt und über seiner linken Schulter trug er einen dicken, saftigen Schinken, der ihm für einige Tage genug zu Essen bieten würde. Tief in seinen Gedanken versunken blickte David zum zweiten Mal an diesem Abend in den verhangenen Himmel und träumte seinen Traum, der Einsamkeit entfliehen zu können, als ihm plötzlich ein kleines Licht auffiel. Er hatte es nur im Augenwinkel bemerkt, aber Davids Körper reagierte darauf wie auf eine unmittelbare Bedrohung. Er ließ sich in den Schnee fallen. Nur aus der Nähe hätte man seine Umrisse erkennen können, doch der braune Schinken ragte wie eine Signalflagge aus dem Weiß seiner Umwelt heraus. Der Atem stockte ihm und er spürte, wie ihm sein kaltes Blut in den Schläfen pochte. David hätte aufstehen müssen, wegrennen und sich in Sicherheit bringen, aber die Angst lähmte ihn. Die Angst davor, was sie mit einer Missgeburt wie ihm tun würden. Starr blickte er auf das Licht, das aus einem der Fenster fiel und den Schnee in ein schwaches Orange tauchte. Keine Bewegung war zu sehen oder zu hören. Nur langsam begann er sich wieder zu beruhigen.
Auf allen Vieren kroch er voran und ließ den Unheil verkündenden Lampenschein hinter sich zurück. Doch schon bald hielt er wieder inne, als immer noch alles um ihn herum in tiefer Stille versunken blieb. Neugierde rückte an die Stelle der schwindenden Angst. Mitten in der Nacht hatte er im Dorf noch nie ein Licht gesehen, das scheinbar ohne Grund leuchtete. Wenn er zuvor von einer Kerze oder einer Lampe überrascht worden war, dann war immer etwas passiert. Menschen kamen schlaftrunken aus ihren Hütten hervor und erleichterten sich, oder jemand schlich sich heimlich in eines der Häuser, um ungesehen den Töchtern anderer beizuwohnen. Aber niemals leuchtete ein Licht ohne Grund.
David vergrub den Schinken an der Ecke eines Hauses und drückte sich an die hölzerne Wand.
Vorsichtig beugte er sich zur Seite und streckte seinen Kopf hervor, um besser sehen zu können. Im Innern des beleuchteten Hauses waren nicht einmal die rissigen Schatten seiner Bewohner zu sehen. Es schien völlige Stille zu herrschen.
Die Neugierde wuchs und die Angst war vergessen, als David einen weiteren Schritt auf das Licht zu machte.
Es begann wieder zu schneien und die weiße Schicht auf den Häusern wuchs unaufhörlich. Doch auch sie vermochte die Stimmen im Haus nicht zu begraben. David stand direkt neben dem lockenden Fenster, traute sich aber nicht, einen Blick hineinzuwerfen.
„Du wirst diesen Jungen aus der Stadt heiraten“, tönte die raue Stimme eines Mannes zu ihm nach draußen.
„Solange ich noch etwas zu sagen habe; und ich hoffe bei Gott, dass dies noch lange der Fall sein wird, denn ohne mich würdest du nie richtig Fuß im Leben fassen; wirst du meine Entscheidung respektieren und sie befolgen!“
David drückte seine Ohren an das Holz, in dem ein Kampf zu toben schien. Von innen drückte die Wärme und von außen die Kälte. Zwei Welten trafen aufeinander und genau dieselbe Auseinandersetzung fand zwischen den Menschen im Haus statt.
„Hör doch auf das was dein Vater sagt, mein Schatz. Es ist sicherlich das Beste für dich.“
Ein Schluchzen unterbrach die Stille, die zwischen den Sätzen folgte, dann begann eine dritte Person mit zitternder Stimme zu sprechen.
„Ich will aber nicht. Es geht um mich. Ich mag diesen Mann nicht. Und ich will auf keinen Fall mein Bett mit ihm teilen.“
„Genau das wirst du aber tun, denn es ist sein Recht an deiner Seite zu liegen, sowie es deine Pflicht ist, ihn mit offenen Armen und Beinen zu empfangen.
Wir werden dafür endlich aus diesen Bergen herauskommen. Deine Familie braucht dich!“
David löste sich von der Wand und nahm allen Mut zusammen. Nur einen einzigen Blick wollte er riskieren. Nur einen einzigen Augenblick wollte er die Gesichter sehen, die zu diesem Schauspiel gehörten.
Er kniete sich hin, der Schnee knirschte und schließlich hob er seinen Kopf ein Stück und spähte dem Licht entgegen. Aus dem Moment wurde eine Ewigkeit.
Ein junges Mädchen saß zusammengesackt auf einem kleinen Stuhl und hielt sich die Hände vors Gesicht. Vor ihr standen ein Mann und eine Frau, ihre Gesichter wirkten hart und unnachgiebig und als ihre augenscheinliche Tochter auch ihr Gesicht freigab, spiegelte sich in ihren Zügen Trauer und Hoffnungslosigkeit. Doch hinter diesen Gefühlen verbarg sich eine Schönheit, wie David sie noch nie gesehen hatte. Die Haut des Mädchens war blass und ihre Augen funkelten in einem grün, wie es oft der Himmel an sehr kalten Tagen tat. Nur mit großem Widerwillen wandte sich David wieder ab. Sein Herz schlug schnell und seine Augen sahen im Geiste immer noch das Mädchen an.
„Wir werden darüber nicht länger diskutieren.“
Schritte hallten, Türen schlugen zu, gefolgt von einer Ruhe, wie sie unnatürlicher nicht sein konnte. David riss sich zusammen. Er musste wieder zurück, denn die Nacht war bereits weit fortgeschritten und bald würden ihn die Sonnenstrahlen und das Erwachen der Dorfbewohner wieder in seine Höhle zwingen.
Doch er wollte nicht gehen, bevor er sich das eine Bild, das er von ihr hatte, nicht noch genauer ausgemalt hatte. Einen zweiten Blick wollte er sich zum Abschied gönnen.
Sie saß immer noch auf demselben Stuhl und neben ihr züngelten die heißen Flammen des Feuers, das im Kamin brannte. Sie weinte tonlos und blickte durch das Fenster hinaus, das für sie blind war, da draußen tiefste Dunkelheit herrschte.
David fühlte ihre Trauer, machte sie zu einem Teil von sich selbst und vergaß für einen Augenblick seine eigene Einsamkeit.
Als das Mädchen wegguckte und in die Flammen starrte, kam David ganz dicht an das Fenster heran und legte seine Hand auf das spiegelnde Glas. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er durch das Fenster hindurchgreifen würde und sie berührte. Wie er ihre zarte, blasse Haut liebkoste, und wie das Gefühl der Einsamkeit zu einem Echo der Vergangenheit werden würde.
Während er den Träumen folgte, begann das Fenster zu beschlagen und dort wo seine Handfläche das Glas berührte, wuchs eine Blume ganz aus Eis. Blaue und weiße Linien malten Blüten. Ein feines Geäst, das sich wieder und wieder verzweigte.
David zog sie zurück und entfernte sich, während das Mädchen die Konturen der Eisblume mit leuchtenden Augen nachzeichnete.
Verletzte Hoffungen und Schönheit nahm David an diesem Abend zusammen mit seinem Schinken zurück auf den Berg. Gefühle und Bilder, die sein kaltes Herz zum Lächeln brachten.
Jede Nacht kam David nun herunter. Es war nicht länger der Hunger, der ihn ins Tal zog, sondern das traurige Gesicht der jungen Frau. Er spähte nachts durch das Fenster und hörte, was die Eltern ihr aufzwangen. Sein Herz wurde schwer, denn der Widerwille, der sich in ihr regte, wurde zu seinem eigenen. Jedes Mal, bevor er ging, hinterließ er eine Blume an ihrem Fenster. Und jedes Mal lächelte sie, wenn sie das merkwürdige und ihr so fremde Kunstwerk bestaunte.
Als die Eltern nicht mehr zu ihr kamen, weinte das Mädchen immer noch und David war tief enttäuscht, dachte er doch, dass nun alles besser werden würde. Niemand war mehr da, der über ihr Leben bestimmte, aber ihre Augen blieben feucht. Jetzt teilten sie den Schmerz. In ihrer Hütte und in seiner Höhle war die Einsamkeit daheim.
Er konnte nicht ausdrücken, wie er sich fühlte. Fieberhaft suchte er in seinem Kopf nach Wörtern, die fassen konnten, was sich in ihm abspielte. Er wollte ihre Macht an Laute binden, damit er klagen konnte, damit er sich die fremden Gefühle von der Seele schreien konnte. David wusste, dass er bei diesem Mädchen sein wollte, doch sie war warm und er war kalt. Zwei Dinge, die sich niemals vereinen würden.
Es hatte aufgehört zu schneien und die Wolkendecke brach an manchen Stellen auf. Man sah das Mondlicht, das durch die Kälte blau schimmerte. Jenes Blau, das David so liebte und er wusste, dass er diese Farbe bei ihr niemals finden würde. Das eine Schöne würde das andere aufheben und doch lag der Reiz ihres Wesens über allem. Ein Reiz, dessen eigentliche Wirkung er sich nur vorstellen konnte. In diesem Blau begannen sich seine Gedanken aufzulösen, sie schwebten durch seinen Kopf und machten Raum und Zeit vergessen, so dass er nicht merkte, wie sich die Tür der Hütte langsam öffnete.
Das Mädchen blieb ruhig, als es das Wesen sah, das vor ihrem Fenster kauerte. Im Zwielicht der Nacht musterte sie den nackten, haarlosen Körper. Durch die erste Schicht seiner marmorreinen Haut konnte sie hindurchsehen. „Wie ein Engel“, flüsterte sie, wobei sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie hatte keinerlei Angst, wusste sie doch instinktiv, dass von dieser Kreatur keine Gefahr ausging. Unter der glänzenden Oberfläche seines Körpers spannten sich die Muskeln und in den gläsernen Venen sah man das kalte Blut blau pulsieren.
Sie machte einen Schritt nach draußen. Der Schnee knirschte.
David schrak auf. Er hatte etwas gehört. Sofort spannte sich sein gesamter Körper und machte sich dazu bereit innerhalb einer einzigen Sekunde zu verschwinden. Als er sah, woher das Geräusch gekommen war, das ihn aus seinen nebligen Träumen gerissen hatte, wollte ihm sein Herz aus der Brust entfliehen. Das Blut rauschte unzähmbar durch seine Adern und der wilde Fluss war im Begriff sein Bett zu sprengen. Jegliches Denken und jegliche instinktiven Handlungen waren eingefroren. Es gab nur sie, wie sie dort im Schnee stand, die Arme schützend um sich gelegt und ihn ansehend.
„Die Blumen waren von dir, oder?“ Ihre Stimme war zart. Warm. Einfühlsam. Ehrlich.
„Ich habe dich schon einmal gesehen. Ich hatte Angst. Aber du hast nichts getan. Standest nur im Dunkeln und sahst traurig aus.“ Mitfühlend. Fragend. Hoffend.
„Wieso bist du traurig?“ Immer noch klang sie wie ein wunderschönes Lied.
„Ich ... ich“, stotterte David und die Überraschung, dass er überhaupt ein Wort über seine Lippen brachte, schwemmte schließlich alles andere fort. Er wusste schon gar nicht mehr, wann er überhaupt das letzte Mal gesprochen hatte und er wusste auch nicht, warum er dies hätte jemals tun sollen. Nur als Kind hatten seine Eltern mit ihm geredet, bis sie sich von ihm getrennt hatten, bis sie ihm dem Winter und den Bergen übergeben hatten; einer Umwelt, die sein Überleben sicherte.
„Danke für die Blumen“, begann sie erneut, „ich war auch traurig, aber ich musste immer lächeln, wenn ich eine von ihnen an meinen Fenstern gefunden hab.“
„Ich weiß“, brachte David ohne Stottern hervor und seine Wangen wurden noch blauer, als sie es ohnehin schon waren. Verschämt blickte er zu Boden und sie lachte leise.
„Es war lieb, danke!“ Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu. Zaghaft, aber zugleich bestimmt. „Magst du vielleicht hineinkommen?“
Davids Kopf brummte. Ihm war schwindlig und nichts hätte er lieber getan, als einfach wegzurennen. Er hatte Angst, dass sie ihn finden würden, dass sich dieses Mädchen als etwas entpuppen konnte, was sie für ihn nicht darstellte und das alles nur ein böser Traum war. Er könnte mit ihr gehen und wenn er dann schließlich so nahe bei ihr wäre, wie er es sich immer gewünscht hatte, dann würde er erwachen und der Traum verblassen. Und das war etwas, was er nicht erfahren wollte. Das Gefühl der Nähe nicht zu kennen, war eine Sache, aber es zu haben und es sofort wieder zu verlieren, eine andere.
„Es ist kalt hier draußen. Magst du also nun mit mir kommen? Ich würde gerne etwas über dich wissen.“
„Ja. Kalt ist es“, sprach er lautlos. Er suchte ihre Augen. Versuchte darin etwas zu entdecken, was alles als jenen erdachten Traum entlarven würde. Doch alles was er fand, war eine Offenheit, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Dies war seine Chance. Vielleicht würde ihm nie wieder die Möglichkeit gegeben, seine Einsamkeit, und sei es auch nur kurz, hinter sich zu lassen.
„Und wenn es ein Traum ist ... dann ist es aber ein Traum, der nur mir gehört.
Ja. Ich mag mit hinein.“ Sie schaute ein wenig verstört ob seiner Worte, lächelte aber schließlich und ging hinein. Dabei ließ sie die Tür einladend hinter sich offen.
Dass es kein Traum war, merkte David, als ihm die heiße, schmerzende Luft des Kamins entgegenschlug. Es war ein Tuch aus tausend Nadeln, das ihn einhüllte. Ein Tuch, das in Flammen stand. Ein Tuch, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Er ging weiter, gezogen von ihrer Schönheit, ließ die Tür aber offen. Der kalte Windhauch, der dort hindurchwehte, wirkte lindernd und er genoss den kühlen Hauch auf seinem Rücken. Es waren kalte Hände, die ihn streichelten und ihn zugleich weiter nach vorne trieben; zu seinem Traum, der so real war, dass er es immer noch nicht begreifen konnte.
„Wer oder was bist du?“
Die Frage stand offen im Raum und für David war sie fast körperlich. So schwer, so bedeutend, aber er zuckte nur kurz mit den Schultern und schüttelte seinen Kopf.
„Ich kann mich nicht erinnern“, log er und hoffte, dass das Mädchen nicht noch einmal nachfragen würde. Seine Geschichte war kein Märchen. Er war kein Fabelwesen, kein Geschöpf einer blühenden Fantasie. David war ein Mensch. Ein Mensch, der wie alle anderen geboren worden ist, und der als Kleinkind dieselbe Welt zu entdecken begann wie alle Kinder. Aber eine Sache hatte es gegeben, in der er sich unterschied. Und das waren seine Eltern. Nur vage waren seine Erinnerungen und wenn er versuchte sich die Gesichter seiner Eltern vorzustellen, waren es nur dunkle, verschleierte Silhouetten, die auf großen Körpern thronten. Für David war kein Platz in ihrer Welt gewesen, kein Platz in ihrem Leben und so kam er schon früh mit der Kälte in Berührung. Nie hatte etwas anderes als Winter geherrscht. Nie hatte er die warmen Arme einer Mutter gespürt, oder die heißen Hände eines Vaters, die ihm lobend und liebend auf den Rücken klopften. David war allein gewesen. Sein Körper begann etwas anderes zu suchen, das ihn am Leben hielt. David veränderte sich und die Kälte in seinem Kinderzimmer wurde zu etwas vertrautem, an das er sich klammerte.
„Aber du kannst mir doch sicherlich sagen, wer du bist?“ fragte das Mädchen, wobei sie es bewusst vermied den außergewöhnlichen Mann in ihrer Hütte anzusehen.
„David.“ Seine dünne Stimme zitterte nach der langen, stummen Zeit in den Bergen.
„Hallo, David.“ Sie lächelte, während sich kleine Tropfen Taus auf Davids Stirn bildeten. Die Hitze begann ihn zu zeichnen.
Das Mädchen ging zu dem Kamin und griff nach einer gusseisernen Stange, die neben der grob gemauerten Feuerstelle an einem Haken hing. Funken stoben protestierend auf, als sie einen großen brennenden Holzscheit aus dem Feuer holte und ihn vorsichtig nach draußen brachte. David hielt respektvollen Abstand zu dem glühenden und züngelnden Restwald, der qualmend im Schnee landete. Das Weiß zog sich zurück, Wasser stieg dampfend hinauf und das Zischen seines Kampfes gegen Feuer und Hitze erfüllte die leise Nacht.
„Besser?“, fragte sie, erhielt aber keine Antwort. Peinlichkeit und Scham waren es, die David wortlos machten. Er hatte seine Verbindung mit dem Winter stets als etwas Intimes gesehen und nun setzte sich dieses Mädchen damit in natürlichster Weise auseinander. Mehr noch, sie ging auf ihn ein, ohne seine Bedürfnisse als etwas Anormales zu sehen. Verlegen wandte er sich ab.
„Mein Name ist Maria.“ Sie ging hinüber und berührte ihn kurz an der Schulter. Beide zuckten zurück. Er vor der vertrauten, unbekannten Berührung und sie vor der Kälte seiner Haut, dennoch tat sie es ein zweites Mal und entschuldigte sich mit einem tiefen Blick aus ihren grünen Augen für das Zögern. Diesmal ließ sie ihre Hand dort und auch David blieb wo er war. Er genoss das Gefühl der Nähe. Wunderschön.
Es wurden keine weiteren Worte mehr gesprochen. David wusste, warum sie ihn hereingelassen hatte. Und er wusste, warum sie seine Nähe suchte. Sie war einsam. Genau wie er und als sie das Fenster öffnete, um die letzte warme Luft aus dem Raum zu vertreiben, öffnete sich auch sein Herz. Er lächelte. Und das Glück wurde noch größer, als Maria sich auf den Boden setzte und ihn mit einer sanften Geste zu sich holte. David ließ sich neben ihr nieder und sie drückte sich mit ihrem ganzen Köper an ihn. Nur kurz regte Maria sich noch mal, als sie ihr Kleid straff zog und es sich eng um den zitternden Körper zog. Aber die Kälte schien sie nicht zu interessieren. Ihr Kopf ruhte auf Davids Schulter. Entspannt und mit geschlossenen Augen. Auch David schloss seine Lider und spürte dem Gefühl in seinem Inneren nach. Noch nie hatte er sich so gefühlt und er sog jeden Moment in sich auf, so als müsse er sein ganzen Leben von diesem einen Augenblick zehren. David war vielleicht das erste Mal in seinem Leben wirklich glücklich. Er war die Schneeflocke, die aus dem weiten Himmel fiel und sich nach einer langen Reise mit den anderen verband. Und wo er vorher nur den Gedanken hatte, das Mädchen möglichst aus der Ferne glücklich zu machen, dachte er jetzt nur an sein eigenes. Er zog Maria noch dichter an sich heran und tauchte tiefer ein in das Gefühl der Geborgenheit. Dann schlief David ein.
Zwei Augen spähten durch das offene Fenster. Augen die immer größer wurden, je mehr sie sahen. David hatte den Mann nicht gehört, wie er mit schweren Schritten durch den Schnee gestapft kam und wie er zischend die Luft ausstieß, als er das Mädchen in den Armen einer Missgeburt sah. Das erste, was er von dem Fremden mitbekam, waren diese großen Augen, die ihn anstarrten. Für einen Augenblick blieb David ruhig, denn das Gefühl der Sicherheit herrschte immer noch vor, aber dann kam das alte Empfinden der Angst zurück und überwältigte ihn mit voller Macht. Er nahm Marias Kopf, der schlafend in seinem Schoß lag und wollte ihn möglichst behutsam zur Seite drücken, doch sie wollte sich nicht von ihm trennen. Was nicht zusammengehörte war nun verbunden. Ihre Haut klebte durch die Kälte an seiner, und als der den Druck verstärkte, hörte es sich an, als würde man ein Stück Papier entzweireißen. Ihre Wange leuchtete wie Feuer, aber sie wachte nicht auf und da bemerkte David, dass ihre Körperwärme verflogen war. Marias Lippen waren blau und das rote Blut in ihren Adern floss nicht mehr. Sie war tot. Erfroren in seinen Armen.
David sprang auf. Seine Gedanken rasten.
„Er hat sie umgebracht!“, tönte es von draußen und dann wiederholte der Beobachter den Satz noch einmal, änderte ihn jedoch.
„Es hat sie umgebracht!“, schrie er noch lauter.
Davids stürmende Gedanken waren fort. Das Erschrecken hatte seinen Kopf geleert und nicht einmal die Trauer fand einen Platz darin. Er lief los, auch wenn er nicht wusste warum. Sein Körper wusste es; er versuchte sich zu retten.
Innerhalb von wenigen Augenblicken lebte das Bergdorf. Türen sprangen auf, fragende Augen suchten die Umgebung ab. Ohren horchten, gierten nach neuen Schreckensmeldungen.
Die Sonne war aufgegangen und als Davids Füße den Schnee berührten stachen ihre Strahlen schmerzend in seine Haut. Nur mit Mühe konnte er gegen die Grelligkeit des Tages anblinzeln. Halbblind stolperte er vorwärts, nach Norden, in die Berge.
Aber er lief nicht allein. Eine Handvoll Männer, die ihn anstarrten, als hätten sie den Teufel selbst gesehen, verfolgten ihn. In ihren Augen schimmerte Entsetzen und Hass, obwohl sie nur wussten, dass jemand tot ist. Sie wussten weder wer, noch wie. Aber sie hatten dieses lebendige Ding vor Augen und der Rest spielte sich in ihren Köpfen ab. Der Schuldige war gefunden, das Ende der traurigen Geschichte war bereits geschrieben.
Das Dorf und Maria blieben hinter David zurück. Auch die Männer wurden immer kleiner, denn noch war der Tag nicht weit genug fortgeschritten, dass seine Temperaturen ihn lähmten und so lief er schneller als jedes Tier durch den angrenzenden Wald und bestieg die Felsen zu seinem Berg hinauf. Es half ihm nicht einfach nur in die Berge zu verschwinden, er musste alles hier hinter sich lassen, denn die Dorfbewohner hatten Blut gerochen. Das wusste David, als er von einem erhöhten Punkt aus in die Tiefe blickte und sah, dass sich alle Männer des Dorfes unter den funkelnden Blicken ihrer Frauen auf seine Fährte begaben. Bewaffnet.
Er hatte Spuren hinterlassen. Deutliche Spuren, denn auf seiner Flucht hatte David keinen Augenblick daran gedacht seinen Weg zu verschleiern. Er wollte einfach nur laufen und als er nun vor seiner Höhle stand und seine Fußabdrücke wie ein roter Faden darauf zu führten, wurde ihm warm. Die Angst ließ einen glühenden Schauer über seinen Rücken laufen und nichts wünschte er sich sehnlicher, als dass an diesem Tag, in diesem Moment der Himmel seine weiße Saat streuen würde. Doch es schneite nicht. Sie würden ihn finden.
Die Wände seiner Höhle waren mit Raureif überzogen und glitzerten im wenigen Tageslicht, das durch die schmale Öffnung hereinfiel. In seinem Versteck war es immer kalt. Selbst wenn die Sonne von ihrem Zenit aus herunterbrannte, war der Winter nicht zu vertreiben. Wehmütig blickte sich David um, wobei sein Blick auch auf die zwei leblosen Körper fiel, die einmal Marias Eltern gewesen waren. Er hatte sich gut gefühlt, helfend und uneigennützig, als er beide eines Nachts aus den Betten geholt hatte, damit Maria ihretwegen nicht mehr weinen musste. Ihre Haare glitzerten und auf ihrer Haut wuchsen kleine Blumen aus Eis.
David wandte sich ab. Er hatte Maria nur helfen wollen. Und nun war sie tot. Durch ihn. Er war die Missgeburt, für die ihn alle hielten. Er war das Ding, das nicht existieren durfte und nun würde er es wohl auch nicht mehr lange tun. Die Männer aus dem Dorf würden ihn töten, wenn sie ihn erwischten. Wahrscheinlich würden sie seinen blauen Kopf abtrennen und ihn wie einen Pokal auf den Weg nach unten vor sich hertragen. Tropfend. Tauender Schnee.
Eine Träne floss aus Davids Auge. Klein und schillernd rollte sie an seiner Wanger herab, gefror und fiel zu Boden, wo sie auf dem rauen Fels mit einem hellen, hallenden Ton zersprang. Er fasste einen Entschluss. Er wollte nicht aufgeben, er würde ein anderes Dorf finden, ein anderes Mädchen, das seine Hilfe brauchte. Und dann würde er all seine Sünden wieder gutmachen. Er würde alles für sie tun, ohne die Nähe zu suchen, die er eigentlich so sehr wollte. Und er würde zehren von dem Gefühl ihr geholfen zu haben und dieses Gefühl sollte und musste alle Löcher in seinem Inneren verschließen.
Schnell und ohne Plan suchte er seine Sachen zusammen und verstaute sie in einem kleinen Sack.
David ging nach draußen. Er konnte nicht warten, bis es Nacht wurde. Dann würde es zu spät sein. Er musste sich unter den Augen der Sonne bewegen. Diese Schmerzen waren für ihn der erste Schritt auf dem Weg zur Läuterung.
War er zu langsam gewesen? Hatte er zu viel Zeit in der Höhle verbracht? Oder hatte David sich einfach verschätzt? Die Wolkendecke riss kurz auf und ließ die Sonne in voller, leuchtender Pracht auf ihn herunterscheinen. Irgendwo schrie ein Vogel und wahrscheinlich beobachteten seine Augen die Szenerie, die sich in diesem Augenblick vor dem Eingang von Davids Höhle abspielte.
Drei Männer standen vor David. Sie hatten keine Zeit damit vertan, sich einen Mantel umzulegen, oder sich auf andere Weise vor der Kälte zu schützen. Sie waren sofort hinter der flüchtenden Missgeburt hergerannt, als wäre es ihre ureigenste Pflicht, dieses Tier zu erlegen. In ihren Händen lagen kalte Gewehre, deren gierige Münder auf David gerichtet waren. Er ließ den kleinen Leinensack fallen, den er zuvor geschnürt hatte und hielt die Luft an. Der Sack fiel lautlos in den weichen Schnee, aber sein Herz hämmerte so laut, dass es wahrscheinlich auch seine Häscher hören konnten.
„Oh Gott, was bist du?“, stieß einer von ihnen hervor und musterte den ihm so fremden Körper.
„Das ist doch vollkommen egal“, mischte sich ein anderer ein, wobei er seinen Kopf so hastig herumwarf, dass ihm die dünne Wollmütze, die er trug, vom Kopf fiel.
Ihr Atem quoll aus ihren offen stehenden Mündern. Ihre Augen verengten und ihre Finger krümmten sich. Ihr Puls begann sich zu beschleunigen. Muskeln wurden angespannt und die Sekunden blieben stehen. Bilder schossen durch Davids Kopf. Diese Männer vor ihm wussten eigentlich gar nichts, aber die Aufregung hatte sie in Raserei versetzt und David wusste, dass er schnell etwas unternehmen musste, sonst würde der erste schießen. Gar nicht mal bewusst, sondern seine Finger würden einfach den Abzug be...
Der Knall schlug zwischen den Bergen hin und her. Immer wieder, als würde er nicht verhallen wollen. Die Kugel, die aus dem Gewehr herausschoss, durchschlug Davids Haut wie eine Eisscholle. Sie wurde nicht einfach durchbohrt, sie splitterte. Muskeln, die sich vorher gespannt hatten, erschlafften und David ging unter dem Lachen der Sonne in die Knie. Aber es tat nicht mehr weh. Die Kälte drang fast augenblicklich aus ihm heraus und stieg zum Himmel empor. Alle Gedanken und Wünsche waren vergessen.
Die Männer sahen sich an. Erst erschrocken über den Schuss, dann lächelnd, dann stolz. David hatte Unrecht. Sie wollten seinen Kopf nicht. Sie ließen ihn einfach dort liegen und machten sich auf den Rückweg. Sie wollten diese Missgeburt nicht anfassen, aus Angst, dass irgendetwas Unheilvolles von ihm ausging. David war allein. Er starb, wie er gelebt hatte. Nur eine einzige Nacht in seinem ganzen Leben war nicht so wie die anderen gewesen und mit dieser Erinnerung verblasste die Welt um ihn herum.
Der Tag nahm seinen Lauf und es wurde wärmer, so als wäre der Winter mit David verschwunden. Um den toten Körper herum bildete sich eine kleine Pfütze, die stetig wuchs. Eine Woche später war alles verschwunden. Nur Tau blieb übrig. Und an der Stelle, an der er gelegen hatte, begann eine kleine Blume zu wachsen. Ihre Blätter glitzerten und ihre Blüten schimmerten in einem hellen blau. Es war eine Blume ganz aus Eis. Wunderschön.