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Eine Prise Salz
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Gestern Nacht wachte ich auf, um einen jungen Herrn auf meiner Fensterbank zu finden. Er hockte einfach dort, vor dem Fenster – zu seinem Glück ist meine Fensterbank breit und nicht weit davon steht eine Linde, an der er sich im Zweifel hätte abstützen können. Das tat er jedoch nicht, er hockte einfach auf meiner Fensterbank, den Rücken zum Baum, und sah in mein Fenster hinein.
Ein Blick auf meinen Wecker bestätigte meine Vermutung, es war mitten in der Nacht, drei Uhr genau, und ich kam mit mir überein, daß ich noch träumte. Ein sanftes Klopfen kam vom Fenster her, als sei er untröstlich, mich aus meinen Gedanken zu reißen, aber es sei nun leider dringend. Langsam wandte ich den Kopf zurück in Richtung der Erscheinung meines Traums. Ein Seufzer entrang sich mir, sie saß tatsächlich noch immer da. Ich rieb mir die Augen, aber auch das half nicht, der Mann saß da draußen auf meiner Fensterbank und sah hinein. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Zwar fiel das Licht der Straßenlaterne in mein Zimmer und tauchte alles in mildes Grau, aber das enthüllte nur, daß es sich bei der Gestalt um einen Mann handeln mußte, und daß er einen Mantel trug. Das konnte ich ihm nicht verdenken, es war fürchterlich kalt, und November hin oder her, es hatte schon geschneit.
Der Mann vor meinem Fenster schien sein Gewicht zu verlagern und ich meinte, ein Seufzen zu vernehmen. „Tschuldigung!“ murmelte ich, und dann, als könnte er mich durch das Doppelglas hören, „Einen Moment!“ Ich warf meinen Bademantel über, den ich beim Schlafengehen auf meinem Bettpfosten drapiert hatte, und ging zum Fenster. Zwischendurch kam mir der Gedanke, man sollte nicht jedem hergelaufenen Fremden Tür und Tor öffnen, und ich knipste das Schreibtischlicht an. Er hielt geblendet die Hand über die Augen. Ich meinerseits blieb vor dem Fenster stehen und musterte ihn genauer. Er war blond, nahm ich an, wegen des Drecks ließ es sich nicht mit Sicherheit sagen, und er trug einen vermutlich ehemals weißen Flusenfellmantel, dem an den Ärmeln das Futter herausquoll. Darunter sah ich etwas mintgrünes, wie ein Tuch, vielleicht sogar eine Krawatte, herausragen. Er fror, jedenfalls bibberte er sichtbar.
Strenggenommen bibberte er nicht nur, fiel mir auf, er zitterte wie Espenlaub. Er sah aus, als habe er es nur mit äußerster Not noch auf eine Fensterbank im ersten Stock geschafft. Vielleicht traf er mit seiner Bibberei meine mütterliche Ader, vielleicht war ich bloß noch zu müde, um mißtrauisch zu sein, jedenfalls brachte ich es nicht über mich, ihn abzuweisen. Ich faßte mir also ein Herz und öffnete das Fenster
„Dankeschön.“ sagte er. „Ich glaube, ich bin vom Weg abgekommen.“
Ich nickte zustimmend. „Sieht so aus. Tee?“
Jetzt nickte er und lächelte sogar ein bißchen. Er hatte kleine scharfe Zähne, wie ein Füchslein vielleicht, oder ein Wiesel. „Darf ich reinkommen?“ fragte er.
„Ich bitte darum! Sonst ist mein Zimmer gleich so kalt wie die Straße.“ Dann wandte ich mich zur Küche, um Tee zu kochen. „Irgendwelche Präferenzen?“ fragte ich, zu voreilig, stellte ich dann fest, ich hatte nur noch Pfefferminz. Er war in der Mitte meines Zimmers stehen geblieben, die Hände in die Manteltaschen gesteckt, und schüttelte den Kopf.
„Na dann!“ sagte ich munter, mehr für mich als für ihn.
Er war blaß und seine Wangen waren gerötet. Offenbar war er jung und wirklich, er hatte Schlamm oder etwas ähnliches in den Haaren, ein bißchen auch über den rechten Wangenknochen verteilt. Daß er mir trotzdem nicht vorkam wie ein alkoholisierter Berber, schob ich auf den Umstand, daß er so jung aussah. Ein gestrandeter Straßenpoet, schoß mir in einem Anflug von Pathos durch den Kopf.
Einige Augenblicke später saßen wir einander gegenüber an meinem Küchentisch, beide die Hände um die heißen Tassen gelegt, und pusteten in den Tee.
„Also.“ machte ich schließlich den Anfang, da er offenbar von sich aus nichts sagen mochte. „Und wie kommst du auf meine Fensterbank?“
Er schüttelte wieder den Kopf, und aus seinen Haaren rieselten Bröckchen auf den Tisch, Erde, oder trockener Schlamm. „Ich weiß nicht, ich nehme an, ich wollte einfach dahin.“
„Ach ja.“ sagte ich. „Dann anders: Was machst du hier?“
„Ich bin vom Weg abgekommen…“ begann er, hielt dann allerdings inne und starrte in seinen Tee.
Ich stellte fest, daß ich mit den Fingern an den Tassenrand klopfte. „Ja, das hast du schon gesagt. Wo wolltest du denn hin?“ Etwas verwundert über meine Ungeduld mit der Zeit, die er sich für jede seiner kurzen Antworten ließ, rieb ich mir die Stirn und bemühte ein Lächeln.
„Zum Fest.“ beschloß er endlich.
Ich atmete auf. „Na, das ist doch kein Problem. Weißt du, wie der Laden heißt? Oder ist es in ner Kneipe?“
„Äh.“ machte er. „Eigentlich nicht.“
„Ja, aber du mußt doch wissen, wo deine Feier läuft! Man geht doch nicht völlig planlos los!“
„Sie hat gesagt, die Straße runter und das dreizehnte Haus zur Linken.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstand. „Hausnummer 25, ja?“ Es schien hoffnungslos: er zuckte mit den Schultern.
„Dies hier ist Hausnummer 23, also bist du nicht allzu weit ab vom Weg.“
Er hob seinen Blick aus der Teetasse und sah mir in die Augen. Er hatte graue Augen, aber sonderbar, mit kleinen Funken, honigbraun, fast orange, dicht um die Pupille. Sie näher zu bestimmen, mißlang, stattdessen begannen sie zu verschwimmen und um das schwarze Loch der Pupille herumzuflirren. Ich machte schnell die Augen zu und schüttelte den Kopf.
„Also.“ brachte ich dann heraus. „Wie gesagt, weit ist es nicht. Einfach aus dem Haus raus und nach rechts.“
Er hatte sich wieder seinem Tee zugewandt und nickte stumm. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, vielleicht war es nur sein Schweigen und mein Drang, das Schweigen füllen zu müssen, wenn er es schon nicht hinbekam, jedenfalls seufzte ich, bevor ich nachdenken konnte: „Alles klar, ich zeig es dir. Laß mich nur noch was Wärmeres anziehen.“
Wir traten in den Hausflur, wo ich feststellte, daß das Licht einmal mehr nicht funktionierte, und daß er trotzdem weit vor mir am Treppenabsatz angelangt war. Er blieb stehen und sah sich nach mir um. Ich griff an ihm vorbei die Klinke und öffnete die Haustür. Ich schlotterte schon beim ersten Windzug. Er zog seinen Mantel fester um sich, trat an mir vorbei auf die Straße und schaute um sich. Dann erst schien er sich an mich zu erinnern. Er drehte sich um. „Dankeschön.“ sagte er wieder.
„Ja ja“, machte ich unwirsch. „Los jetzt!“
Ich trat auf das Haus zu, von dem ich annahm, es müßte die Nummer 25 haben, nur um festzustellen, daß es Hausnummer 27 hatte. Unübersehbar plaziert neben der Haustür und beleuchtet von einer kleinen Lampe.
„Sonderbar.“ sagte ich. „Mhm, wahrscheinlich doch auf der anderen Seite, versteh einer das Bauamt.“ Ich wandte mich zu ihm um. „13. Haus kann nicht zufällig doch einfach dieses hier meinen?“
Er war auf der Straße zurückgeblieben, jetzt murmelte er: „Nein, wenn du sagst, daß da ein Haus fehlt, habe ich vielleicht…“
„Ich habe nicht gesagt, daß ein Haus fehlt, ich meinte die Nummer.“
Aber er fuhr fort: “Sie sagte, zur Linken. Die andere Straßenseite kann es nicht sein.“
„Das ist ja schön und gut!“ stellte ich fest, „Aber ich sehe hier nun mal keine Nr. 25, du etwa?“
Immerhin schüttelte er den Kopf, gehört hatte er mich also.
„Vielleicht…“ murmelte er, und ich mußte mich anstrengen, ihn zu verstehen, so leise sprach er.
Ich klopfte mit dem rechten Fuß auf den Asphalt. Seine Unentschlossenheit machte mich verrückt. „Ja was nun?“
Er holte Luft, sah dann auf und streckte die Hände aus. „Vielleicht habe ich was vergessen…“
Es war eiskalt, stellte ich zu meinem Mißfallen fest. Meine Knöchel stachen weiß aus der rissigen Haut meiner Hände, als ich nach einer Zigarette grabbelte und das Feuer auf sie eröffnete. Ich stieß den Qualm aus und gestikulierte mit der Zigarette in Richtung der Hausnummer 27. Als könnte er etwas für die Kälte und meinen Ärger über mich selbst, ihm unbedingt mitten in der Nacht helfen zu wollen, fauchte ich ihn an: „Du hast was vergessen? Na hör mal, was denn nun noch! Entweder, es ist auf der anderen Straßenseite, oder hier gibt es verdammt noch mal keine Nummer 25, weiß der Teufel, warum!“
„Wahrscheinlich.“ murmelte er, die Hände in seinen Manteltaschen und den Blick auf seine Füße gerichtet.
Ich war eine Haaresbreite entfernt davon, mit hochrotem Kopf aufzustampfen und ihn anzubrüllen. Einzig meine Höflichkeit gegenüber Leuten, die ich nicht ausreichend kenne, hielt mich davon ab. Ein leises Knurren jedoch konnte ich mir nicht verkneifen, als ich auf die andere Seite der Straße stapfte, um die Häuser zu untersuchen, ob nicht vielleicht doch irgendein Wirrkopf bei der Anbringung der Nummern geholfen und hier die 25 plaziert hatte.
In meinen Rücken hinein rief er: „Selbst wenn dort eine Nummer 25 wäre, die kann es nicht sein!“
Er hatte eine dunkle Stimme, jetzt, wo er einmal etwas lauter sprach als Blätterrauschen im Wind. Aber das bewahrte ihn nicht länger vor meinem Groll. Ich hatte die Schnauze voll, hier war gar nichts mehr richtig. Hier fehlten plötzlich Häuser, wo mir nie Merkwürdigkeiten aufgefallen waren, das Ziel meines nächtlich übertölpelten Helferkomplexes war offenbar verwirrt im Kopf, und zu allem Elend war ich es vermutlich mittlerweile auch. Außerdem war mir sterbenskalt: „Ach Mann, dann such deine beschissene Nummer doch alleine! Du bist ja blöd, wenn du denkst, ich mach mich für irgendwen dahergelaufenes zum Affen, bloß weil er meint, mich um drei Uhr nachts belästigen zu müssen, indem er sich auf meiner gottverdammten Fensterbank häuslich einrichtet!“
Schließlich hielt ich nur inne, damit ich ihn bei meiner Tirade funkensprühend ansehen konnte. Ich fuhr also herum, öffnete erneut den Mund und prallte zurück, als er vor mir stand und mich müde ansah.
Bevor ich mich sortiert hatte, griff er die Zigarette aus meiner Hand, steckte sie in den Mundwinkel und begann, meine verfrorenen Hände zu massieren. Mir blieb naturgemäß die Spucke weg. Obwohl er vorhin ausgesehen hatte, wie ein lebender Frostköttel, und für drei gezittert, waren seine Hände warm und meine begannen innerhalb von ein paar Sekunden zu prickeln, als warmes Blut in meine Adern zurückkehrte.
Schließlich gab er mir die Zigarette zurück. „Ich hatte etwas vergessen, das sie mir gesagt hat, tut mir leid, ich bin…“ Er blickte kurz über seine Schulter, als suche er etwas, dann sah er wieder meine Hände an. „Nicht ganz da, wo ich jetzt sein sollte.“
Wäre ich nicht noch immer so verwirrt gewesen, hätte ich bei diesen Worten vermutlich gelacht. Er trat auf die Mitte der Straße.
Wo blieben eigentlich all die Autos? dachte ich. Meine ist eine kleine Straße, aber was man sagt, ist nur allzu wahr: die Stadt schläft nicht.
Er sah nach links, dann nach rechts, griff in seine Manteltasche und holte ein Beutelchen heraus. Eine Prise von etwas aus dem kleinen Beutel nahm er zwischen Zeigefinger und Daumen und warf sie über die linke Schulter. „Komm her.“ sagte er, fast wach.
„Wieso?“ sagte ich. „Wenn du jetzt wieder weißt, was zu tun ist, dann kann ich doch zurück in mein Bett.“ Ich sah mich um. Alles war leer, nicht ein Licht brannte, abgesehen von meinem, das ich vergessen hatte ausmachen, als wir die Wohnung verlassen hatten. Ich hielt inne.
„He!“ rief ich. „Heute ist Hellowe’en. Sollte nicht alles hier voller feiernder Leute sein? Nur eineinhalb Straßen weiter ist die Saufmeile, wieso ist hier keine Menschenseele-“
„Komm her.“ sagte er, dieses Mal bestimmt. „und beeil dich!“ Ich tat es. Er drückte mir etwas in die Hand, das aussah wie Zucker, oder vielleicht Salz. „Über deine linke Schulter, und nicht zurückschauen!“ wies er mich an. „Wozu brauchen wir Schutz, deine Party-“ Seine merkwürdigen Augen fixierten mich. „Es ist wichtig!“
Ich warf die Prise Salz über meine Schulter.
„Hier, nimm meine Hand, wir müssen uns dreimal gegen den Uhrzeigersinn drehen.“
Die Tatsache, daß just Allerheiligen war, tröstete mich etwas darüber hinweg, daß ich einfach tat, wie mir geheißen, seine Hand griff und mich mit ihm zusammen – wenn auch etwas schief – drei Male gegen den Uhrzeigersinn drehte. Nach der dritten Drehung wandten wir uns um, und zwischen der Nummer 23 und der Nummer 27 stand ein winziges Häuschen, altrosa gestrichen mit über die Jahre blättriger Farbe, und voller Efeu. Ich sagte nichts mehr. Er ließ meine Hand los.
„Da ist es! Sie hatte recht!“ Er hatte ein Lächeln im Gesicht, und bei näherer Betrachtung stellte ich fest, daß er insgesamt recht strahlend aussah. Selbst der Dreck in seinem Haar und die staubige mintgrüne Krawatte, denn es war tatsächlich eine Krawatte, taten dem keinen Abbruch.
Er lachte und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. „Ich bin zu Hause!“ rief er aus. „Ich bin wieder zu Hause!“
Erst jetzt fielen mir die beiden Fuchsohren zwischen seinem wirren Haar auf, herbstrot mit feinen hellen Spitzen wuchsen sie aus seinem Kopf und gehörten ohne jeden Zweifel dorthin. Er drehte sich zu mir um. „Hinter dem Gartentor auf der anderen Seite des Hauses liegt das Land des Sommerzwielichts!“
„Klar.“ brachte ich heraus, nicht so abgeklärt, wie ich gewollt hatte. „Und jetzt?“
„Jetzt gehe ich nach Hause und feiere mit meiner Familie. Ich war lange weg.“ Er sah auf seine Schuhe, dann sah er mich an. „Ich stehe in deiner Schuld. Deshalb kennst du nun den Weg.“ Er wartete. „Komm an Lichtmeß, da sind die Schleier wieder dünn. Ich werde hinter dem Tor warten.“ Sprachs und schritt festen Schritts auf die Tür des Häuschens zu, öffnete sie und verschwand im Inneren.
Als ich einige Zeit später nach Hause kam, trank ich den Rest des mittlerweile kalten Pfefferminztees, spülte die Tassen ab, wischte den trockenen Schlamm, der auf den Küchentisch gerieselt war, weg und stellte endlich bei einem Blick zum Fenster hin fest, daß ich die ganze Zeit über den Mund nicht zu bekam.
In der Tasse, die er mir hinterlassen hatte, lag ein kleiner Zahn, spitz, wie das Zähnchen eines Fuchses. Ein Loch wie für eine Schnur war drin. Ein einzelner Zahn, ein Milchzahn, ein Schmuck oder ein Schutz.