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Eine Gruppe Russen

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11.04.2011
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Eine Gruppe Russen

Ich beginne mit dem Flaschensammeln gegen sieben Uhr morgens. Fünf wäre besser – doch wie soll ich das anstellen, mit meiner Arthrose? Verlasse den Block und folge einem Trampelpfad voller Hundescheiße und zerdrückter Tetrapacks. Schiebe mich an den Papiercontainern vorbei, wo die Russen, später am Tag, stehen werden.
Berge PET und Glas aus den pittoresken Ecken der Anlage und habe gegen zehn genug zusammen für eine Semmel mit Gelbwurst und zwei Dosen Grafenwalder. Mein Frühstück ist weder cholesterinarm noch gesund, doch freu ich mich drauf wie ein Kind auf den Rummel.
Schlurfe zum Rewe, lehne mich gegen die lange Reihe der Einkaufswagen und kippe einen Kurzen. Warte auf die segensreiche Wirkung des Alkohols, fasse Mut und trete ein. Mache meine Besorgungen, wünsche der verzagt dreinschauenden Kassiererin einen schönen Tag, packe mein Frühstück in die dafür mitgebrachte Plastetüte und passiere die elektrische Ausgangstür.
Was für ein herrlicher Morgen! Ich muss blinzeln im grellen Licht der Sonne. Wie gern würde ich jetzt Feierabend machen. Nach Hause laufen, die Treppe hoch und mein Lunchpaket verzehren. Eines der Grafenwalder öffnen und aus dem Fenster sehen. Gegen eins kommen die Kinder aus der Schule; ihnen zuzusehen ist mir die größte Freude.
Nicht, dass ich den kleinen Mädchen hinterherschaue, so einer bin ich nicht. Was das Körperliche betrifft: Ich bin nie ein Vulkan gewesen. Der Anblick meiner blassen Glieder befremdet mich und so vermeide ich jeden Gang in mein Bad.

Nach Hause also - doch es gibt da ein Problem. Es ist mir nicht gestattet, einfach so nach Hause zu gehen - also setze ich meine müden Knochen an den parkenden Autos vorbei in Richtung der Papiercontainer. Zähe Schritte wie ein Waten durch Sumpf. Dreißig Meter noch, ich hebe den Blick und stelle fest: sie sind da.

Sie sind eine Gruppe Russen.
Sagt das nicht alles?
Aus besseren Zeiten, als ich mir den Besuch einer Galerie noch leisten konnte, löst dieser Satz etwas aus in mir. Er erinnert mich an ein riesiges Ölgemälde, ich schließe die Augen und sehe sie vor mir: die „Saporoger Kosaken“ von Ilja Repin.

Es sind kräftige Kerle, Krieger, die sich den kampffreien Tag mit einem wilden Gelage verkürzen. Die nackte Haut dieser Männer ist voller Narben. Es sind die Schnitte bezwungener Gegner, die Bisse ungewaschener Huren, die verzweifelten Kratzer geschändeter Bauerstöchter. Zeugnisse gelebten Lebens. Die Zecher kreischen wild durcheinander, diktieren dem einzigen Schreibkundigen unter ihnen einen Brief an den türkischen Sultan. Es ist eine Gruppe Russen und ich kann sie förmlich riechen.

Meine Russen sehen ganz anders aus. Im Grunde sind es noch Kinder, Flaumbärte auf dem Weg zum Mann, hohlwangig die einen, schweinsfett die anderen. Sie tragen billige Trainingsanzüge mit gefälschten Adidas-Emblemen, rasieren sich Bärtchen und Koteletten und glauben damit toll auszusehen. Riechen nach gestohlenem Hugo Boss und darunter nach Schweiß.
Nicht, dass ich etwas gegen Russen hätte. Ich bin kein Nazi, dazu fehlt mir der Elan.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mal, ob es wirklich Russen sind - es könnten Ukrainer sein oder Kasachen; davon habe ich keine Ahnung und offen gestanden ist es mir egal. Ich bin ein Kind der DDR, für mich war das alles Sowjetunion, Russland.
Als Schüler hatte ich eine russische Brieffreundin, ist das zu glauben?

Ich hatte Oma Krüger die Kohlen hochgetragen oder Altpapier gesammelt, so genau weiß ich das nicht mehr. Eine Tat für den Frieden, ein Baustein für den Aufbau des Sozialismus nannte es der Schuldirektor und vermittelte mir zur Belohnung eine Brieffreundschaft. Mit einem Mädchen, wurde mir beim ersten Blick auf den Umschlag klar: die kyrillischen Zeichen liebkosten das Papier wie sanfte Wellen das Meer. Mich packte Neugier, ich pfiff auf die letzten beiden Stunden und rannte nach Hause. Riss Anna Perowas Brief auf und drückte mir das nach Nelken duftende Kuvert an die Nase.
Ein Foto fiel heraus. Ich hob es auf und hielt den Atem an. Anna Perowa trug lange, vermutlich braune Haare. Durch den enganliegenden Rollkragenpullover zeichneten sich ihre Brüste wie vorwitzige Igel ab. Sie waren klein und fest; schoben sich, irgendwie überraschend, wie die wilden Schneeglöckchen einer Bergwiese, aus ihrem Körper. Ich überlegte, wie sie sich anfühlen mochten. In meiner Vorstellung trug Anna Perowa einen kurzen Faltenrock, öffnete ihre schlanken Beine zweifingerbreit und lächelte. Lächelte und hatte keinen Schimmer, was sie damit anrichtete.
Ich habe ihr Foto mit aufs Klo genommen, zurückgeschrieben habe ich nie.

Unser Gebäudekomplex heißt „Bersarin“. Nüchtern betrachtet – doch wer tut das schon? – ist es ein unmöglicher Ort. Ein Ghetto aus lieblos errichteten Sechs- Neun- und Elfgeschossern; Betonklötzern, die wie von fantasielosen Kindern aufgestapelte Legosteine zwischen billigen Autos und farblosen Menschen in den Himmel ragen.
Meine Russen sind hier aufgewachsen. Ausgesetzt und vergessen von Eltern, denen der Mut oder der Grips fehlte, die Situation zu verändern. Die es versäumten, ihrer Brut Benehmen und Anstand beizubringen, ihnen ein Ziel aufzuzeigen jenseits der Blöcke. Meine Russen kennen kein Gemälde von Repin, keinen einzigen Roman und keine Oper.
Sie sitzen oder stehen vorm Rewe, urinieren hinter die Papiercontainer, ignorieren Händewaschen und Etikette. Reißen die in Folie verschweißten Gebirgsjäger mit den Zähnen auf und schlingen sie gedankenlos zu kaltem Toast herunter. Saufen in Dosen gefülltes Grafenwalder und Wodka Rachmaninoff, rauchen Goldfield oder Imperial.

Wieso die eigentlich nicht arbeiten, habe ich mich anfangs gefragt. Sind ja keine Kinder mehr, siebzehn oder achtzehn werden sie schon sein. Aber mit dieser Frage begebe ich mich auf dünnes Eis. Hätte selbst den Hintern heben müssen, als ich es noch konnte. Die Lady vom Arbeitsamt hat sich bemüht, mir ständig Zettel mit Jobangeboten ausgedruckt. Ein paar Mal hatte ich die Betriebe aufgesucht, um mich vorzustellen - und kam aus dem Staunen nicht heraus! Da bugsierten Menschen, ihrer aufrechten Haltung beraubt, Aktenordner durch die Flure, spielten die Beflissenen und deklamierten ständig „Mahlzeit!“ In der Produktion wirbelten sie wie Ameisen; stemmten, der Verzweiflung nah, zu viele, zu schwere Lasten in ihren zu kleinen Händen – für zu wenig Geld, wie ich annahm. Dagegen die Manager: Typen, die sich selbst so wichtig waren, dass sie Englisch mit mir sprachen. Zuletzt war da ein Vorgesetzter, der seine magersüchtige Sekretärin vor meinen Augen zum Heulen brachte.
Ich ergriff die Flucht. Hatte ja noch etwas Geld, hatte eine Playstation und spielte darauf bis spät in die Nacht. Lieber Worldchampion als fünf Uhr morgens aufstehen. Irgendwann hat es die Lady bleiben lassen mit ihren Zetteln und ich bin rausgerutscht aus der Vermittlung.
Zu arbeiten verlernt man schnell.
Ebenso das Unter-die-Menschen-Gehen, das Hallo-was-macht-Ihr-heute-Abend oder das Kommt-rüber-auf-ein-Glas-Wein. Ich zog meine Jalousien zu und sah fern, bis mir Kabel Deutschland den Anschluss kappte. Schaute von da an dem Hamster beim Fressen zu.

Manchmal setze ich mich unter das Neonlicht meines Küchentischs, lege meine Hände auf die Resopalplatte und denke an etwas Schönes.
Zum Beispiel an Russland.
Denn Russland ist ein schönes Land - ich jedenfalls stelle es mir fantastisch vor. Betrete in Gedanken eine dieser winzigen, mit Blattgold verzierten Kirchen. Versinke in einem Nebel aus Weihrauch; erkenne eine Hochzeitsgesellschaft; die in ein festliches Kleid gehüllte, wunderschöne Braut und den Popen mit seinem ellenlangen Bart.
Besteige die Transsibirische Eisenbahn und überquere die Grenze zwischen Europa und Asien, passiere den Baikalsee und die Flüsse Wolga und Irtysch, Jenissei und Amur. Reise durch die Taiga, rolle ganz sanft durch eine sagenhafte, gefrorene Landschaft in Richtung japanisches Meer.
„Dort soll es schön sein?“, mag man insistieren. „Warum kommen sie dann alle zu uns, die Russen?“
Diesen Einwand muss ich wohl gelten lassen. Andererseits, wer versteht schon die Menschen? Wer die traurigen Russen? Denn genau das sind sie, traurige Seelen in einem traurigen Land. Als hätten sie etwas Persönliches verloren, als sei die geliebte Oma gestorben. Der Russe mag das, fürchte ich – deshalb wählte er auch Putin. Weil er dann weiß, die nächsten Jahre wird’s ihm Scheiße gehen.

Wenn es nach mir ginge: ich bliebe in meiner Küche sitzen bis zum Ende aller Zeit. Doch Broterwerb und tägliche Besorgungen treiben mich vor die Tür.
Ich zähle sechs. Zwischen sechs und acht Russen sind es an jedem Tag.
Im Grunde tun sie einem ja nichts. Sind dumme Jungs, die mir irgendwelchen Quatsch zurufen und meinen komischen Gang imitieren. Mich ein bisschen zupfen, aber das ist kein Problem.
Wenn ich den Mut hätte stehenzubleiben und mit ihnen zu sprechen, vielleicht würden sie mir dann zuhören. Darüber staunen, wie sehr ich es liebe, ihr Land - denn das ist es ja wohl noch immer. Deutschland ist es jedenfalls nicht, sonst würden sie nicht ausschließlich russisch sprechen und auch mal in einen Bus oder Zug steigen und rausfahren aus dem „Bersarin“.
Jedenfalls krümmen sie mir kein Haar, die Russen, lassen mich in Frieden.
Alle, bis auf einen.
Wassili ist einen Kopf kleiner als der Rest - und das ist schlecht. Einen Kopf kleiner zu sein löst bei manchen Menschen komische Eigenarten aus. Wassili hat eine Menge komischer Eigenarten.
Zum Beispiel hat er mir eine zollige Eisenstange von hinten und mit voller Wucht ins Knie geschmettert - der Grund, warum ich nicht mehr richtig laufen kann.
Sie haben mich liegengelassen, sind weggelaufen, als es passierte. Irgendjemand hat die Ambulanz gerufen. Ob ich Wassili angezeigt habe? Warum sollte ich das tun? Wer glaubt schon einem alten Assi. Und, wie viel schlimmer wäre es mir in der Folge ergangen?
Natürlich habe ich versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Eine andere Strecke zu wählen für meine tägliche Promenade erschien mir die verblüffend einfache Lösung. Er stand plötzlich vor mir, als ich es versuchte, riss mir die Krücken aus den Händen und warf sie ins Gebüsch. Beschrieb detailgenau, was er mit mir machen würde, beim nächsten Versuch, ihm auszuweichen. Seitdem gibt es keine Alternative: Mein Weg führt den Trampelpfad entlang zu den Containern.

Er ist unter ihnen. Das ist er immer, gemeinsam mit Big Mac fehlt Wassili nie.
Zwanzig Meter, am liebsten würde ich umdrehen. Zurück zum Rewe und vorm Ausgang ein Grafenwalder zischen, mich auf den Papierkorb stützen und die wunderbar warmen Strahlen der Sonne genießen.
Wassili erlaubt es nicht. Ich solle nicht wie ein Penner vor dem Laden stehen, meint er.
Ich sehe ihn aufgeregt an seiner Zigarette ziehen, vertieft in ein Gespräch mit einem seiner Kumpane.
Was hilft es, zu jammern? Ich setzte mich in Bewegung; hoffe, dass er mich heute ziehen lässt, mich vielleicht gar nicht mitbekommt.
Alles wie immer. Mein Herz beginnt wie auf Knopfdruck schneller zu schlagen. Schweiß bricht aus, durchnässt meinen Rücken in einem einzigen, fiebrigen Schub. Mein Hemd heftet sich wie geleimte Tapete an meinen Körper und ich weiß, es wird auf Stunden nass und kalt auf meiner Haut kleben.

Zehn Meter noch, keine Sekunde wende ich meinen Blick von Wassili.
Er steht mit dem Rücken zu mir und streitet mit Big Mac. Macht einen Buckel, scharrt mit dem Fuß im Dreck, fährt seine Hörner aus wie ein junger Stier. Giftet den Dicken in abgehacktem Russisch an und der grunzt zurück. Wassili droht, schiebt sich mit jedem seiner Worte ein kleines Stück nach vorn, rückt Big Mac Zentimeter für Zentimeter auf die Pelle.
Es ist keine dieser pubertären Rangeleien um die Hackordnung, es ist ein handfester Streit.
Ich betrachte die Gruppe und spüre eine Veränderung. Es ist, als hätte jemand die Figuren eines Schachspieles verstellt. Big Mac strahlt eine mir unbekannte Energie aus, die Anderen tänzeln, ohne für Wassili Partei zu ergreifen, herum.
In diesem Moment kommt mir ein ungeheuerlicher Gedanke. Dass sie ihn vielleicht gar nicht mögen. Wäre das möglich? Dass sie ihn am Ende gar hassen, nicht weniger als ich?
Wie schwarz und weiß wir doch die Welt sehen. Unsere Vorurteile in Stein meißeln, ohne nachzudenken.
Der Dicke bemerkt mich und zupft Wassili am Trikot.
Acht Meter. Wassili schnappt „Schto?“ und dreht sich nach mir um.
Urplötzlich sind alle still – und ich beginne zu zittern.
Schlottere wie einer dieser Parkinson-Typen, blicke in Wassilis Augen und sehe ihn lächeln, reiße den Kopf nach unten und verfolge die schlurfenden Schritte meiner durchgelaufenen Crocs.

Denn er hat mir untersagt, ihn anzusehen. Hat es auf seine Art getan: Der Schlag kam aus heiterem Himmel, eben noch Lächeln - dann traf mich der Hieb. Etwas zerplatzte, ein Blitz zuckte rechts von meinem Auge und dann knackte es überlaut. Er hat mir den Kieferknochen gebrochen, dachte ich und bittere Galle stieg in mir hoch. Schlag zwei, ein seitlicher Haken, riss mich von den Beinen, ich fiel hin und kotzte ihm auf die Schuhe. Nein, ich werde Wassili nicht wieder ins Gesicht sehen, nicht ohne seine Erlaubnis.

Vier Meter. Saurer Schweiß läuft wie aus Rohren, trieft meinen Rücken entlang und die Brust hinunter. Mein Herz pocht vernehmlich in meinem Ohr - es ist lauter als der nahe Lärm der Straße, lauter als die ausparkenden Kleinwagen.

Für eine Sekunde verfolge ich ihren Weg. Fast immer sind es Frauen; übervorsichtig zirkeln sie ihre Autos aus den engen Parklücken und fahren vom Platz. Überqueren ampelgeführte Kreuzungen und folgen dem Weg zu ihren Häusern. Parken unter Carports oder in Garagen, rufen ihre Männer aus dem Haus und lassen sie die schweren Körbe tragen. Bereiten wunderbare Mahlzeiten zu mit den Zutaten vom Rewe und rufen zu Tisch. Rotwangige Menschen öffnen Weinflaschen, ganze Familien sitzen an kreisrunden Tischen und prosten sich zu, feiern Geburtstag oder Weihnachten in geschmackvoll beleuchteten, warmen Zimmern. Es sind Menschen, die sich Sorgen machen um eine schlechte Zensur ihres Kindes oder den schlechten Tabellenplatz ihres Fußballvereins.

Ich habe ganz andere Sorgen.
Zwei Meter, ich grüße mit bebender Stimme. Wassili tritt vor mich hin und bellt: „Stehenbleiben!“ Ich tu ihm den Gefallen. Warte mit gesenktem Blick, bis er mich anzischt: ich solle ihn gefälligst ansehen.
Wassilis Augen sind schwarz. Sie liegen tief und eng beieinander in ihren Höhlen. Es sind erstaunlich kleine, winzige Rattenaugen, hinter denen es sichtbar rumort - Wassili denkt nach, aber worüber?
„Scheiße wird immer stinken“, beginnt er endlich. „Scheiße wird stinken und Männer werden Frauen ficken.“
Aha, Wassili hat also seinen philosophischen, an diesem wunderbar sonnigen Tag. „So sicher, wie Scheiße stinkt“, fährt er fort, „wirst du mir einen Gefallen tun. Hast du das kapiert, altes Assi?“
Ich nicke, so heftig, dass sich von meiner Stirn ein Schweißtropfen löst und ich reflexartig mit dem Handrücken über die Stelle wische.
„Ich habe Durst“, stellt er fest. Fingert eine Imperial aus seiner Hemdtasche und steckt sie sich an. Schmeiß deinen Jungs eine Runde! – möchte ich rufen, halte aber die Klappe.
„Du wirst mir Wodka besorgen“, fordert er. „Mir scheißegal, ob du ihn kaufst oder klaust; dreh deinen Assiarsch und besorge Schnaps!“
Warum sollte ich ihm widersprechen? Ich drehe mich um und will gehen, als er mich noch einmal zurückruft.

„Ich gebe dir fünf Minuten“, sagte er und bringt wie aus dem Nichts die Eisenstange hervor. „Fünf Minuten, und wenn du auch nur eine Minute länger brauchst …“
Wassilis Augen sind ein offenes Buch. Sie verleugnen nichts.
Ich vergesse zu atmen, will nur noch wegrennen so schnell und soweit ich kann.
„Ich werde dir die Kniescheiben zertrümmern“, brüllt er mir hinterher. „Alle beide!“

Vor Jahren, als es mir noch besser ging, lud ich einen jungen Russen zum Grillabend ein. Ich wollte prahlen, servierte ihm bayrisches Bier, dazu Roster und Steaks. Zwischen den aufgetischten Leckerbissen huschte sein Blick nervös über den Tisch. Auf der Suche nach Schnaps, glaubte ich. Hauptsache Fusel, so sind sie eben, die Russen. In nächsten Moment atmete mein Gast erleichtert auf – er hatte das Salz gefunden.
Sein Name war Heinrich und das fand ich amüsant. „Das ist doch kein Name für einen Russen“, scherzte ich – er aber wurde fuchsteufelswild und fauchte mich an: Dass er kein Russe sei - sondern ein Deutscher, und stolz darauf!
Dabei war „Deutscher“ ein Schimpfwort; da, wo Heinrich herkam. „Deutscher“ hatten sie ihn in Wolgograd gerufen und „Russe“ riefen sie ihn hier. Heinrich stand zwischen den Stühlen, ein Fremder auf beiden Seiten der Welt.

Ich haste zum Rewe, begleitet von einem seltsamen Gefühl. Nicht Wassilis Drohung hat es ausgelöst – da ist etwas anderes, eine winzig kleine Abweichung im Lauf der Dinge. Ich denke darüber nach, glaube zu begreifen und die Erkenntnis ist so stark, dass ich trotz der gebotenen Eile stehenbleibe und mich noch einmal umdrehe nach den Russen.
Es ist Big Mac. Er hat mir zugenickt vorhin - und jetzt tut er es wieder.

Ich nenne ihn seit jeher Big Mac. Es ist nicht meine Art zu spotten, ganz allgemein mangelt es mir an Humor. Ihm diesen Namen zu verpassen, war kein toller Einfall, Grund war vielmehr die frappierende Ähnlichkeit: Big Mac sieht aus wie ein Big Mac. Über dem ansatzlosen, geraden Hals hängt seine Unterlippe wie Käse herunter, Farbe und Wulst der Zungenspitze gleichen dem Formfleisch, seine Nase dem gammligen Salatblatt. Auf seiner Stirn prangen hundert Pickelchen wie der Sesam des Originals.
Eine seltsame Begebenheit verbindet mich mit ihm. Wassili fehlte für einige Tage im Pulk seiner Lieben, saß in Untersuchungshaft wegen dieser Geschichte mit Jill. Jill ist das Mädchen, das nicht mehr spricht – deshalb kann sie auch nicht aussagen gegen Wassili – aber vielleicht will sie das ja auch gar nicht.

Es war im Frühjahr dieses Jahres. Keiner der Russen machte Anstalten mich zu belästigen; ich nutzte die Gelegenheit, setzte mich auf die Bank vor unserem Block, streckte meine Füße in die Sonne und schloss die Augen. Als er neben mir zu sprechen begann, zuckte ich heftig zusammen.
Was will Big Mac mir, dachte ich und erwartete das Schlimmste. Glaubte, er hätte nach Wochen herausgefunden, dass ich eine Flasche nach Wassili geworfen und stattdessen ihn, Big Mac, getroffen hatte. Keiner der Russen kam auf den Gedanke, ich könnte es gewesen sein. Doch vielleicht jetzt.
„Wassili ist nicht mein Freund“, sprudelten Big Macs wulstige Lippen – und ich atmete auf. Der Dicke war nicht wegen dieser Sache hier. Dennoch war ich alles andere als gelöst, sah mich nach allen Seiten um, glaubte an einen fiesen Trick der Russen, die sich hinter den Büschen scheckig lachen und jeden Moment auftauchen würden, um mir die Fresse zu polieren. Erst als eine streunende Katze auftauchte und Big Mac begann, sie gedankenverloren zu streicheln, wurde ich ruhiger.

„Verstehst du das?“, fragte er mich. „Du sollst nicht glauben, dass der Vergewaltiger mein Freund ist.“
Das Wort klang beinah schon lustig aus seinem Mund. Er sprach es „Ver-ge-Wal-Tiger“ aus, als wäre in diesem Wort tatsächlich ein Wal und ein Tiger oder aber ein verrückter Genmix - der Waltiger - versteckt.
„Vergewaltiger?“, wiederholte ich unsicher.
Doch irgendwie schien mich Big Mac gar nicht zu registrieren. Zu sprechen machte ihm Mühe. Es war ihm unangenehm und er hatte keine Übung darin - doch hörte ich ihm gebannt zu.
„Ich kenne Wassili seit seiner Geburt“, erzählte er. „Sobald er laufen konnte, stromerte er um unseren Block. Beschaffte sich später ein Messer und zog die Klinge über den Lack der parkenden Autos. Hob einen Stein und zerschlug ihre Scheinwerfer. Wassili bestahl die Nachbarn und legte Feuer in ihre Keller. Als er in die Schule kam, machten die übereifrigen Eltern eines deutschen Kindes den großen Fehler, ihn einzuladen. Sie ließen die beiden Kinder allein im Zimmer des Jungen und das war keine gute Idee. Der zum Gastgeber genötigte Mitschüler brachte vor Angst kein Wort heraus. Irgendwann stürzte er aus dem Zimmer, um zu pissen. Weißt du, was Wassili gemacht hat?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Schon beim Reinkommen war ihm ein kleiner Käfig aufgefallen. Wassili trat jetzt zu diesem Käfig, öffnete das Türchen und holte den verdammten Hamster des Jungen heraus. Zückte sein Springmesser und wartete in aller Ruhe auf die Rückkehr des Kindes. Als der Junge erschien, stieß Wassili sein Messer in das Tier. Hielt es mit ausgestrecktem Arm vor dem Jungen hin und blickte ihm dabei fest in die Augen.“
Ich glaubte Big Mac jedes Wort, sah die Szene praktisch vor mir.
„Aber das ist noch nicht alles“, fuhr der Dicke fort. „Wassili zog die Klinge durch die Gurgel des Hamsters. Und zwang den Jungen, zuzuschauen. Zu erleben, wie das Viech vor seinen Augen verblutete. Wassilis Vater verprügelte ihn deswegen – aber das tat er ständig. Bis Wassili immer stärker wurde und sich die Sache umkehrte.“
Ich nickte. Hoffte, er würde weitersprechen, denn so sehr mich Big Macs Bericht schockierte, erfüllte mich jener Moment mit einem sonderbaren, aber sehr angenehmen Gefühl: Fremde hätten uns, gemeinsam auf dieser Bank, für Freunde gehalten.
„Und die … Vergewaltigung?“, fragte ich tonlos.
„Das Mädchen im Westpark, vorigen Winter.“
„Jill.“
„Ja, Tschijl. Du erinnerst dich?“
Natürlich tat ich das.
Es war keine wirkliche Vergewaltigung gewesen, nicht im medizinischen Sinne. Doch mussten sie das Mädchen in die Psychiatrie bringen - und da war sie, soweit ich das wusste, noch heute.
„Wassili hat sie nicht zufällig getroffen“, blubberte Big Mac. „Tschijl hatte an diesem Abend zwei oder drei Mal mit ihm getanzt. Er wollte sie mit Wodka abfüllen, doch dazu hatte sie keine Lust. Er stellte Besitzansprüche, doch sie lachte ihn aus und tanzte mit einem Anderen. Wassili hat sie auf ihrem Nachhauseweg verfolgt und …“
„Ich weiß.“
Man fand sie am nächsten Morgen, stark unterkühlt, mit Kabelbindern an eine Parkbank gefesselt. Wassili hatte sie zusammengeschlagen, entkleidet und ihr mit einem Edding „Hure“ auf den Bauch geschrieben. Als Abschiedsgruß seine Zigarette auf ihrer Brust ausgedrückt.
Big Mac stand ohne ein weiteres Wort auf und ging.
Keine Ahnung, warum er mir all diese Dinge erzählt hat.

Fünf Minuten habe ich also. Ich betrete den Rewe und luge zur Kasse: zwei tattrige Rentner drapieren welkes Gemüse auf dem Band.
Besser, ich beeile mich. Schlurfe in Richtung Schnapsregal, werfe einen möglichst unverfänglichen Blick auf die kreisrunde Kamera an der Decke des Gangs. Schlage einen Haken und lande vorm Non-Food Regal. Mein Blick fällt auf eine Kollektion Steakmesser aus Chromstahl. Sie werden als superscharf angepriesen und sind im Angebot: sieben-neunzig das kürzeste, neunzehn-neunzig das längste. Es zieht mich trotz Zeitnot in seinen Bann. Ich kann nicht anders und greife danach, fahre mit meinem Finger vorsichtig die geschliffene Kante entlang. Und verfalle in einen kurzen, aber intensiven Traum.

Verbringe die Stunden mit nichts anderem als dem stundenlangen HerausschaueIn diesem Traum bringe ich Wassili keinen Wodka, sondern dieses Messer. Ramme es ihm bis zum Heft in den Bauch. Wir sehen uns in die Augen dabei und natürlich versucht er sich zu wehren, krallt seine Hände in das Futter meiner Jacke, versucht aufrecht stehenzubleiben - doch dann geben seine Beine nach und er fällt vor mir auf die Knie.
Meine Hand; die rechte, die das Messer hält; schwimmt in Blut. Als betrachte ich ein wertvolles Gemälde, genieße ich den Anblick seiner brechenden Augen.
Unwichtig die Dinge, die danach folgen: Big Mac zückt sein Handy und ruft einen Krankenwagen. Die Polizei rückt an, ich leiste keinen Widerstand. Sie nehmen mich mit und verhören mich, schicken mich unter die Dusche, kleiden mich in saubere Gefängniswäsche ein. Nach meiner Verhandlung werde ich unter Meinesgleichen verlegt, verbringe fünf, sieben oder neun Jahre in einer beheizten Zelle, habe Gesellschaft und esse jeden Tag warm. Ich arbeite und spare für mein letztes Ziel.
Am Tag meiner Entlassung besteige ich den Zug. Verfrachte den unnützen Koffer meiner Habseligkeiten in die Ablage und falle in den bequemen Sitz des Abteils. Verbringe die Zeit mit nichts anderem als dem stundenlangen Herausschauen aus dem Fenster, wo all die fremden Städte an mir vorbeiziehen: Nischni-Nowgorod, Perm. Jekaterinburg, Omsk. Nowosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk. Zweihundert Kilometer allein den Baikalsee entlang und dann über Wolga, Irtysch und Jenissei bis zum japanischen Meer.
Eine Rückfahrt ist nicht eingeplant.

Ich bin ein Idiot, vertrödle wertvolle Zeit. Haste zum kamerafreien Cerealienregal, gehe in die Knie und greife an den Honey-Loops vorbei den Schnaps. Lasse die Ein-Liter-Flasche Rachmaninoff ins Innere meiner alten Cordhose gleiten, dränge mich an den wartenden Rentnern vorbei; falle beinahe, als der Schnaps, direkt vor der Kasse, ins Rutschen kommt. Greife theatralisch nach meinem arthritischen Bein und stürze ins Freie.

Wassili löst seinen Blick von der Uhr. Erhebt sich von seinem Thron, einem leeren, von der Sonne ausgeblichenen Kasten der Marke Paulaner. Er kommt mir zwei Schritt entgegen. Seltsam, es ist nicht seine Art, das zu tun.
Ich strecke ihm die Flasche hin, so weit, dass er sie mir bequem abnehmen und mich in Frieden ziehen lassen kann.
Vergesse jede Vorsicht und blicke in seine Augen. Was darin steht, ist grenzenlose Wut. Wut, die ein Ventil sucht.
Etwas muss geschehen sein, etwas treibt Wassili zum Äußersten und mir wird klar, dass er mich nicht gehen lassen wird, nicht ohne eine bleibende Erinnerung an diesen wunderbar sonnigen Tag.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich eine Bewegung. Es ist die ganze Gruppe, die jetzt zwei, drei Schritte auf uns zukommt. Ohne zu verstehen sehe ich Big Mac ein Paar Einmalhandschuhe aus Silikon aus seiner Tasche ziehen. Er streift sie sich über und greift noch einmal in seine Jacke hinein.
Wassili reißt mir die Flasche aus der Hand. Hebt sie über meinen Kopf und ich ducke mich in Erwartung des Schlages - als ganz andere Dinge geschehen.
Sie müssen es abgesprochen, ja trainiert haben. Nehmen ihn in die Zange, umfassen Arme, Beine und Brustkorb, spannen ihn wie in einen Schraubstock ein. Der Rachmaninoff fällt zu Boden und zerbricht. Es riecht scharf nach Wodka und …
Big Mac drückt mir ein Messer in die Hand.
Ich betrachte es und verstehe.
Er hat keine Kosten gespart und das teure, das für neunzehn-neunzig, gewählt.
Ich blicke Wassili in die Augen.

Wassili kreischt auf wie ein Mädchen. Wassili macht sich in die Hose, tatsächlich füllt sich sein Schritt mit dunklem Wasser. Dann wird er ganz ruhig. Und weint.

Heult Rotz und Wasser, als ich das Messer auf den Boden fallen lasse, mich an der Gruppe vorbei drücke und dem Trampelpfad entlang nach Hause gehe. Von meinem Fenster aus werfe ich einen letzten Blick auf die Szene: Wassili steht allein vor den Containern. Sein Blick irrt umher und findet irgendwann meinen.
Doch er hält meinem Blick nicht stand.
Schaut zu Boden und schlurft davon.

 
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Puh starker Tobak.
Gut geschrieben, die Szene wirkt authentisch und nach meinem Empfinden nicht zu konstruiert, Spannungsbogen ist auch fesselnd. Die Geschichte ist als solche durchaus Klassen besser, als das was man zum Großteil sonst in der Rubrik Alltag zu lesen bekommt, dafür Hut ab.

Trotzdem hab ich ein paar Probleme mit der Geschichte. Mir missfällt, dass nur negative Gefühle vorkommen. Alles, angefangen bei Geschehen und Äußerem der Figuren, über die Erinnerung des alten Mannes, bis hin zum Schluss enthält nur graue Farben. Das ist zwar traurig, aber auch irgendwie witzlos und ... vorhersehbar ... mir fehlt ein Kontrast, ein Gegenpart, eine Entwicklung etwas, dass auch die negativen Gefühle für mich den Leser erfassbar macht. Im Moment lässt mich deine Geschichte nämlich nicht an sich ran, der "Assi" ist in seiner Angst seinem Selbstmitleid und seiner zerrütteten Existenz unnahbar unbegreiflich, leer und hohl. Wassili ist in seiner grundlosen Grausamkeit und zügellosen Wut einfach nur Grotesk. Big Mac ist eine unbekannte Größe, wie die anderen Russen oder die Frauen auf dem Parkplatz und die Rentner im Rewe an der Kasse, nur mit Namen.
Die Geschichte bleibt also immer auf Abstand weil ich mich keiner Figur nähern kann.
Die Ereignisse und die Bühne auf der die Geschichte spielt sind zu nah an Klischees und Schlagzeilen der Tagespresse, als das ich mich persönlich von ihr angesprochen fühle. Sie ist nur grau und grau, der Anfang ist grau, die Mitte ist grau und das Ende ist grau, wie gesagt es fehlt der Kontrast.
Gut geschrieben aber nach meiner Meinung ohne Überraschung, Geist und Witz. Es ist ein gut geschriebener authentischer Ausschnitt aus dem Alltag aber keine gute Geschichte.
Trotz der Meckerei, hab dank für deine Geschichte.
les' dich gerne wieder
Nice

 

Ich finde, deine Geschichte ist ziemlich gut geschrieben. Das sind wirklich gute Sätze drin, nichts Abgelutschtes, das kann man sehr gut lesen. Sie ist ja nicht ganz kurz, aber ich hab sie in einem Rutsch gelesen, ohne zu stolpern oder Ähnliches. Und ich fand sie auch interessant und bis zum Schluss nie langweilig. Das sind Komplimente, die mir nicht so häufig aus den Fingern flutschen. Trotzdem: Nice hat Recht, wenn er sagt, dass die Entwicklung zu schwach ist. Dafür, was für Anlagen in der Geschichte sind, ist mir zu wenig Dynamik drin. Das ewig Graue stört mich persönlich nicht. Das passt gut zusammen, Sprache, Handlung. Aber es wäre nötig, mehr über Wassili zu erfahren. Ich würde gerne dessen Wut nachvollziehen. Die Chance hattest du dir ja, trotz Ich Erzählers, konstruiert, als Bic Mac von Wassili erzählt. Da wäre für mich der Punkt gewesen, wo man mich hätte kriegen können, da hätte man eine Geschichte erzählen können, die einen nachfühlen lässt, wie Wassili so wurde. Ja, ich finde, Nice hat viel Wahres gesagt bzw. ich sehe das meiste ganz ähnlich.

Es ist wirklich ziemlich gut geschrieben, aber es fehlen die Höhen und Tiefen in den eigenen Gefühlen, während man deinen Text liest.

Lollek

 

Hallo nastro,

also ich bin schon recht begeistert.
Deinem Prota hast du ein klares Gesicht gegeben, finde ich, auch den russischen Typen. Da schwingt zwar auch viel Klischee mit, aber ich finde, du relativierst das spätestens im Gespräch mit Bic Mac wieder.

Ach ja, Bic Mac spricht vielleicht ein bisschen zu gewählt. Wenn ich ihm so zuhöre, dann kann ich gar nicht richtig glauben, dass er nur auf der Straße rumhängt.

Da du die Geschichte in Philosophie eingeordnet hast, will ich sie auch aus diesem Blickwinkel betrachten.

Wenn man fragt Wann ist Macht legitim?, dann ist das eine Frage mit zwei Gesichtern.
Da gibt es zum einen die Legitimität und zum andern die Legitimation.
Wassilis Macht und Dominanz kann sich nur so lange halten, wie er Legitimation durch seine Kumpane erfährt. Nimmt man ihm seine Macht, so kann er sich auf nichts berufen.
Erfährt meine Macht zu lange Legitimation durch eine andere, vorherrschende Gruppe, dann laufe ich Gefahr, sie für Legitimität zu halten. Ich bin mir dann irgendwann nicht mehr bewußt, dass man mir meine Macht einfach wieder entziehen kann.

Es gibt da doch diese Szene in 1492, da sitzt ein machthungriger Vertrauter der Königin mit einem Anderen am Tisch und isst. Und dann droht er dem Anderen subtil, indem er so tut, als wolle er diesem Wein nachschenken, als dieser ihm das leere Weinglas entgegenhält - dann aber die Flasche zurückzieht und nur sein eigenes Glas auffüllt und sagt, Macht könne verliehen und ebenso einfach wieder entzogen werden.

So ist das auch mit Wassili in dieser Geschichte.
Am Ende schenkt ihm keiner mehr nach und er muss spüren, was er eigentlich ist: unwichtig und klein.

Ich finde es toll, wie du den Prota behutsam darstellst. Seine Liebe für Russland, seine Träume. Seinen Respekt für diese russischen Jungs, seine stille Bewunderung und seine Trauer, weil er merkt, dass sein Bild von Russland vielleicht nicht so ganz stimmen könnte. Und dass er trotzdem an diesem Idealbild festhält.

Den Titel finde ich bisschen verunglückt. :)
Er ist so gar nicht das, was du erzählst, finde ich.

Aber: sehr gerne gelesen!

PSS

 

Hallo nastro

Du verbindest poetische Bilder mit der grauen Welt, in der dein Protagonist lebt. Ein ungewöhnlicher Mann, früher besuchte er Galerien. Was mir da fehlte, ist der Bruch in seinem Leben, der ihn zum Asozialen machte. Zumindest eine Andeutung. Aber nein, du foppst den Leser indem du ihm nur diese erinnernden Gedanken des Protangonisten schenkst. Desungeachtet ist es eine starke Geschichte. Bei manchen Situationen dachte ich, warum handelt er so und nicht anders. Warum verkriecht er sich nicht anderswohin. Er wirkt in manchem doch sehr angepasst. Aber undenkbar wirkte er mir in seiner Rolle nicht. Eben jemand, der sich nie zu wehren wusste, dem aber auch die Energie fehlte, es auf einem andern Weg zu versuchen. Von daher schon plausibel. Das Ende war dann überraschend, umso mehr man es sich unwillkürlich selbst bereits ausmalte, aber anders.

Bei zwei Sachen kam ich doch ins Stocken, obwohl ich deine Texte vom Stil ehr flüssig wahrnehme:

Schiebe mich an den Papiercontainern vorbei wo sie später am Tag stehen werden.

Dieser Satz liess mich zögern, seinen Sinn abwägen. Die kursive Schrift des sie weist zweifellos auf eine Information im Plural hin, doch im Moment ist es nicht aussagekräftig. Natürlich könnte ich den Titel heranziehen und denken, eine Gruppe Russen. Doch dann müsste es auch hier im Text stehen. Aber vielleicht ergibt sich auch was anderes, mal sehen. – Nein, es sind die Russen, bald kamen sie.

Zückte in sein Springmesser und wartete in aller Ruhe auf die Rückkehr des Kindes.

Der Satz ist in der wörtlichen Rede von Big Mac enthalten. Würde er ansonsten gebrochen Deutsch sprechen, wäre ich nicht über das in gestolpert. So aber erachte ich es als überflüssig.

Habe es trotz der düsteren Atmosphäre, die diese Lebensumstände mir vermittelten, sehr gern gelesen. Die Spannung war mir etwas gedämpft, das Bedrohliche fasste bei mir nicht so recht Fuss, doch dafür hatte es Kontinuität.

Schöne Grüsse

Anakreon


PS: Ach ja, bei diesem Ausgang, muss ich den Russen die Pelzmütze nicht mehr über die Ohren ziehen. ;)

 

Hey, war heute außer Haus und jetzt die vielen Rückmeldungen. Bedeutet: Tatort ade und ran an die Tasten.

Nice, herzlichen Dank für Deinen Kommentar.
Danke für das "Gut geschrieben", Danke für den "fesselnden Spannungsbogen" - ich gebe hiermit zu, das ich von Spannungsbögen wenig bis keine Ahnung habe und er somit aus dem Bauch heraus entstanden sein muss - falls er das ist.
Wir schreiben hier Kurzgeschichten, keine Romane, keine Thriller. Eine KG verlangt nicht zwingend einen Spannungsbogen, nach meinem Wissen vermisst sie ihn nicht mal, da sie oft nichts anderes ist als der Ausschnitt aus einer größeren Sache. Meine Meinung, ist jemand anderer?
Bei der Rubrik habe ich dreißig Sekunden lang gezögert zwischen Gesellschaft und Alltag. Aber für "Assi" ist all das, was hier passiert, Alltag, deshalb diese Wahl.

Mir missfällt, dass nur negative Gefühle vorkommen.

Mmh. Assi ist runter auf Null. Der bekommt Hartz4. Freunde hat er nie gehabt, die Kollegen haben sich von ihm stets abgewandt, weil er ein eigenbrötlerischer Lehrer war, Frauen Fehlanzeige. Zum besseren Verständnis folgende entfernte Szene:

"Ein Weib? Ich hatte nie eins. Die Mädchen in meiner Klasse zerrissen sich die grell geschminkten Mäuler über jede noch so kleine Bemerkung, lachten mich aus wegen meiner Ticks. Warum sollte ich ihre Albernheiten noch in meiner Freizeit erleiden? Als ich dann Lehrer wurde, fehlte mir ganz einfach die Zeit. Gewissenhaft bereitete ich meinen Unterricht vor - zeichnete epische Gemälde über alle Segmente der Tafel, lebte meinen Beruf ohne dass da Platz gewesen wäre für eine Frau."

Wo soll also die Farbe herkommen in Assis Leben? Vielmehr hat er sich in das Grau des Betons eingefügt, sich unsichtbar gemacht, bis der blöde Wassili kam. Nee, Farbe wollte ich vermeiden, diese Geschichte ist schwarzweiß bis vielleicht auf die Rückblenden des jungen Wassili in überbelichteten Achtzigerjahrebunt. Ich finde keine positiven Gefühle außer den Traum, ein einziges Mal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren bis zum Ende der Welt. Und er liebt die Sonne, das habe ich glaub ich ein paarmal erwähnt.

Da hat übrigens der - meiner Ansicht nach - geniale Film "Sophie Scholl" mit Julia Jentzsch viel in mir ausgelöst, Sophie ertrug so manches auf ihrem Weg zum Schafott, immer aber suchte sie nach den seltenenen Strahlen der Sonne im Knast.

Im Moment lässt mich deine Geschichte nämlich nicht an sich ran, der "Assi" ist in seiner Angst seinem Selbstmitleid und seiner zerrütteten Existenz unnahbar unbegreiflich, leer und hohl.

Okay, dann ist die Geschichte nicht wirklich gut. Und ich muss mir Gedanken machen, sie zu verbessern.

Wassili ist in seiner grundlosen Grausamkeit und zügellosen Wut einfach nur Grotesk.
Warum soll ich jeden Bösewicht seitenlang erklären? Gary Oldman tritt in "Leon, der Profi" auf und ist sofort böse - wie in den meisten seiner Filme. Nee, Wassili ist ganz einfach ein Scheißtyp und ich hatte keine Lust zu erklären, warum. Es gibt diese Typen in unseren Städten wie es Tsunamis, Krebs und Gasexplosionen gibt. Es gibt das Schicksal und wehe dem, der Wassili über den Weg läuft.

herrlollek, herzlichen Dank für Deinen Kommentar.

Sie ist ja nicht ganz kurz, aber ich hab sie in einem Rutsch gelesen, ohne zu stolpern oder Ähnliches. Und ich fand sie auch interessant und bis zum Schluss nie langweilig. Das sind Komplimente, die mir nicht so häufig aus den Fingern flutschen.

Und das hebt mein Selbstwertgefühl soeben um 500 Prozent.
Ich schreibe eigentlich nicht so gern so lange KGs, weil ich eben auch selbst nicht gern so lange KGs lese (wenn sie nicht gerade von Bradbury oder Roald Dahl sind). Bei den "Russen" ging es nicht anders: Ich musste mir manches Selbsterlebte von der Seele schreiben - und habe dabei noch mächtig gekürzt. Da gibt es eine "rausgenommen"-Datei mit nochmal drei Seiten - ich war in den Achtzigern zweimal in Russland, mein Bruder war mehrere Jahre an der Erdgastrasse - da hört man eben einiges. Großen Eindruck hat auch die "Peredwischniki" Ausstellung mit Bildern unter anderem von Repin auf mich gemacht - und mir einen völlig neuen Blickwinkel auf die Vergangenheit dieses komischen Landes eröffnet.

Aber es wäre nötig, mehr über Wassili zu erfahren. Ich würde gerne dessen Wut nachvollziehen.
Okay, da bist Du schon der Zweite von Zweien und ich sollte mir vielleicht Gedanken machen, Wassili doch mehr Background zu verpassen. Aber irgendetwas sträubt sich da bei mir - kann der Typ nicht einfach nur ein Scheiß Psychopath sein, sollte ich ihm wirklich mehr Bedeutung verleihen um den Preis, das der sich der Fokus von Assi entfernt? Weiß nicht.

PSS, herzlichen Dank für Deinen Kommentar.

Ach ja, Bic Mac spricht vielleicht ein bisschen zu gewählt. Wenn ich ihm so zuhöre, dann kann ich gar nicht richtig glauben, dass er nur auf der Straße rumhängt.

Mmh, da ist was dran. Ich bin kein Freund davon, Figuren Dialekte zu verpassen, aber das hast Du sicher auch nicht gemeint, Du meinst sicher die Art zu sprechen unter dem Niveau eines Big Mac. Überleg ich mir was, Danke für den Tip.
Deine Betrachtung zum Thema Legitimität und Macht finde ich interessant und kann sie nur bejahen, sehe ich auch so. Gerade haben wir noch Respekt vor jemanden - dann benimmt er sich unmöglich und sofort siehst du ihn aus einem völlig anderem Blickwinkel - und er verliert Prozente seines Machtanspruchs. Wie in der Politik, siehe Wulff oder Kohl am Ende seiner Karriere.

Wassilis Macht und Dominanz kann sich nur so lange halten, wie er Legitimation durch seine Kumpane erfährt. Nimmt man ihm seine Macht, so kann er sich auf nichts berufen.
Eben eben - das ist ein ganz wichtiges Thema, beispielsweise auch im Bezug auf Nazis: überall da, wo sie gewählt werden (somit Macht erhalten) zeigen sie, das sie keine Ahnung zum Regieren haben - und machen sich unmöglich (zum Glück).

Den Titel finde ich bisschen verunglückt. :)
Upps. Mir sind die Titel immer nicht so wichtig. Denke ich mal drüber nach.

anakreon, herzlichen Dank für Deinen Kommentar.

Ein ungewöhnlicher Mann, früher besuchte er Galerien. Was mir da fehlte, ist der Bruch in seinem Leben, der ihn zum Asozialen machte.
Mmh, siehe oben, entfernte Szene Lehrer. Das wollte ich nicht auch noch reinbringen, das erschien mir zu lang. Falsch?

Eben jemand, der sich nie zu wehren wusste, dem aber auch die Energie fehlte, es auf einem andern Weg zu versuchen.
Jajaja, er ist komplett kraft- und saftlos. Geh mal in so ein lauschiges Viertel und schau Dir die Leute dort an: Da ist kein Funke mehr in ihren Augen, das Thema ist gegessen.

Das Ende war dann überraschend, umso mehr man es sich unwillkürlich selbst bereits ausmalte, aber anders.
Haha, Du dachtest wohl, Assi sticht zu? Dazu fehlt ihm die Energie, dazu ist er viel zu pazifistisch.

Bei zwei Sachen kam ich doch ins Stocken ...
Und hast damit Recht. Beide Sätze geändert.

... das Bedrohliche fasste bei mir nicht so recht Fuss ....
Dann werde ich daran nochmal arbeiten, denn ich will schon, das Du Dich bedroht fühlst ;).

Danke allen, nastro.

 

Huch!

Frag mich nicht, wieso, aber ich war der festen Überzeugung, ich hätte deine Russen in Philosophie gefunden!
:lol: :lol: :lol:

Nichts für ungut!

 

kann der Typ nicht einfach nur ein Scheiß Psychopath sein, sollte ich ihm wirklich mehr Bedeutung verleihen um den Preis, das der sich der Fokus von Assi entfernt? Weiß nicht.

Da Proof gerade ( zu einer anderen Geschichte) etwas geschrieben hat, was genau das sagt, was ich sagen möchte, zitiere ich Dr. Proof: "

Aber du möchtest ja auch interessante Charaktere haben, die überall aus der Schublade gucken, weil sie nicht reinpassen (zum Beispiel Fußballer, die vegan leben und am liebsten Klassik hören) – und so unterm Strich passt ja auch wirklich keiner von uns vollständig in irgendeine Schublade.

Das finde ich sehr wichtig. Dass in Wahrheit niemand wirklich in eine Schublade passt, man sich es aber einfach macht, weil jeder diesen "Wassilitypen" kennt. So ruft man Bilder hervor, ohne sich groß anzustrengen. Das ist auch okay. Aber wenn man der Realität näher kommen will, muss man schon sehen, dass man einige Abweichungen vom Klischee einbaut. Du sollst ihn ja nich sympathisch machen unbedingt. Dass er am weinte, das ist ja eigentlich genau das, was ich meine. Nur, es kommt etwas spät für mich, da ist die Geschichte eben schon vorbei.

Übrigens gefällt mir die Perspektive gut und der Titel gar nicht.

Lollek

 

Hallo nastro

Das wollte ich nicht auch noch reinbringen, das erschien mir zu lang. Falsch?

Nein, nein, falsch nicht. Aufgrund seiner Gedanken machte mich einfach seine Herkunft neugierig.

Dann werde ich daran nochmal arbeiten, denn ich will schon, das Du Dich bedroht fühlst :).

Aber nicht zu intensiv, du erinnerst dich, dies ist ein heisses Eisen. :D

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Das finde ich sehr wichtig. Dass in Wahrheit niemand wirklich in eine Schublade passt, man sich es aber einfach macht, weil jeder diesen "Wassilitypen" kennt. So ruft man Bilder hervor, ohne sich groß anzustrengen.
Der Vergleich mit der Schublade ist klasse, ich sehe unser aller Figuren lustig daraus hervorgucken. Und auch der mit dem Fußballer ist nicht übel. Aber um in der Champions Leage zu bleiben: Überbelichte ich Wassili, stelle ich dann womöglich den mir wichtigeren Assi ins Abseits? Stephen King verleiht jeder noch so unwichtigen Nebenfigur eine unglaubliche Tiefe. Das macht er Klasse und es gefällt mir - aber die Bücher gehen meist nicht unter 1000 Seiten ab. Scheiße für eine KG. Also muss ich noch mal drüber nachdenken.
Übrigens gefällt mir die Perspektive gut und der Titel gar nicht.
Mmh, da bist Du schon der Zweite. Ich denke drüber nach.

Aufgrund seiner Gedanken machte mich einfach seine Herkunft neugierig.
Du fragtest nach dem Bruch in seinem Leben, der ihn zum Asozialen machte. Nun, ich glaube er war ein toller Lehrer, einer der sich beflissen auf seinen Unterricht vorbereitete und seine Schüler mit riesigen, epischen Tafelbildern verzauberte. Ohne ihre Begeisterung mitzubekommen, er stand stets neben sich, war neben der Spur, in seine mannigfaltigen Gedanken versunken. Ein Fachidiot ohne Verstand für das normale Leben. Als er sich nach der Wende neu bewerben sollte, eine einfache Proformaübung, hat er das nicht hinbekommen und so führte eins zum anderen - wie Hilde Knef (oder Heike Makatsch) sang: "Von da an gings bergab". So in etwa.

Aber nicht zu intensiv, du erinnerst dich, dies ist ein heisses Eisen. :D
Meinst Du das was ich glaube, das Du es meinst ;)?

Habe da gerade noch einen super Tip aus meinem innersten Kreis bekommen und entschieden, Assi zum Nichtraucher zu machen. Saufen wird er natürlich auch weiterhin.

 

Hallo nastro

Meinst Du das was ich glaube, das Du es meinst ?

Exakt! :shy:

Habe da gerade noch einen super Tip aus meinem innersten Kreis bekommen und entschieden, Assi zum Nichtraucher zu machen.

Wenn ich ein Mitspracherecht hätte, würde ich Protest erheben.:dagegen: Na ja, Nichtraucher geht ja noch an. Würde er nun zum Ex-Raucher, bliebe mir aber nur zu resignieren und für mich zu stammeln: Neurotiker aller Welt vereinigt Euch bei der WHO, die diesen Wahn freisetzte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Die Zecher kreischen wild durcheinander, diktieren dem einzigen Schreibkundigen unter ihnen einen Brief an den türkischen Sultan.

Ja, schreiben und erzählen kannstu,

nastroazzurro –
und nach einem Schock Beiträgen ist’s für ein herzlich willkommen! Hier an Bord noch nicht zu spät –

zu dem sich reichlich Phantasie gesellt. Alles schon gesagt zu blühenden Landschaften und der schönen neuen Welt, der besten aller denkbaren, dass sich die Wanderung lohnt? Mitnichten und Neffen!

Bei den Leuten, bei denen ich – ein durchaus urbaner Mensch - zur Jahrtausendwende im Ländlichen wohnte, tönte es manchmal, man könne schon von Weitem Russen (in dem Fall Umsiedler) von anderem zugewanderten fremden Volk (man vermied das Wort „Pack“) unterscheiden und wolle auch gar nix von denen hören oder wissen. Man mied dann den Kontakt und war, wenn wir mal zusammen in meinen Geburtsort waren, der Meinung, der wäre in der Hand von Türken und Clans von Libanesen schlügen regelmäßig auf dem Marktplatz ihre Feindschaften aus. Als ihnen dann klar wurde, dass ich mit Söhnen Osmans Bier trank und mit Arabern Pizza aß, hieß es dann ähnlich wie bei Deinem Icherzähler

Nicht, das ich etwas gegen Russen hätte. […] Ich bin kein Nazi, dazu fehlt mir der Elan

Aber faschistisches und vor allem fremdenfeindliches Gedankengut lässt sich nicht unbedingt am äußeren Verhalten festmachen. Allein, dass es ausdrücklich genannt und betont wird, lässt den Verdacht aufkommen, in welche Richtung der Icherzähler denkt und wer so denkt, der findet auch jede Nase lang Beweise dafür, dass seine Meinung die richtige wäre.

Aber einen zweiten Gedanken muss ich loswerden, bevor’s an das geht, was bisher unterblieb:

Schnitzer ausbügeln!, keineswegs mein hobby, wie man glauben könnte, aber wat mut, dat mut sagt man am Niederrhein.

Vor Zeiten lief besonders an Schulen hierzulande Diskriminierung mit verkappten Werbesprüchen wie „drei Streifen Adidas, / zwei Streifen Caritas“ getrieben, wobei ich über Peter Rühmkorf ja schon durch seine Sammlung Über das Volksvermögen dergleichen aus den 1950-er ff. Jahren kannte, wobei die alten Sprüche durchaus witziger sind als die modisch-angehauchten..

Sie tragen billige Trainingsanzüge mit gefälschten Adidas-Emblemen, …
oder auch
…; riechen nach gestohlenem Hugo Boss und darunter nach Schweiß,
was nach dem Geständnis
Der Anblick meines nackten Körpers - er befremdet mich, also vermeide ich jeden Gang ins Bad.
schon denkwürdig erscheinen mag und auf den Icherzähler zurückfällt.
Was zum Teufel ist gegen Schweiß zu sagen, der schließlich seine Funktion hat! Man betrachte einmal die armen Hunde bei Hitzestau, die nur über ihre Zunge einen Temperaturausgleich finden können.

Was mich bei jeder Geschichte stören würde – und wäre sie von Poe oder Hemingway, Borchert, Böll oder Schnurre, selbst Goethe oder Schiller, hätte es da denn schon Kurzgeschichten gegeben (Goethe hat ja immerhin sich zu einer Novelle herabgelassen, die er eben so benannte, dass es auch der letzte merke), ist die Werbung, dass mir manchmal der Verdacht aufkommt, alle Welt liefe schon als Litfaßsäule herum: die Markennamen, als reichten nicht, hier in alphabetischer Reiehnfolge zB

„Goldfield“ /„Grafenwalder“ / „Imperial“ / „Paulaner“ / „Rachmaninoff“ / „Rewe“

Beginnen wir mit der Zeichensetzung

Schiebe mich an den Papiercontainern vorbei[,] wo sie, die Russen, später am Tag stehen werden.
„Wo“ leitet hier einen Relativsatz ein.

Wenn es nach mir ginge[,] bliebe ich in meiner Küche sitzen bis zum Ende aller Zeit.
Wie alles finden auch Nebensätze – wie hier – ein Ende (im Komma), und was ein Ende findet, muss auch einen Anfang haben, wie da
… vielleicht würden sie mir zuhören und darüber staunen[,] wie sehr ich es liebe, ihr Land.
Gleiches gilt für Einschübe:
Fünf Minuten, du Arsch[,] und wenn du

„Stehenbleiben!“. Ich tu ihm den Gefallen.
Der Punkt zwischen der auslaufenden wörtl. Rede und dem ersten Wort des Folgesatzes ist entbehrlich.
Ihm diesen Namen zu verpassen[,] war kein toller Einfall, …
Er stellte Besitzansprüche[,] doch sie lachte ihn deswegen aus und …

Rechtschreibung

Gegen Eins kommen …
Die angegebene Uhrzeit wird bis zur Kardinalzahl zwölf mit oder ohne „Uhr“ gebraucht, darum immer klein:
Gegen [e]ins kommen
[= gegen ein Uhr …]
Nicht, das ich den kleinen Mädchen hinterherschaue, …
Oder auch eins der Eingangszitate
Nicht, das ich etwas gegen Russen hätte.
Die elliptische Einleitung („nicht“) verkürzt die vollständige Aussage, „Das heißt nicht, dass …“

Ein paarmal …
Ein paar Mal …

Zu Arbeiten verlernt man schnell.
Zu arbeiten ist Infinitivkonstruktion. Beim Möbelverrücken wird’s deutlicher:
„Man verlernt schnell, zu arbeiten.“
Hier wäre dann aber vorm Infinitiv ein Komma zu setzen, da „schnell zu arbeiten“ etwas andes ist, als etwas schnell zu verlernen …
„Zu arbeiten“ also klein …

Nur mit einem s (wegen seiner Herkunft: a-/Asozial. Jeder hat so seine sprachlichen / geprochenen Eigenheiten.

Ich nicke so heftig, das sich von meiner Stirn ….

Tippfehler / Flüchtigkeit, auf jeden Fall ist der falsche Fall getroffen, hier

…, ich solle ihm gefälligst ansehen.
ihn!

Dennoch war ich alles andere gelöst, sah mich …
Da fehlt ein Wort, wahrscheinlich das bescheidene „als“.

Ich strecke ihm die Flasche hin, soweit …
Soweit ist Subjunktion, hier wird’s aber m. E. als Adverb so weit verwendet.

Gern gelesen vom

Friedel

 

'n Abend anakreon,

Exakt! :shy:
Hehe. Keine Sorge, die Story kommt zurück irgendwann.

Wenn ich ein Mitspracherecht hätte, würde ich Protest erheben.:dagegen: Na ja, Nichtraucher geht ja noch an.
Es muss sein, der alte Lehrer hat nie geraucht, dafür wäre er viel zu verwirrt.

'n Abend friedrichard, und Danke fürs Willkommen.

...Als ihnen dann klar wurde, dass ich mit Söhnen Osmans Bier trank und mit Arabern Pizza aß...
Weiter so ;), oft schmeckt es bei denen auch besser.

...Was zum Teufel ist gegen Schweiß zu sagen, der schließlich seine Funktion hat!...
Oh, frischer Schweiß ist was Tolles, aber eine chromglänzende, swarowskysteinbesetzte Duravit-Handbrause auf Villeroy+Boch Fliesen an Phillip Starck-Abtrennung - wie bei mir Zuhause - hat alle paar Tage auch seine Berechtigung.

Die Marken - nein, die bleiben drin, sind alles ganz leckere Dinge aus'm Assimarkt. Ich würde nicht eines davon runterbringen, außer Paulaner natürlich.

Ganz herzlichen Dank für die Tipps zur Zeichensetzung, Rechtschreibung und den trotz mehrmaligen lauten Lesens nicht entdeckten Flüchtigkeitsfehlern.

 

„Iwan der Schreckliche umfängt seinen von ihm tödlich verwundeten Sohn Iwan“ - ein Gemälde von Ilja Jefimowitsch R[j]epin

Hallo nastroazzurro,

da bin ich noch einmal, nicht ohne vorweg ein paar Wort-Spiele mit Deinem Pseudonym zu treiben, ist er doch in der Astronomie in all ihren Varianten als nAstromie, aber insbesondere in der Anastrophe, nicht zu verwechseln mit der Katastrophe, verborgen. Die A. bezeichnet die Wortumstellung. Dabei will ich durchaus nicht belehrend wirken, aber es wird selbst hier vor Ort Leser geben, die’s nicht wissen, denn A. bezeichnet insbesonder die Stellung des Adjektivs, wenn das Attribut hinter sein Substantiv gestellt wird – und azzuro deucht mich das italienisch blau. Du wärst also verdeutscht (wo ich gerade Luthers Sendbrief vom Dolmetschen mal wieder amüsiert gelesen hab) ein/e blaue nastro zu sein.
Und dann fällt mir ein, dass ich vor Zeiten – als die Geschichten aus Be-Erde real waren -
und mein Gastland noch von der Wahrheit (Svoboda) beherrscht war –
durch die damalige CSSR fuhr (natürlich nicht allein) und zu kneddeli (ich schreib’s, wie ich es spräche) pivo und auch mal diverse Cognackies trank und auf ein Prost! gab’s ein nastrawje!, das in den Brudervölkern mit einem runderen o geziert wurde, was in der Addition mich stutzen lässt …
Aber diesen seltsamen Schluss fand ich erst, als ich Deine Geschichte in ein Kammerspiel zerlegte, mit genau drei Akteuren und einigen Statisten. Doch zuvor noch mal auf Deine Suche

Ganz herzlichen Dank für die Tipps zur Zeichensetzung, Rechtschreibung und den trotz mehrmaligen lauten Lesens nicht entdeckten Flüchtigkeitsfehlern.
Nix zu danken,

nastro,

um die geflüchteten Wörter zu finden wäre an sich die Suchfunktion (im Menü Bearbeiten „Suchen“) durchaus geeignet. Die Passage ums fehlende Wort eingegeben – und schon hat man die Stelle, sofern sie nicht zwischenzeitlich abgeändert wurde …

Zum Kammerspiel!

Die Akteure sind der E(rzähler) mit seinem Gegenpol, W(assili) im Pool der Aus- oder Umsiedler, deren Sprecher B(ig Mac) schon optisch das Gegenteil von W und E zu sein scheint.
Wir sollten nun davon ausgehen, dass zu menschlichen Inventar von der natürlichen Ausstattung her Aggression (man kann es das animalische Erbe nennen) zählt, die durch kulturelle Eingriffe (von der Erziehung her bis hin zum Strafrecht) unterschiedliche Begrenzungen findet. Nennen wir diese Eingriffe wider die menschliche Natur S(ozialisation).

Nun, bei B scheint die S geglückt zu sein. Er hält sich sogar aus Streitereien und Gewaltausbrüchen direkt vor seiner Nase zurück, als wäre er schon auf dem Weg zum Ohnemich(el), darf aber eingestuft werden als einer, der nicht kuschen wird, wenn ihm Selbstverteidigung angesagt erscheint. Damit ist er der eher ruhende Pol in unserm ungleichschenkligen Dreieck.

Da ist W, kleiner als B und immer schon der Kleine gewesen, der sich nun mal nicht durch intellektuelle Fähigkeiten beweisen kann, sondern allein durch Brutalität. Dabei braucht es zur Brutalität keineswegs körperlicher Stärke: es genügt, keine Hemmungen zur bösen Tat zu haben und sich somit in seiner Gruppe zu behaupten:

Es gibt immer noch einen, der tiefer steht als ich!

Und da treffen sich W und E, dem vielleicht noch von Birne blühende Landschaften versprochen wurden, der nun unten angekommen ist. Nicht mal als Gärtner!
Spätestens mit der Ankunft ganz unten hat er sich – trotz allen Leugnens, er habe nix gegen Fremde, er sei kein Nazi wg. fehlenden Elans – rechte Gedankengut angeeignet: Er könne „die“ Russen riechen und meint: „ich kann die einfach nicht riechen“ i. S. von nicht mögen (was man ja auch nicht bei jedem muss und kann) und hätte am liebsten nix mit denen zu tun (was am einfachsten wäre - sie wären gar nicht da).
Aber immerhin ist E kultiviert, kennt Namen, welche „die“ Russen nicht kennen. E ist zwar unten angekommen, dünkt sich aber als was Besseres -

es gibt immer noch einen, der tiefer steht als ich!, -

gegenüber denen da, bis

die beiden gegensätzlichen Überlegenheitsstrategien aufeinandertreffen und Brutalität des W übern ideellen Dünkel obsiegt.

Sollte W die dunkle Seite des E repräsentieren?
Möglich, denn der dunklen Seite wird durch B eine Grenze aufgezeigt, die das Überlegenheitsgefühl des W als das entlarvt, was es ist: Die Attrappe, hinter der sich der ganze Jammer verbirgt. Bruder W wird andere Strategien lernen müssen und das einfachste wäre da, E = W, der’s aller Welt dann zeigen wird, wenn er selbst in einer Gruppe integriert ist – und wären es rechte Vögel, die das ausführen, was antiintellektuelle Intellektuelle aushecken.

So viel oder wenig für heute, die völkerverbindende Kraft des Fußballs ruft!

Gruß & schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

Ähm ... ja.
Danke für Deine Post, Friedel, aber ich bin grade etwas abgespannt und kapier' das wohl besser nach meinem Urlaub, denn,
Hola!,
diese Nacht gehts nach Spanien für zwei Wochen!
Handy und Laptop bleiben stromlos, ich melde mich dann im November.
Adios, nastro.

 

Interessant, Dein Kammerspiel, Friedel ;)
So, aus dem Urlaub zurück und die „Russen“ überarbeitet.
Der Titel gefällt meinem Sohn – im Gegensatz zu einigen von Euch – ausgezeichnet. Blut ist dicker als Wasser und er versteht ja auch etwas davon - also hab ich den Titel so stehen lassen.
Ansonsten spricht Big Mac jetzt auf Anraten PSS etwas anders.
Friedrichard: ganz, ganz herzlichen Dank - die Faselfehler sind jetzt hoffentlich alle raus.

 

Hallo nastro

Es ist intensivere Bewegung und ein sich steigernder Spannungsbogen in der Geschichte, seit ich sie letztmals las. Dabei bin ich mir nicht sicher, wieweit sie Änderungen erfahren hat, doch es greift – zumindest bei mir. Ich las sie in einem Zug, ohne zu stocken, nur bei den russischen Namen das Tempo drosselnd. So flüssig hatte ich sie nun doch nicht in Erinnerung.

Gern nochmals gelesen, es hat sich gelohnt.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Ja, da will der Friedel denn mal seinem nastroazzurroiden Doktortitel nachkommen,

lieber nastroazzurro,

nix Weltbewegendes oder Belehrendes, denn warum soll man einem andern nicht erklären, was da passiert, wenn man’s halt kann - auch ohne Sprach- oder gar Germanistikstudium und auch keines Leeramts? Und schon geht’s los mit

Ein Paar mal hatte ich die Betriebe aufgesucht, …
Tatsächlich genau zwei (=Paar) Mal? Nee, ne?

Nicht dass ich doch den nie erstrebten Doktor herauskehre, aber „Paar“ ist Überbleibsel des Dual (den es in slawischen Sprachen, aber auch noch verkümmert im bairischen Dialekt gibt und er ist trotz der Zweizahl immer im Singular: das Paar ist / hat …, während „paar“ immer mehr als zwo ist und Plural: „Die paar Mal …“, selbst wenn das Zahlwort etwas anderes vorgaukelt: „ein paar Mal“ ist eine Variante über „einige [also: wenige] Male“.

Wer glaubt schon einem alten Assi.
„Assi“ ist bestenfalls Jugendsprache, und „eigentlich“ die Abkürzung für „Assistent(in)“. Wenn ich so den Icherzähler betrachte (genauer: belese) wird es kein Jugendlicher mehr sein und sonders jugendlich kommt er mir nicht vor (oder sollte er vor der Zeit gealtert sein?) Besser vllt. doch, wie schon einmal erwähnt, mit einem s von seiner Herkunft her. Aber vielleicht wäre der Icherzähler gerne wieder jung …, dann lege er sich Dylan's Version vomm Last Waltz der Band von For Ever Young auf ...

Ansonsten geht’s nur um zwo Kommas (was beim Umfang des mir jetzt etwas kürzer scheinenden Textes immer wieder vorkommen wird. Da kann keiner Fehlerfreiheit garantieren), und weitgehend kommentarlos nebst’n bissken Flüchtigkeit:

Wenn ich ehrlich bin[,] weiß ich nicht mal, ob es wirklich Russen sind -
… und deklamierten ständig „Mahlzeit!“.
Punkt weg! Das Ausrufezeichen markiert schon das Ende des Satzes.

In diesem Traum bringe ich Wassili keinen Wodka[,] sondern dieses Messer.

Den Text kann man übrigens auch ein drittes Mal lesen,

behauptet der Friedel,
der’n schönes Wochenende wünscht!

 

Hallo Friedel,

vielen Dank, die Fehler sind berichtigt.

„Assi“ ist bestenfalls Jugendsprache, und „eigentlich“ die Abkürzung für „Assistent(in)“.
Ist ne territoriale Geschichte. Bei uns in Sachsen war ein Asozialer 1980 ein "Assi" und ist es heute noch immer. Das würde niemand mit einem "s" denken oder sprechen und deshalb bleibt es so stehen.
Forever Young von Dylan? Nee, Assi ist so der Typ, der noch immer die alten Platten von Bettina Wegener, Manfred Krug und Gundermann hört.
Den Text kann man übrigens auch ein drittes Mal lesen ...
Und dafür danke ich Dir. Auch von meiner Seite her ein schönes WE an alle!

 

Hey Nastro,
ist die erste Geschichte, die ich von dir lese und muss sagen: Ich bin ziemlich baff. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit in deinen Sprachfluss hattest du mich komplett am Haken.
Was mir besonders gut gefällt: Die gegensätzliche Sprache, die du in den verschiedenen Erzählebenen verwendest. Ich hatte wirklich das Gefühl, zwischen einer grauen Ausweglosigkeit und einer hoffnunsvollen Alternativwelt hin- und hergeschleudert zu werden, starker Effekt. Das unfassbar triste Leben und die Situation werden fast schon im besten Bukowski-Stil schonunslos erzählt und dann bringst du den Leser tief in den alten Assi und das, was tief in ihm schlummert.
Und die Auflösung ist natürlich auch nicht von schlechten Eltern. Danke dafür!

 

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