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Eine Gruppe Russen
Ich beginne mit dem Flaschensammeln gegen sieben Uhr morgens. Fünf wäre besser – doch wie soll ich das anstellen, mit meiner Arthrose? Verlasse den Block und folge einem Trampelpfad voller Hundescheiße und zerdrückter Tetrapacks. Schiebe mich an den Papiercontainern vorbei, wo die Russen, später am Tag, stehen werden.
Berge PET und Glas aus den pittoresken Ecken der Anlage und habe gegen zehn genug zusammen für eine Semmel mit Gelbwurst und zwei Dosen Grafenwalder. Mein Frühstück ist weder cholesterinarm noch gesund, doch freu ich mich drauf wie ein Kind auf den Rummel.
Schlurfe zum Rewe, lehne mich gegen die lange Reihe der Einkaufswagen und kippe einen Kurzen. Warte auf die segensreiche Wirkung des Alkohols, fasse Mut und trete ein. Mache meine Besorgungen, wünsche der verzagt dreinschauenden Kassiererin einen schönen Tag, packe mein Frühstück in die dafür mitgebrachte Plastetüte und passiere die elektrische Ausgangstür.
Was für ein herrlicher Morgen! Ich muss blinzeln im grellen Licht der Sonne. Wie gern würde ich jetzt Feierabend machen. Nach Hause laufen, die Treppe hoch und mein Lunchpaket verzehren. Eines der Grafenwalder öffnen und aus dem Fenster sehen. Gegen eins kommen die Kinder aus der Schule; ihnen zuzusehen ist mir die größte Freude.
Nicht, dass ich den kleinen Mädchen hinterherschaue, so einer bin ich nicht. Was das Körperliche betrifft: Ich bin nie ein Vulkan gewesen. Der Anblick meiner blassen Glieder befremdet mich und so vermeide ich jeden Gang in mein Bad.
Nach Hause also - doch es gibt da ein Problem. Es ist mir nicht gestattet, einfach so nach Hause zu gehen - also setze ich meine müden Knochen an den parkenden Autos vorbei in Richtung der Papiercontainer. Zähe Schritte wie ein Waten durch Sumpf. Dreißig Meter noch, ich hebe den Blick und stelle fest: sie sind da.
Sie sind eine Gruppe Russen.
Sagt das nicht alles?
Aus besseren Zeiten, als ich mir den Besuch einer Galerie noch leisten konnte, löst dieser Satz etwas aus in mir. Er erinnert mich an ein riesiges Ölgemälde, ich schließe die Augen und sehe sie vor mir: die „Saporoger Kosaken“ von Ilja Repin.
Es sind kräftige Kerle, Krieger, die sich den kampffreien Tag mit einem wilden Gelage verkürzen. Die nackte Haut dieser Männer ist voller Narben. Es sind die Schnitte bezwungener Gegner, die Bisse ungewaschener Huren, die verzweifelten Kratzer geschändeter Bauerstöchter. Zeugnisse gelebten Lebens. Die Zecher kreischen wild durcheinander, diktieren dem einzigen Schreibkundigen unter ihnen einen Brief an den türkischen Sultan. Es ist eine Gruppe Russen und ich kann sie förmlich riechen.
Meine Russen sehen ganz anders aus. Im Grunde sind es noch Kinder, Flaumbärte auf dem Weg zum Mann, hohlwangig die einen, schweinsfett die anderen. Sie tragen billige Trainingsanzüge mit gefälschten Adidas-Emblemen, rasieren sich Bärtchen und Koteletten und glauben damit toll auszusehen. Riechen nach gestohlenem Hugo Boss und darunter nach Schweiß.
Nicht, dass ich etwas gegen Russen hätte. Ich bin kein Nazi, dazu fehlt mir der Elan.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mal, ob es wirklich Russen sind - es könnten Ukrainer sein oder Kasachen; davon habe ich keine Ahnung und offen gestanden ist es mir egal. Ich bin ein Kind der DDR, für mich war das alles Sowjetunion, Russland.
Als Schüler hatte ich eine russische Brieffreundin, ist das zu glauben?
Ich hatte Oma Krüger die Kohlen hochgetragen oder Altpapier gesammelt, so genau weiß ich das nicht mehr. Eine Tat für den Frieden, ein Baustein für den Aufbau des Sozialismus nannte es der Schuldirektor und vermittelte mir zur Belohnung eine Brieffreundschaft. Mit einem Mädchen, wurde mir beim ersten Blick auf den Umschlag klar: die kyrillischen Zeichen liebkosten das Papier wie sanfte Wellen das Meer. Mich packte Neugier, ich pfiff auf die letzten beiden Stunden und rannte nach Hause. Riss Anna Perowas Brief auf und drückte mir das nach Nelken duftende Kuvert an die Nase.
Ein Foto fiel heraus. Ich hob es auf und hielt den Atem an. Anna Perowa trug lange, vermutlich braune Haare. Durch den enganliegenden Rollkragenpullover zeichneten sich ihre Brüste wie vorwitzige Igel ab. Sie waren klein und fest; schoben sich, irgendwie überraschend, wie die wilden Schneeglöckchen einer Bergwiese, aus ihrem Körper. Ich überlegte, wie sie sich anfühlen mochten. In meiner Vorstellung trug Anna Perowa einen kurzen Faltenrock, öffnete ihre schlanken Beine zweifingerbreit und lächelte. Lächelte und hatte keinen Schimmer, was sie damit anrichtete.
Ich habe ihr Foto mit aufs Klo genommen, zurückgeschrieben habe ich nie.
Unser Gebäudekomplex heißt „Bersarin“. Nüchtern betrachtet – doch wer tut das schon? – ist es ein unmöglicher Ort. Ein Ghetto aus lieblos errichteten Sechs- Neun- und Elfgeschossern; Betonklötzern, die wie von fantasielosen Kindern aufgestapelte Legosteine zwischen billigen Autos und farblosen Menschen in den Himmel ragen.
Meine Russen sind hier aufgewachsen. Ausgesetzt und vergessen von Eltern, denen der Mut oder der Grips fehlte, die Situation zu verändern. Die es versäumten, ihrer Brut Benehmen und Anstand beizubringen, ihnen ein Ziel aufzuzeigen jenseits der Blöcke. Meine Russen kennen kein Gemälde von Repin, keinen einzigen Roman und keine Oper.
Sie sitzen oder stehen vorm Rewe, urinieren hinter die Papiercontainer, ignorieren Händewaschen und Etikette. Reißen die in Folie verschweißten Gebirgsjäger mit den Zähnen auf und schlingen sie gedankenlos zu kaltem Toast herunter. Saufen in Dosen gefülltes Grafenwalder und Wodka Rachmaninoff, rauchen Goldfield oder Imperial.
Wieso die eigentlich nicht arbeiten, habe ich mich anfangs gefragt. Sind ja keine Kinder mehr, siebzehn oder achtzehn werden sie schon sein. Aber mit dieser Frage begebe ich mich auf dünnes Eis. Hätte selbst den Hintern heben müssen, als ich es noch konnte. Die Lady vom Arbeitsamt hat sich bemüht, mir ständig Zettel mit Jobangeboten ausgedruckt. Ein paar Mal hatte ich die Betriebe aufgesucht, um mich vorzustellen - und kam aus dem Staunen nicht heraus! Da bugsierten Menschen, ihrer aufrechten Haltung beraubt, Aktenordner durch die Flure, spielten die Beflissenen und deklamierten ständig „Mahlzeit!“ In der Produktion wirbelten sie wie Ameisen; stemmten, der Verzweiflung nah, zu viele, zu schwere Lasten in ihren zu kleinen Händen – für zu wenig Geld, wie ich annahm. Dagegen die Manager: Typen, die sich selbst so wichtig waren, dass sie Englisch mit mir sprachen. Zuletzt war da ein Vorgesetzter, der seine magersüchtige Sekretärin vor meinen Augen zum Heulen brachte.
Ich ergriff die Flucht. Hatte ja noch etwas Geld, hatte eine Playstation und spielte darauf bis spät in die Nacht. Lieber Worldchampion als fünf Uhr morgens aufstehen. Irgendwann hat es die Lady bleiben lassen mit ihren Zetteln und ich bin rausgerutscht aus der Vermittlung.
Zu arbeiten verlernt man schnell.
Ebenso das Unter-die-Menschen-Gehen, das Hallo-was-macht-Ihr-heute-Abend oder das Kommt-rüber-auf-ein-Glas-Wein. Ich zog meine Jalousien zu und sah fern, bis mir Kabel Deutschland den Anschluss kappte. Schaute von da an dem Hamster beim Fressen zu.
Manchmal setze ich mich unter das Neonlicht meines Küchentischs, lege meine Hände auf die Resopalplatte und denke an etwas Schönes.
Zum Beispiel an Russland.
Denn Russland ist ein schönes Land - ich jedenfalls stelle es mir fantastisch vor. Betrete in Gedanken eine dieser winzigen, mit Blattgold verzierten Kirchen. Versinke in einem Nebel aus Weihrauch; erkenne eine Hochzeitsgesellschaft; die in ein festliches Kleid gehüllte, wunderschöne Braut und den Popen mit seinem ellenlangen Bart.
Besteige die Transsibirische Eisenbahn und überquere die Grenze zwischen Europa und Asien, passiere den Baikalsee und die Flüsse Wolga und Irtysch, Jenissei und Amur. Reise durch die Taiga, rolle ganz sanft durch eine sagenhafte, gefrorene Landschaft in Richtung japanisches Meer.
„Dort soll es schön sein?“, mag man insistieren. „Warum kommen sie dann alle zu uns, die Russen?“
Diesen Einwand muss ich wohl gelten lassen. Andererseits, wer versteht schon die Menschen? Wer die traurigen Russen? Denn genau das sind sie, traurige Seelen in einem traurigen Land. Als hätten sie etwas Persönliches verloren, als sei die geliebte Oma gestorben. Der Russe mag das, fürchte ich – deshalb wählte er auch Putin. Weil er dann weiß, die nächsten Jahre wird’s ihm Scheiße gehen.
Wenn es nach mir ginge: ich bliebe in meiner Küche sitzen bis zum Ende aller Zeit. Doch Broterwerb und tägliche Besorgungen treiben mich vor die Tür.
Ich zähle sechs. Zwischen sechs und acht Russen sind es an jedem Tag.
Im Grunde tun sie einem ja nichts. Sind dumme Jungs, die mir irgendwelchen Quatsch zurufen und meinen komischen Gang imitieren. Mich ein bisschen zupfen, aber das ist kein Problem.
Wenn ich den Mut hätte stehenzubleiben und mit ihnen zu sprechen, vielleicht würden sie mir dann zuhören. Darüber staunen, wie sehr ich es liebe, ihr Land - denn das ist es ja wohl noch immer. Deutschland ist es jedenfalls nicht, sonst würden sie nicht ausschließlich russisch sprechen und auch mal in einen Bus oder Zug steigen und rausfahren aus dem „Bersarin“.
Jedenfalls krümmen sie mir kein Haar, die Russen, lassen mich in Frieden.
Alle, bis auf einen.
Wassili ist einen Kopf kleiner als der Rest - und das ist schlecht. Einen Kopf kleiner zu sein löst bei manchen Menschen komische Eigenarten aus. Wassili hat eine Menge komischer Eigenarten.
Zum Beispiel hat er mir eine zollige Eisenstange von hinten und mit voller Wucht ins Knie geschmettert - der Grund, warum ich nicht mehr richtig laufen kann.
Sie haben mich liegengelassen, sind weggelaufen, als es passierte. Irgendjemand hat die Ambulanz gerufen. Ob ich Wassili angezeigt habe? Warum sollte ich das tun? Wer glaubt schon einem alten Assi. Und, wie viel schlimmer wäre es mir in der Folge ergangen?
Natürlich habe ich versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Eine andere Strecke zu wählen für meine tägliche Promenade erschien mir die verblüffend einfache Lösung. Er stand plötzlich vor mir, als ich es versuchte, riss mir die Krücken aus den Händen und warf sie ins Gebüsch. Beschrieb detailgenau, was er mit mir machen würde, beim nächsten Versuch, ihm auszuweichen. Seitdem gibt es keine Alternative: Mein Weg führt den Trampelpfad entlang zu den Containern.
Er ist unter ihnen. Das ist er immer, gemeinsam mit Big Mac fehlt Wassili nie.
Zwanzig Meter, am liebsten würde ich umdrehen. Zurück zum Rewe und vorm Ausgang ein Grafenwalder zischen, mich auf den Papierkorb stützen und die wunderbar warmen Strahlen der Sonne genießen.
Wassili erlaubt es nicht. Ich solle nicht wie ein Penner vor dem Laden stehen, meint er.
Ich sehe ihn aufgeregt an seiner Zigarette ziehen, vertieft in ein Gespräch mit einem seiner Kumpane.
Was hilft es, zu jammern? Ich setzte mich in Bewegung; hoffe, dass er mich heute ziehen lässt, mich vielleicht gar nicht mitbekommt.
Alles wie immer. Mein Herz beginnt wie auf Knopfdruck schneller zu schlagen. Schweiß bricht aus, durchnässt meinen Rücken in einem einzigen, fiebrigen Schub. Mein Hemd heftet sich wie geleimte Tapete an meinen Körper und ich weiß, es wird auf Stunden nass und kalt auf meiner Haut kleben.
Zehn Meter noch, keine Sekunde wende ich meinen Blick von Wassili.
Er steht mit dem Rücken zu mir und streitet mit Big Mac. Macht einen Buckel, scharrt mit dem Fuß im Dreck, fährt seine Hörner aus wie ein junger Stier. Giftet den Dicken in abgehacktem Russisch an und der grunzt zurück. Wassili droht, schiebt sich mit jedem seiner Worte ein kleines Stück nach vorn, rückt Big Mac Zentimeter für Zentimeter auf die Pelle.
Es ist keine dieser pubertären Rangeleien um die Hackordnung, es ist ein handfester Streit.
Ich betrachte die Gruppe und spüre eine Veränderung. Es ist, als hätte jemand die Figuren eines Schachspieles verstellt. Big Mac strahlt eine mir unbekannte Energie aus, die Anderen tänzeln, ohne für Wassili Partei zu ergreifen, herum.
In diesem Moment kommt mir ein ungeheuerlicher Gedanke. Dass sie ihn vielleicht gar nicht mögen. Wäre das möglich? Dass sie ihn am Ende gar hassen, nicht weniger als ich?
Wie schwarz und weiß wir doch die Welt sehen. Unsere Vorurteile in Stein meißeln, ohne nachzudenken.
Der Dicke bemerkt mich und zupft Wassili am Trikot.
Acht Meter. Wassili schnappt „Schto?“ und dreht sich nach mir um.
Urplötzlich sind alle still – und ich beginne zu zittern.
Schlottere wie einer dieser Parkinson-Typen, blicke in Wassilis Augen und sehe ihn lächeln, reiße den Kopf nach unten und verfolge die schlurfenden Schritte meiner durchgelaufenen Crocs.
Denn er hat mir untersagt, ihn anzusehen. Hat es auf seine Art getan: Der Schlag kam aus heiterem Himmel, eben noch Lächeln - dann traf mich der Hieb. Etwas zerplatzte, ein Blitz zuckte rechts von meinem Auge und dann knackte es überlaut. Er hat mir den Kieferknochen gebrochen, dachte ich und bittere Galle stieg in mir hoch. Schlag zwei, ein seitlicher Haken, riss mich von den Beinen, ich fiel hin und kotzte ihm auf die Schuhe. Nein, ich werde Wassili nicht wieder ins Gesicht sehen, nicht ohne seine Erlaubnis.
Vier Meter. Saurer Schweiß läuft wie aus Rohren, trieft meinen Rücken entlang und die Brust hinunter. Mein Herz pocht vernehmlich in meinem Ohr - es ist lauter als der nahe Lärm der Straße, lauter als die ausparkenden Kleinwagen.
Für eine Sekunde verfolge ich ihren Weg. Fast immer sind es Frauen; übervorsichtig zirkeln sie ihre Autos aus den engen Parklücken und fahren vom Platz. Überqueren ampelgeführte Kreuzungen und folgen dem Weg zu ihren Häusern. Parken unter Carports oder in Garagen, rufen ihre Männer aus dem Haus und lassen sie die schweren Körbe tragen. Bereiten wunderbare Mahlzeiten zu mit den Zutaten vom Rewe und rufen zu Tisch. Rotwangige Menschen öffnen Weinflaschen, ganze Familien sitzen an kreisrunden Tischen und prosten sich zu, feiern Geburtstag oder Weihnachten in geschmackvoll beleuchteten, warmen Zimmern. Es sind Menschen, die sich Sorgen machen um eine schlechte Zensur ihres Kindes oder den schlechten Tabellenplatz ihres Fußballvereins.
Ich habe ganz andere Sorgen.
Zwei Meter, ich grüße mit bebender Stimme. Wassili tritt vor mich hin und bellt: „Stehenbleiben!“ Ich tu ihm den Gefallen. Warte mit gesenktem Blick, bis er mich anzischt: ich solle ihn gefälligst ansehen.
Wassilis Augen sind schwarz. Sie liegen tief und eng beieinander in ihren Höhlen. Es sind erstaunlich kleine, winzige Rattenaugen, hinter denen es sichtbar rumort - Wassili denkt nach, aber worüber?
„Scheiße wird immer stinken“, beginnt er endlich. „Scheiße wird stinken und Männer werden Frauen ficken.“
Aha, Wassili hat also seinen philosophischen, an diesem wunderbar sonnigen Tag. „So sicher, wie Scheiße stinkt“, fährt er fort, „wirst du mir einen Gefallen tun. Hast du das kapiert, altes Assi?“
Ich nicke, so heftig, dass sich von meiner Stirn ein Schweißtropfen löst und ich reflexartig mit dem Handrücken über die Stelle wische.
„Ich habe Durst“, stellt er fest. Fingert eine Imperial aus seiner Hemdtasche und steckt sie sich an. Schmeiß deinen Jungs eine Runde! – möchte ich rufen, halte aber die Klappe.
„Du wirst mir Wodka besorgen“, fordert er. „Mir scheißegal, ob du ihn kaufst oder klaust; dreh deinen Assiarsch und besorge Schnaps!“
Warum sollte ich ihm widersprechen? Ich drehe mich um und will gehen, als er mich noch einmal zurückruft.
„Ich gebe dir fünf Minuten“, sagte er und bringt wie aus dem Nichts die Eisenstange hervor. „Fünf Minuten, und wenn du auch nur eine Minute länger brauchst …“
Wassilis Augen sind ein offenes Buch. Sie verleugnen nichts.
Ich vergesse zu atmen, will nur noch wegrennen so schnell und soweit ich kann.
„Ich werde dir die Kniescheiben zertrümmern“, brüllt er mir hinterher. „Alle beide!“
Vor Jahren, als es mir noch besser ging, lud ich einen jungen Russen zum Grillabend ein. Ich wollte prahlen, servierte ihm bayrisches Bier, dazu Roster und Steaks. Zwischen den aufgetischten Leckerbissen huschte sein Blick nervös über den Tisch. Auf der Suche nach Schnaps, glaubte ich. Hauptsache Fusel, so sind sie eben, die Russen. In nächsten Moment atmete mein Gast erleichtert auf – er hatte das Salz gefunden.
Sein Name war Heinrich und das fand ich amüsant. „Das ist doch kein Name für einen Russen“, scherzte ich – er aber wurde fuchsteufelswild und fauchte mich an: Dass er kein Russe sei - sondern ein Deutscher, und stolz darauf!
Dabei war „Deutscher“ ein Schimpfwort; da, wo Heinrich herkam. „Deutscher“ hatten sie ihn in Wolgograd gerufen und „Russe“ riefen sie ihn hier. Heinrich stand zwischen den Stühlen, ein Fremder auf beiden Seiten der Welt.
Ich haste zum Rewe, begleitet von einem seltsamen Gefühl. Nicht Wassilis Drohung hat es ausgelöst – da ist etwas anderes, eine winzig kleine Abweichung im Lauf der Dinge. Ich denke darüber nach, glaube zu begreifen und die Erkenntnis ist so stark, dass ich trotz der gebotenen Eile stehenbleibe und mich noch einmal umdrehe nach den Russen.
Es ist Big Mac. Er hat mir zugenickt vorhin - und jetzt tut er es wieder.
Ich nenne ihn seit jeher Big Mac. Es ist nicht meine Art zu spotten, ganz allgemein mangelt es mir an Humor. Ihm diesen Namen zu verpassen, war kein toller Einfall, Grund war vielmehr die frappierende Ähnlichkeit: Big Mac sieht aus wie ein Big Mac. Über dem ansatzlosen, geraden Hals hängt seine Unterlippe wie Käse herunter, Farbe und Wulst der Zungenspitze gleichen dem Formfleisch, seine Nase dem gammligen Salatblatt. Auf seiner Stirn prangen hundert Pickelchen wie der Sesam des Originals.
Eine seltsame Begebenheit verbindet mich mit ihm. Wassili fehlte für einige Tage im Pulk seiner Lieben, saß in Untersuchungshaft wegen dieser Geschichte mit Jill. Jill ist das Mädchen, das nicht mehr spricht – deshalb kann sie auch nicht aussagen gegen Wassili – aber vielleicht will sie das ja auch gar nicht.
Es war im Frühjahr dieses Jahres. Keiner der Russen machte Anstalten mich zu belästigen; ich nutzte die Gelegenheit, setzte mich auf die Bank vor unserem Block, streckte meine Füße in die Sonne und schloss die Augen. Als er neben mir zu sprechen begann, zuckte ich heftig zusammen.
Was will Big Mac mir, dachte ich und erwartete das Schlimmste. Glaubte, er hätte nach Wochen herausgefunden, dass ich eine Flasche nach Wassili geworfen und stattdessen ihn, Big Mac, getroffen hatte. Keiner der Russen kam auf den Gedanke, ich könnte es gewesen sein. Doch vielleicht jetzt.
„Wassili ist nicht mein Freund“, sprudelten Big Macs wulstige Lippen – und ich atmete auf. Der Dicke war nicht wegen dieser Sache hier. Dennoch war ich alles andere als gelöst, sah mich nach allen Seiten um, glaubte an einen fiesen Trick der Russen, die sich hinter den Büschen scheckig lachen und jeden Moment auftauchen würden, um mir die Fresse zu polieren. Erst als eine streunende Katze auftauchte und Big Mac begann, sie gedankenverloren zu streicheln, wurde ich ruhiger.
„Verstehst du das?“, fragte er mich. „Du sollst nicht glauben, dass der Vergewaltiger mein Freund ist.“
Das Wort klang beinah schon lustig aus seinem Mund. Er sprach es „Ver-ge-Wal-Tiger“ aus, als wäre in diesem Wort tatsächlich ein Wal und ein Tiger oder aber ein verrückter Genmix - der Waltiger - versteckt.
„Vergewaltiger?“, wiederholte ich unsicher.
Doch irgendwie schien mich Big Mac gar nicht zu registrieren. Zu sprechen machte ihm Mühe. Es war ihm unangenehm und er hatte keine Übung darin - doch hörte ich ihm gebannt zu.
„Ich kenne Wassili seit seiner Geburt“, erzählte er. „Sobald er laufen konnte, stromerte er um unseren Block. Beschaffte sich später ein Messer und zog die Klinge über den Lack der parkenden Autos. Hob einen Stein und zerschlug ihre Scheinwerfer. Wassili bestahl die Nachbarn und legte Feuer in ihre Keller. Als er in die Schule kam, machten die übereifrigen Eltern eines deutschen Kindes den großen Fehler, ihn einzuladen. Sie ließen die beiden Kinder allein im Zimmer des Jungen und das war keine gute Idee. Der zum Gastgeber genötigte Mitschüler brachte vor Angst kein Wort heraus. Irgendwann stürzte er aus dem Zimmer, um zu pissen. Weißt du, was Wassili gemacht hat?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Schon beim Reinkommen war ihm ein kleiner Käfig aufgefallen. Wassili trat jetzt zu diesem Käfig, öffnete das Türchen und holte den verdammten Hamster des Jungen heraus. Zückte sein Springmesser und wartete in aller Ruhe auf die Rückkehr des Kindes. Als der Junge erschien, stieß Wassili sein Messer in das Tier. Hielt es mit ausgestrecktem Arm vor dem Jungen hin und blickte ihm dabei fest in die Augen.“
Ich glaubte Big Mac jedes Wort, sah die Szene praktisch vor mir.
„Aber das ist noch nicht alles“, fuhr der Dicke fort. „Wassili zog die Klinge durch die Gurgel des Hamsters. Und zwang den Jungen, zuzuschauen. Zu erleben, wie das Viech vor seinen Augen verblutete. Wassilis Vater verprügelte ihn deswegen – aber das tat er ständig. Bis Wassili immer stärker wurde und sich die Sache umkehrte.“
Ich nickte. Hoffte, er würde weitersprechen, denn so sehr mich Big Macs Bericht schockierte, erfüllte mich jener Moment mit einem sonderbaren, aber sehr angenehmen Gefühl: Fremde hätten uns, gemeinsam auf dieser Bank, für Freunde gehalten.
„Und die … Vergewaltigung?“, fragte ich tonlos.
„Das Mädchen im Westpark, vorigen Winter.“
„Jill.“
„Ja, Tschijl. Du erinnerst dich?“
Natürlich tat ich das.
Es war keine wirkliche Vergewaltigung gewesen, nicht im medizinischen Sinne. Doch mussten sie das Mädchen in die Psychiatrie bringen - und da war sie, soweit ich das wusste, noch heute.
„Wassili hat sie nicht zufällig getroffen“, blubberte Big Mac. „Tschijl hatte an diesem Abend zwei oder drei Mal mit ihm getanzt. Er wollte sie mit Wodka abfüllen, doch dazu hatte sie keine Lust. Er stellte Besitzansprüche, doch sie lachte ihn aus und tanzte mit einem Anderen. Wassili hat sie auf ihrem Nachhauseweg verfolgt und …“
„Ich weiß.“
Man fand sie am nächsten Morgen, stark unterkühlt, mit Kabelbindern an eine Parkbank gefesselt. Wassili hatte sie zusammengeschlagen, entkleidet und ihr mit einem Edding „Hure“ auf den Bauch geschrieben. Als Abschiedsgruß seine Zigarette auf ihrer Brust ausgedrückt.
Big Mac stand ohne ein weiteres Wort auf und ging.
Keine Ahnung, warum er mir all diese Dinge erzählt hat.
Fünf Minuten habe ich also. Ich betrete den Rewe und luge zur Kasse: zwei tattrige Rentner drapieren welkes Gemüse auf dem Band.
Besser, ich beeile mich. Schlurfe in Richtung Schnapsregal, werfe einen möglichst unverfänglichen Blick auf die kreisrunde Kamera an der Decke des Gangs. Schlage einen Haken und lande vorm Non-Food Regal. Mein Blick fällt auf eine Kollektion Steakmesser aus Chromstahl. Sie werden als superscharf angepriesen und sind im Angebot: sieben-neunzig das kürzeste, neunzehn-neunzig das längste. Es zieht mich trotz Zeitnot in seinen Bann. Ich kann nicht anders und greife danach, fahre mit meinem Finger vorsichtig die geschliffene Kante entlang. Und verfalle in einen kurzen, aber intensiven Traum.
Verbringe die Stunden mit nichts anderem als dem stundenlangen HerausschaueIn diesem Traum bringe ich Wassili keinen Wodka, sondern dieses Messer. Ramme es ihm bis zum Heft in den Bauch. Wir sehen uns in die Augen dabei und natürlich versucht er sich zu wehren, krallt seine Hände in das Futter meiner Jacke, versucht aufrecht stehenzubleiben - doch dann geben seine Beine nach und er fällt vor mir auf die Knie.
Meine Hand; die rechte, die das Messer hält; schwimmt in Blut. Als betrachte ich ein wertvolles Gemälde, genieße ich den Anblick seiner brechenden Augen.
Unwichtig die Dinge, die danach folgen: Big Mac zückt sein Handy und ruft einen Krankenwagen. Die Polizei rückt an, ich leiste keinen Widerstand. Sie nehmen mich mit und verhören mich, schicken mich unter die Dusche, kleiden mich in saubere Gefängniswäsche ein. Nach meiner Verhandlung werde ich unter Meinesgleichen verlegt, verbringe fünf, sieben oder neun Jahre in einer beheizten Zelle, habe Gesellschaft und esse jeden Tag warm. Ich arbeite und spare für mein letztes Ziel.
Am Tag meiner Entlassung besteige ich den Zug. Verfrachte den unnützen Koffer meiner Habseligkeiten in die Ablage und falle in den bequemen Sitz des Abteils. Verbringe die Zeit mit nichts anderem als dem stundenlangen Herausschauen aus dem Fenster, wo all die fremden Städte an mir vorbeiziehen: Nischni-Nowgorod, Perm. Jekaterinburg, Omsk. Nowosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk. Zweihundert Kilometer allein den Baikalsee entlang und dann über Wolga, Irtysch und Jenissei bis zum japanischen Meer.
Eine Rückfahrt ist nicht eingeplant.
Ich bin ein Idiot, vertrödle wertvolle Zeit. Haste zum kamerafreien Cerealienregal, gehe in die Knie und greife an den Honey-Loops vorbei den Schnaps. Lasse die Ein-Liter-Flasche Rachmaninoff ins Innere meiner alten Cordhose gleiten, dränge mich an den wartenden Rentnern vorbei; falle beinahe, als der Schnaps, direkt vor der Kasse, ins Rutschen kommt. Greife theatralisch nach meinem arthritischen Bein und stürze ins Freie.
Wassili löst seinen Blick von der Uhr. Erhebt sich von seinem Thron, einem leeren, von der Sonne ausgeblichenen Kasten der Marke Paulaner. Er kommt mir zwei Schritt entgegen. Seltsam, es ist nicht seine Art, das zu tun.
Ich strecke ihm die Flasche hin, so weit, dass er sie mir bequem abnehmen und mich in Frieden ziehen lassen kann.
Vergesse jede Vorsicht und blicke in seine Augen. Was darin steht, ist grenzenlose Wut. Wut, die ein Ventil sucht.
Etwas muss geschehen sein, etwas treibt Wassili zum Äußersten und mir wird klar, dass er mich nicht gehen lassen wird, nicht ohne eine bleibende Erinnerung an diesen wunderbar sonnigen Tag.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich eine Bewegung. Es ist die ganze Gruppe, die jetzt zwei, drei Schritte auf uns zukommt. Ohne zu verstehen sehe ich Big Mac ein Paar Einmalhandschuhe aus Silikon aus seiner Tasche ziehen. Er streift sie sich über und greift noch einmal in seine Jacke hinein.
Wassili reißt mir die Flasche aus der Hand. Hebt sie über meinen Kopf und ich ducke mich in Erwartung des Schlages - als ganz andere Dinge geschehen.
Sie müssen es abgesprochen, ja trainiert haben. Nehmen ihn in die Zange, umfassen Arme, Beine und Brustkorb, spannen ihn wie in einen Schraubstock ein. Der Rachmaninoff fällt zu Boden und zerbricht. Es riecht scharf nach Wodka und …
Big Mac drückt mir ein Messer in die Hand.
Ich betrachte es und verstehe.
Er hat keine Kosten gespart und das teure, das für neunzehn-neunzig, gewählt.
Ich blicke Wassili in die Augen.
Wassili kreischt auf wie ein Mädchen. Wassili macht sich in die Hose, tatsächlich füllt sich sein Schritt mit dunklem Wasser. Dann wird er ganz ruhig. Und weint.
Heult Rotz und Wasser, als ich das Messer auf den Boden fallen lasse, mich an der Gruppe vorbei drücke und dem Trampelpfad entlang nach Hause gehe. Von meinem Fenster aus werfe ich einen letzten Blick auf die Szene: Wassili steht allein vor den Containern. Sein Blick irrt umher und findet irgendwann meinen.
Doch er hält meinem Blick nicht stand.
Schaut zu Boden und schlurft davon.