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Eine Prise Luft
Es war Anfang der fünfziger Jahre, als ich mit der Eisenbahn nach Paris fuhr. Damals arbeitete ich bei einem angesehenen Antiquitätenhändler. Ein guter Kunde hatte die Beschaffung einer Porzellanschale aus der Ming Dynastie in Auftrag gegeben. Diese Rarität schlummerte angeblich auf dem Pariser Flohmarkt, wo ein Freund sie zufällig aufgespürt hatte.
Obwohl ich eine exakte Beschreibung der Schale und den genauen Standort des Straßenhändlers bei mir trug, konnte ich den Kerl nicht sofort auftreiben. Mehrmals durchquerte ich den Flohmarkt, aber vergebens. Erst am späten Nachmittag traf ich meinen Schwarzhändler.
Während wir beide über den Preis der blauweißen Schale feilschten, bemerkte ich beiläufig auf der anderen Seite einen kleinen Mann der in der rechten Hand einen viel zu großen Regenschirm mit sich herumschleppte. Das Monstrum wirkte ziemlich dickbäuchig und drohte aufzuspringen, obwohl es unterhalb des Schaftes mit einer kräftigen Hanfschnurr fest zugebunden war. Doch was mir vor allem auffiel, war die nervöse Unruhe, die den Mann erfüllte. Fortwährend sah er um sich, beobachtete hektisch die Besucher, so, als befürchte er jeden Augenblick das plötzliche Anbrechen einer Gefahr.
Mein Händler hatte inzwischen bemerkt, dass ich abgelenkt war und erklärte mir:
„Das ist ein, marchand à la sauvette, Monsieur.“
Er erklärte mir, dass es ein fliegender Händler wäre, also ohne Genehmigung und nur den richtigen Moment abwartete, um seine Ware feilzubieten.
„Gendarmen, verstehen Sie“, fügte er mit grossen Augen hinzu.
Natürlich hatte ich das verstanden.
Auf einmal löste der kleine Mann die Hanfschnur auf und wie eine verwelkte Blüte platzte der Schirm auseinander. Kleine eigenartige Holzkästchen, ein wenig größer als eine Zündholzschachtel lagen zerstreut auf dem gespannten Tuch des Schirmes.
Nachdem wir uns über den Kaufpreis der Schale geeinigt hatten, nahm ich die in dickem Zeitungspapier eingewickelte Antiquität ab. Obwohl ich damit sofort ins Hotel zurückgehen wollte, verlockten mich die Neugierde und vor allem diese Kästchen, die dieser seltsame Mann anpries.
So wie ein Bürgermeister seine Schärpe in den Nationalfarben Frankreich stolz vorführt, baumelte um seinen Hals ein grob abgetrenntes schmales weißes Laken mit einer schwarzen Inschrift. Ich fragte meinen Händler, was die Inschrift wohl bedeuten könnte.
„Une bouffée d’air“, las er, „er verkauft … Luft … eine Prise Luft.“
„Luft?“, wiederholte ich, wobei ich grinsen musste.
Mein Händler aber schüttelte hierüber nur den Kopf, er war sichtlich zufrieden mit unserem Geschäft, sah auf seine billige Armbanduhr und beschloss für heute abzubrechen. In zwei gekonnten Handgriffen hatte er seinen einfachen Stand demontiert und wenig später verließ er mit seinem kleinen vierrädrigen Karren den Markt.
Ich stand nun vor dem aufgespannten Regenschirm und griff nach einer dieser kleinen Schatullen. Sie war aus Sperrholz gebastelt und hatte einen aufgesetzten Boden. Eine dunkle Beize sollte ihr ein gediegenes Aussehen verleihen. Klebriger billiger Siegellack an den Falze sollte sie luftundurchlässig machen. Im Deckel war grob der Namen einer Stadt eingeritzt. Biarritz, ich kannte diesen mondänen Badeort am Atlantik. Der Händler versuchte mir nun zu erklären, dass in diesem Kästchen Meeresluft aus dem Kurort eingefangen wäre. Dann zeigte er mir andere Kästchen mit anderen Namen.
Als ich den Händler nach einer Weile verließ und ein paar Francs ärmer war, führte ich in meiner rechten Hosentasche ein kleines Kästchen mit. Es trug die Inschrift Pékin. Warum ich gerade diese Schatulle mit der Inschrift Pekings den anderen bevorzugte, wusste ich nicht. War es vielleicht das ferne China und die damit verbundene Fremde was mich bewogen hatte, ich konnte es nur erahnen.
Fast zwanzig Jahre später befand ich mich eines Tages während einer Kulturreise durch China auf dem himmlischen Platz in Peking und hielt das Kätschen erneut in der Hand.
Meine junge chinesische Reiseleiterin beobachtete mich und wollte wissen, was in dem Kästchen wäre. Ich erzählte ihr die Geschichte. Sie lächelte unverständlich und fragte mich, ob ich daran glauben würde.
„Nein, selbstverständlich nicht“ antwortete ich Ihr, „ich wusste schon damals, dass in diesem Holzkästchen keine Luft aus eurer Stadt eingeschlossen wäre“.
„Aber wissen Sie,“ fragte ich Sie„ dass ein sehr aparter Duft in dieser Schatulle eingefangen ist?.“
Sie sah mich mit Stielaugen an und begann zu kichern, wie die jungen chinesischen Mädchen dies halt tun. Dann nahm Sie das Kästchen aus meiner Hand, hielt es vor ihre Stupsnase, schnupperte daran und fragte vergnüglich:
„Paris?“
Ich nickte und sie geriet ins Schwärmen.