Eine Null-Geschichte
Ich lief die Straße entlang, da kam sie mir entgegengestolpert. Dick und rund zog sie meine Aufmerksamkeit auf sich. Erstaunt über dieses merkwürdige Geschöpf, daß anscheinend niemand sonst in dieser trostlosen Stadt bemerkte, beschloß ich der Sache nachzugehen.
Sie lief also die Straße entlang und blieb ab und zu stehen. Scheinbar spontan ging sie hier und da in ein Haus hinein. Ich wartete natürlich draußen. Betrat die Null wieder die Straße, trug sie etwas in ihrem dicken Bauch. Bei genauerer Betrachtung entdeckte ich Eingeweide, die sie wohl aus den Häusern holte. Da waren Augen, die starr in ihren Rundungen lagen. Da waren Münder, sprachlos und stumm. Herzen, die müde kein Klopfen von sich gaben, und Mägen und Gedärme, die umgestülpt schienen.
All das trug diese Null nun mit sich die Straßen und engen Gassen hinauf. Sie wirkte sehr plump und trug schwer an ihrem Gewicht. Ab und an blieb sie verschnaufend stehen und legte dabei schützend die Hand auf den fetten Bauch.
Hier begann auch mir der Weg beschwerlich zu werden, doch meine Neugierde trieb mich weiter. Immer höher, bis über die Stadt führte uns der Weg. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Horizont in Gold- und Kupferfarben. Die Null lief immer weiter. Endlich blieb sie stehen. Wir hatten die Stadt weit hinter uns gelassen und befanden uns auf einer Anhöhe. Merkwürdig verwildert und doch märchenhaft wirkten die großen Bäume und Sträucher um uns. Ich versteckte mich hinter einem Fels, um nicht entdeckt zu werden. Die Null wendete sich nach rechts und links um sich zu vergewissern, ob jemand in der Nähe ist. Sie hatte mich noch nicht bemerkt. Dann schob sie einen Dornenbusch zur Seite und es öffnete sich ein schmaler Pfad, eigentlich zu schmal für den dicken Bauch der Null. Langsam ging sie den Weg entlang, hin und wieder ein Ächzen unter ihrer Last ausstoßend.
Wir kamen an eine Lichtung, auf der eine kleine Hütte stand. Verwundert blieb ich stehen. Eine Art Hexenhäuschen stand vor mir, umringt von steinalten Bäumen mit weit ausladenden Ästen. Die Null ging ins Haus. Ich schlich mich zum Fenster und spähte hinein.
Dort stand sie: die Arme im Kreuz, den dicken Bauch vorstreckend, verschnaufend. Dann begann sie ihre Habe säuberlich auf dem Tisch vor sich zu verteilen. Die Augen auf die eine Seite, die Münder auf die andere Seite und dazwischen die Herzen, Mägen und Gedärme.
Während sie so sortierte, begann ich mich in ihrem Häuschen umzuschauen. Ich entdeckte an der rechten Wand mehrere Regale mit ordentlich aufgereihten Schuhschachteln. Jede Schachtel trug einen Zettel mit einer Inschrift, die ich leider von meinem Standpunkt aus nicht lesen konnte. Ich drückte meine Nase platt an die Fensterscheibe, um mehr zu sehen. Da es schon recht dunkel war, zündete die Null ein Licht an und ich konnte nun mehr erkennen.
Neben alltäglichen Dingen, die so ein Häuschen in sich birgt, war da noch ein Regal auf der anderen Seite des Raumes. Gerade als ich es entdeckte, begab sich die Null dorthin, zog eines der vielen, dicken Bücher heraus und setzte sich damit an den Tisch. Sie nahm eine Feder und begann, sich Notizen zu machen. Ganz bedacht hob sie immer eins der Geweide auf, begutachtete es und schrieb etwas dazu auf. Dann packte sie es in einen bereitgestellten Schuhkarton, beschriftete diesen und legte ihn neben sich auf den Boden. Jetzt konnte ich erkennen, daß die Augen weinten, die Münder wimmerten, die Mägen sich erbrachen und die Gedärme sich wandten. Ein trauriger Anblick, und auch der Null schien es nahezugehen.
Nachdem sie ihre Arbeit gewissenhaft verrichtet hatte, wirkte sie sehr erschöpft. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus, gähnte herzhaft und schlief sofort ein. Für mich war es endlich an der Zeit, den Rückweg anzutreten, denn es war schon tiefe Nacht und der Weg sicher dunkel und unheimlich. Wie ich mich umwand zu gehen, trat ich auf einen Ast, der mit lautem Knall zerbrach. Erschrocken blickte ich ins Fenster, ob ich die Null geweckt hatte, doch sie schien tatsächlich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen zu sein und schnarchte sogar ein wenig.
Da kam mir der Gedanke, das Häuschen doch zu betreten und den Grund des Gesehenen herauszufinden.
Leise öffnete ich die Tür und trat ins Innere. Ein merkwürdiger Geruch umströmte mich, der mich erschauern ließ und unsagbar traurig machte. Er schien von den Schachteln auszugehen. Ich trat an das Regal mit den Kartons. Zum Glück schien der Mond jetzt sehr hell durchs Fenster, so daß ich die Inschriften lesen konnte. Es waren Namen. Männliche und weibliche Namen. Ich wagte, einen Karton herauszuziehen und hineinzublicken. Säuberlich auf Watte gebettet, blickte mich ein paar trauriger Augen an. Sie weinten und bei ihrem Anblick emp-fand ich keinen Ekel, sondern nur tiefe Traurigkeit und ein weh-mütiges Gefühl. Bevor ich laut zu schluchzen anfing, schloß ich schnell den Karton und stellte ihn an seinen Platz. Ich lief die Reihen weiter ab und las die Namen. Noch war ich mir nicht im Klaren darüber, was für einen Zweck diese Sammlung erfüllte. Plötzlich entdeckte ich einen Karton mit meinem Namen. Ich erschrak. Was mochte in ihm sein? Vorsichtig nahm ich die Schachtel, setzte mich auf den Boden und öffnete ihn.
Ich fand mein Herz. Lange schon hatte ich es vermißt, aber wie kam es hierher? Da lag es und klopfte zaghaft. Müde sah es aus und geschunden. Zart streichelte ich es,Tränen rannen mir die Wangen hinunter und tropften auf das Herz. Langsam erinnerte ich mich, wie es mir abhanden gekommen war. Ich hatte es verborgt auf unbestimmte Zeit, fast schon verschenkt, aber noch mit mir verbunden. Für kurze Zeit wurde es liebevoll umsorgt, doch plötzlich ohne Vorwarnung abgestoßen. Ich konnte nicht mehr verhindern, daß es getreten und zermalmt wurde. Es wurde weggeworfen und ich konnte es nicht mehr wiederfinden. Mit der Zeit verlor ich die Hoffnung es wiederzufinden und vergaß es sogar.
Hier nun lag es vor mir. Behutsam hob ich es aus der Schachtel, streichelte es noch einmal und schob es unter meine Jacke. Ein Gefühl der Erleichterung erfüllte mich.
Nun ging ich zu dem anderen Regal. Die Null schlief immer noch friedlich und kratzte sich am Bauch. Ich blickte auf die Bücher. Sie waren geordnet nach Jahreszahlen. Ich schlug eins auf aus dem Jahr als mir mein Herz abhanden kam. Ich lag richtig. Hier waren alle Namen noch einmal niedergeschrieben und nach Datum und Ursache des Verschwindens des Organs geordnet. Auch meinen Namen fand ich wieder. Dort stand als Grund der Entwendung: unbedachtes, voreiliges Verschenken. Bei anderen Namen stand ähnliches: übereilte Hingabe, getäuschtes Vertrauen, Unachtsamkeit und so weiter. Hinter jeder Auflistung war eine Rechnung aufgeführt. Diese Rechenaufgabe hatte immer das gleiche Ergebnis: Null.
Langsam dämmerte es mir. Dies waren alles gebrochene Herzen, enttäuschte Augen, gequälte Mägen und Gedärme. Alle wurden irgendwann geopfert für jemanden, den man liebte. Alle wurden enttäuscht und das Ergebniss der Investition war gleich Null.
Ich blickte zu der schlafenden Null hinüber. Dieses Geschöpf war also dazu verdammt, alle diese Traurigkeiten zu sammeln und zu archivieren. Ich drückte mein wiedergefundenes Herz fester an mich und ging langsam zur Tür. Leise zog ich sie hinter mir zu und ging schnellen Schrittes und mit Hoffnung im Herzen in die Dunkelheit, in Richtung der leuchtenden, lebendigen Stadt.