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Eine Stunde und sieben Minuten
Sanna schrieb.
Sie schrieb, ohne über ihren gestrigen Streit mit Tom nachzudenken. Bei dem, was sie ihm alles an den Kopf geworfen hatte, müsste sie jetzt eigentlich vor seiner zugeschneiten Tür stehen und bibbernd vor Kälte darauf warten, dass er sie öffnete. Und obwohl Sanna wusste, dass Tom der Anblick seiner frierenden Freundin nicht lange behagen würde, befand sie sich nicht im Schneetreiben außerhalb des Hauses. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Sache, in der sie nicht etwa erklären musste, warum sie es so und nicht anders tat.
In dieser speziellen Sache war sie der Boss und diese Tatsache, dass allein sie über alles darin entscheiden durfte, war wohl der Grund dafür, dass sie sich gerade an keinem anderen Ort, ausgeschlossen vielleicht in Toms Armen, wohler fühlen konnte.
Es würde jetzt schwierig für andere Sachen sein, einen Weg in ihre Gedanken zu finden, in denen gerade die Hölle los war, und alle möglichen Dinge wie Fliegen umher flogen. Einige würden vielleicht nur Eintagsfliegen sein und Sanna würde sich morgen schon über sie an den Kopf greifen, doch es lohnte sich, sie wenigstens einmal aufzuschreiben.
Aber obwohl sie davon überzeugt war, dass sie ihre volle Konzentration auf den Bildschirm des Computers richtete, sickerte ein bisschen von dem schlechten Gewissen in ihr hoch, das sie seit gestern Abend nicht in Ruhe ließ.
Manchmal konnte man nicht alles allein tun, sagte sie sich immer wieder, um dieses miese Gefühl abzuschütteln. Doch würde ihr Gedanke vielleicht auch für die Angelegenheit zwischen Tom und ihr gelten und sie müsste sich zumindest heute noch nicht den Hintern in der Kälte draußen abfrieren und an Toms Tür klopfen. Sanna wusste, dass es etwas egoistisch klang, doch sie hatte die Sicherheit in ihrem Hinterkopf, dass Tom irgendwann sowieso hier erscheinen würde, vor ihrer Tür. Dann würden sie noch genügend Zeit haben zu reden und Sanna hätte die Gelegenheit, sich für ihre Worte zu entschuldigen.
Sie öffnete ein Fenster, in der Hoffnung, ihr schlechtes Gewissen wegen Tom möge herausfliegen und sich mit der eiskalten Luft draußen vermischen, doch es dauerte nicht lange, bis sie kalte Füße und Hände bekam und es wieder schloss. Sannas schlechtes Gefühl blieb. Dreimal in der nächsten halben Stunde erhaschte sie sich dabei, wie sie verstohlen durch das Fensterglas blickte. Tom würde bestimmt kommen. Aber wann?
Nein, Schluss jetzt. Das hier war nicht irgendein Scherz, ihre Geschichte war eine ernste Sache, die nicht einmal ihr Freund unterbrechen konnte.
Doch wie er das konnte. Obwohl Sanna tatsächlich mehr als drei Stunden vor ihrer Schreibarbeit saß, kam nicht viel mehr dabei heraus als eine halbe Seite, die sie so gar nicht zufrieden stellen wollte. Jedes Mal waren ihre Gedanken aufs Neue abgeschweift, sie hatte nichts dagegen tun können; beinah war sie wütend auf sich selbst, weil sie sich nicht unter Kontrolle halten konnte. Einer dieser hartnäckigen Denkfetzen wollte sie überhaupt nicht in Ruhe lassen.
Ruf ihn doch an.
Aber dann gab es wieder diesen einen Teil in ihr, der zu stur war, selbst die Initiative zu ergreifen.
Manchmal kannst du nicht alles allein tun.
Da war er wieder. Dieser eine Satz, der ihr so selbstgerecht vorkam. Was sollte sie denn nun tun? Ihre Augen streiften das Bild von Tom, das eingerahmt auf ihrem Nachttisch stand; das verschmitzte Lächeln um seine Mundwinkel schien Sanna geradezu anzuflehen, dass sie ihn anrufen sollte.
Nach einer kurzen Bedenkpause überwand sie ihr Widerstreben, ging aus ihrem Zimmer heraus und nach unten in den Korridor.
Mit warmen Händen und immer noch nicht sicher, dass es das Richtige war, was sie tat, nahm sie das Telefon und wählte Toms Nummer. Die nächsten Sekunden, in denen nur die Töne des Freizeichens zu hören waren, bedeuteten für sie nur noch mehr Anspannung, als sie sie schon innerhalb der letzten Stunden hatte durchmachen müssen.
Sannas Aufregung wuchs, als endlich jemand den Hörer abnahm.
„Ja.“
Obwohl die Stimme mürrisch und so gar nicht nach Tom klingen wollte, wusste sie, dass er es war.
Ihre Stimme zitterte, das war vielleicht der Grund ihrer leisen Worte.
„Tom? Ich bin´ s.“
„Was? Ich kann Sie nur sehr schlecht verstehen“, erwiderte Tom gelangweilt.
„Tom, du weißt genau, wer ich bin.“
Und da sie für ihren Geschmack etwas zu aufbrausend gesprochen hatte, fügte sie hinzu: „O-oder?“
„Ja, natürlich, Sanna. Du rufst mich also an, um unseren Streit zu beheben?“
Er drückte sich äußerst seltsam aus und Sanna hatte die Eingebung, dass er jeden Moment anfangen würde zu schreien.
„J-ja“, ihr Rumgestottere raubte ihr den letzten Nerv. Sie bereute es später, aber sie wusste wirklich nichts weiter dazu zu sagen, als über alle Maßen angespannt auf Toms Antwort zu warten, die hoffentlich gleich durch den Hörer dringen würde.
„Und du glaubst, das alles wäre mit einem tollen Anruf deinerseits vergessen?“
Sanna wollte „Nein“ sagen, so laut, dass Tom die Ohren abfielen, doch hielt sie den Mund, wie ein stummer Fisch, nicht fähig, irgendwie auf Toms komische Art zu reagieren. Doch was war an seinem Verhalten schon so komisch? Sie war doch daran schuld, sie hatte ihn beschimpft und damit den ganzen Krach ins Rollen gebracht. Und sie hatte seine Gutmütigkeit ausnutzen wollen, nun, da ihr klar geworden war, dass sie sich doch lieber auf eine frostige Treppenstufe vor Toms Haus hätte setzen sollen. Sie hätte es tun müssen.
„Sanna? Bist du noch dran?“ Und er klang fast wie der Tom, den sie kannte. Wahrscheinlich brachte sie deswegen kein Wort heraus. Ihre Zunge lag wie Blei in ihrem Mund, obwohl ihr Verstand Tom antworten wollte. Wie schnell konnte ein Herz schlagen? Konnte es wirklich einen Brustkorb entzweibrechen, wie sie es schon einmal in ihrer Geschichte geschrieben hatte?
Antworte ihm! Na los!
Doch noch während sie das dachte, hörte sie wieder das Freizeichen an ihrem Ohr.
Er hat aufgelegt. Verstehst du, was das bedeutet?
Er hat die Nase voll von mir und meiner spitzen Zunge. Wir haben uns wirklich noch nie so gestritten, deshalb verstehe ich nicht, warum das alles passiert.
Mit einem Mal traten Tränen in ihre Augen, denn sie musste wieder an gestern denken. Sie grübelte und grübelte. Jedoch nicht über die Geschichte, die sie eigentlich hatte schreiben wollen.
Doch würde sich etwas ändern, wenn sie Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken bekam? Würden sie den Streit zwischen Tom und ihr rückgängig machen?
Deprimiert legte sie den Kopf in ihre Arme und ging noch einmal jede Einzelheit ihrer gestrigen Diskussion durch, jede noch so forsche Bemerkung ihrerseits und Toms Worte, die sie beruhigen sollten.
Gestern hatte Sanna sich fast die Augen ausgeweint, weil Tom nun endgültig entschieden hatte, dass er die freie Arbeitsstelle in der weit entfernten Stadt antreten würde. In den letzten Wochen hatten sie beide über nichts anderes gesprochen. Immer wieder waren sie Für- und Gegenmeinungen durchgegangen, doch was zählten diese Wochen jetzt noch, in denen sie sich vorgenommen hatten, wie vernünftige erwachsene Menschen über die Sache zu diskutieren?
Sanna wollte keine Fernbeziehung und hatte sich stets eingebildet, dass Tom es auch so sah.
Hatte sie es sich wirklich nur eingebildet?
Scheinbar ja, denn sonst stünde Tom wahrscheinlich schon lange vor ihrer Tür.
Vielleicht machte es ihm tatsächlich nichts aus, seine Freundin alleine zu lassen.
Seiner Meinung nach würde schon alles so kommen, dass es für sie beide erträglich wäre. Doch Erträgliches war ihr nicht genug.
Und wenn er das einmal verstanden hätte, dachte Sanna, dann hätten wir uns gestern nicht streiten müssen.
Sie beschloss, erst einmal draußen frische Luft zu schnappen. Vielleicht würde ihr der Gang durch den Wald unter den gewohnten dunklen Kiefern, die sich unter der Last des Schnees bogen, zumindest etwas Erleichterung verschaffen.
Tom schien allgegenwärtig. Hinter jeder Ecke, um die sie bog, wurde sie die aberwitzige Hoffnung nicht los, dass er jeden Augenblick vor ihr stehen würde. Jedoch blieb der Weg der einsame, dem Sanna schon so viele Jahre täglich zur Schule folgte, sie kannte jede Abzweigung im Schlaf.
Der Schnee hatte sich hartnäckig in allen Ecken festgesetzt, nicht einmal der Wind fand scheinbar noch Geschmack daran, ihn von den Bäumen zu pusten. Kleine Kristalle blitzten vor ihren Augen auf, sie tanzten unablässig und standen doch still; früher hatte Sanna oft mit ihren Freundinnen versucht, alle Kristalle zu zählen, dabei waren sie nie zu einem brauchbaren Ergebnis gekommen. Es war, als würde man sich der Herausforderung stellen, alle Sterne am Himmel in eine Zahl zu fassen, und jedes Mal, wenn man nach einem Zwischenergebnis erneut in den Himmel starrte, neue Leuchtpunkte finden, die sich unbemerkt hinzu geschlichen hatten.
Ihre Hände froren, sie hatte vergessen, Handschuhe mitzunehmen. Sie musste an Tom denken, der ihr in der Kälte stets über die Hände blies, wie dann sein warmer Atem ihre Haut bedeckte.
Fast hätte Sanna einen Seufzer ausgestoßen, wenn ihr das nicht zu selbstmitleidig erschienen wäre, doch wurde sie abgelenkt, denn die Bäume taten sich jetzt auf und schienen eine Schneise zu bilden, an deren Ende sich etwas Undefinierbares, Glänzendes befand.
Sanna wusste natürlich, dass gleich der atemberaubende Blick über den See ihre Sorgen vergessen machen würde, doch war es immer wieder etwas Anderes, Neues, wenn er nach einem so kalten Winter wie diesem zugefroren war.
Als keine Bäume mehr zu ihren Seiten standen und sie sich im gleißenden Sonnenlicht am mäßig abfallenden Ufer des größten Sees Norwegens befand, wurden ihre Augen so stark von dem Eis geblendet, dass sie sie abschirmte. Und da, plötzlich, sah sie ihn.
In seinem blauen Anorak war er leicht vom Eis zu unterscheiden. Wie konnte Tom nur so wagemutig sein, aufs Eis zu gehen, gerade in dieser Zeit, da die Frühlingssonne das Eis allmählich zum Schmelzen brachte?
Einige Herzschläge lang versuchte sogar ein inneres Gefühl sie davon zu überzeugen, dass Tom wegen ihr mitten auf dem See stand. Vielleicht hatte er zu ihr nach Hause laufen wollen, weil er es selbst nicht mehr ausgehalten hatte?
Doch dann bemerkte sie zum ersten Mal, dass er scheinbar etwas rief. Sein Mund war weit offen, doch der starke Wind, der die ganze Szenerie wiederum vor Sannas Augen zum Flimmern brachte, trug Toms Stimme weit fort von hier, nur nicht zu ihr. Er schien zu sehen, dass sie ihn nicht verstand, und deutete mit seinem Arm auf eine Gestalt weit links von ihm, die Sanna bisher nicht beachtet hatte.
Das kleine Mädchen war kaum mehr als ein winziger Funke auf dem Eis, sie sah so verloren aus inmitten der blank spiegelnden Fläche unter ihr. Sanna erkannte nur an dem hellroten Mantel, den das Mädchen trug, dass es allem Anschein nach auf dem Eis kniete. Doch dann traf es Sanna wie ein Blitz-
„TOM! ICH KOMME!“
Sie brüllte beinah, obwohl sie wusste, dass das allein dem Mädchen nichts bringen würde.
Ihre Ohren wurden taub für jedes Geräusch, ihre Augen anderer Empfindungen fremd, sie sah tatsächlich nur die Eisfläche vor sich – und den kleinen roten Punkt, der unerreichbar schien. Sie kümmerte sich nicht einmal darum, ob das Eis sie trug, doch auch sie in ihrer Hast bemerkte die Wasserspritzer, die aus den immer größer werdenden Pfützen unablässig an ihre Beine gelangten, je schneller sie rannte.
Zum ersten Mal rannte sie ums Leben, jedoch nicht um ihr eigenes.
Ich schaff es nicht, versuchte ihr eine Stimme einzureden.
Doch! Du musst nur schneller rennen!
Ihr Seitenstechen, die Tatsache, dass sie keine Luft mehr bekam, das alles war überhaupt nicht wichtig. Wenn sie nur rechtzeitig das Mädchen erreichte.
Tatsächlich weiteten sich Sannas Augen, eine kleine Ahnung von Hoffnung und Glück, als sie Tom erblickten, der ihr entgegenkam.
„Wir müssen uns beeilen!“, war das Einzige, was er schrie, seine Stirn glänzte von Schweißtropfen, die sein ganzes Gesicht herab liefen. Er riss seine Jacke auf und schmiss sie zur Seite, um wenigstens etwas seiner Last loszuwerden.
Sanna war hierher gerannt, hatte unter Anstrengung gekeucht, doch nicht daran gedacht, was sie tun würde, wenn sie hier angekommen war. Die hellen Angstschreie des Mädchens echoten in ihrem Kopf zehnmal lauter und sie konnte ihre Augen zuerst nicht von der kleinen Gestalt abbringen, die sich verzweifelt mit letzter Kraft am Eisrand festklammerte. Immer wieder rutschten die Finger des kleinen Mädchens mit dem roten Mantel von der glatten Oberfläche, ihre Füße, die wehrlos im eiskalten Wasser strampeln mussten, waren nicht zu hören. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu weinen. Keine Träne konnte die Schmerzen und die Todesangst ausdrücken, die sie gerade durchstand.
Tom versuchte, beruhigend auf sie einzureden, ihre Hand zu fassen zu bekommen, doch war das Eis um das Mädchen herum so dünn, dass er fast selbst eingebrochen wäre, wenn Sanna, die endlich wieder zu Aktionen fähig war, ihn nicht vom Loch weggezogen hätte.
Dann geschah das, was Sanna so sehr gefürchtet hatte. Das Schreien des Mädchens brach abrupt ab, tatsächlich zeigte nur noch die Bewegung des Wassers, das etwas nicht in Ordnung war.
„Nein! Sie ist untergegangen, was – was machen wir jetzt?“, schrie Sanna hysterisch, ihre Gefühle brachen sich plötzlich ihre Bahn aus ihrem Körper heraus.
„Wir schaffen es nicht mehr, - nicht mehr, wir“, weinte sie ohne Unterlass, sie schämte sich selbst dafür.
„Wir schaffen es!“
Tom hielt kurz ihre Hand, seine Wärme gab Sanna Hoffnung. Sie weinte immer noch, Tom hatte sich merkwürdig gut unter Kontrolle, doch dann zog er etwas aus dem Wasser. Es war ein kleiner Zopf, niedlich von einem roten Schleifenband zusammengehalten. Das Eis musste ihn dem Mädchen abgeschnitten haben, als sie endgültig unter Wasser verschwand.
Sanna hatte für einen Moment nur dieses Zöpfchen im Kopf, wie erstarrt war sie, ohne Plan. Wohl im Kopf, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie das Mädchen retten wollten.
„Los, Sanna, ich höre sie“, rief Tom mit leuchtenden Augen und riss den Zopf Sanna aus der Hand, die ihn liebevoll gestreichelt hatte. Sie war in einem Schockzustand, das wusste er genau, doch sein „Reiß dich zusammen“ schien sie wenigstens etwas normaler werden zu lassen.
Hilflos glitt Toms Blick über die Wüste aus Eis um sie herum, er zitterte vor Aufregung.
Vielleicht schafft es das Mädchen nicht mehr, schlich sich wieder diese herzlose Stimme in Sannas Bewusstsein. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass man das Loch, das man einmal ins Eis gebrochen hatte, nicht mehr wieder fand, wenn man unter Wasser war.
Erfrieren würde man, ganz bitter erfrieren.
Doch Sanna würde das nicht zulassen.
„Gib mir den Zopf, schnell!“, haute sie Tom an, und wenig später war sie unter seinen verblüfften Blicken dabei, den Zopf mit den roten Schleifchen über das Eis zu bewegen. Sie schleifte ihn durch die Wasserlachen, die sich über der dünnen Eisfläche gebildet hatten, mit der einzigen Hoffnung, die sie noch hatte.
Das Schlimmste dabei war, dass sie das Mädchen genau unter sich im Wasser sah, inmitten einer alles umhüllenden Dunkelheit, dem kalten Wasser, das ihr Stiche am ganzen Körper versetzen musste. Wundersamerweise ging Sannas Plan auf. Das Mädchen sah den Zopf über dem Eis und folgte grob seiner Richtung, Sanna bewunderte sie für ihre Kraft und ihren Mut, den ihre Schreie noch nicht ganz aus ihr herausgebracht hatten.
„Sie kommt dem Loch näher“, schrie Tom mit Tränen in den Augen, er versuchte, so nahe wie möglich das Loch zu erreichen.
Schreckenssekunden, die ein ganzes Leben dauerten, durchwirkt von dem winzigen Funken Hoffnung, der Tom und Sanna geblieben war, dann-
Eine Hand, blass, vom Eis rundherum kaum zu unterscheiden, alle Finger nach der Freiheit ausgestreckt, die nach der unbeschreiblichen Qual auf das Mädchen warteten.
Tom zögerte nicht lange, die Hand zu packen, und das Mädchen aus dem Wasser zu ziehen, selbst erschöpft genug, doch den Gedanken im Kopf, dass sie es noch retten konnten.
Als Sanna sich noch Jahre später an diesen Tag zurückerinnerte, war für sie nach dieser Rettung das Schrecklichste der Rückweg über das Eis gewesen, neben Tom herlaufend, sich kaum trauend, einen Blick auf die kleine bewusstlose Gestalt in seinen Armen zu werfen. Und die Kräfte zehrende Wartezeit über sich ergehen zu lassen, die der Rettungswagen beanspruchte, der aus der einige Kilometer entfernten Stadt zu Sannas Haus kam, um die fast Erfrorene zu versorgen, nachdem Tom und Sanna es zumindest geschafft hatten, den blauen Schimmer von ihren Lippen zu verbannen. Sie hatte es geschafft.
Danach hatten Tom und Sanna am Feuer gesessen, das ihr vollkommen aufgebrachter und besorgter Vater im Kamin entfacht hatte, und zunächst kein Wort gesprochen. Es war ohne Frage das Schlimmste gewesen, das sie je erlebt hatten, und hatte ungefähr eine Stunde und sieben Minuten gedauert. Diese Zahl spukte in Sannas Kopf herum, sie zitterte umso stärker, wenn Erinnerungsfetzen an das Eis wieder in ihr aufkamen, doch Tom hielt sie schließlich in seinen Armen, schweigend, aber dennoch tröstend.
Sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Ob sie dieses schreckliche Erlebnis irgendwann ganz verarbeiten könnte, vielleicht in einer Geschichte.
Oder ob Tom nun seinen Job, über den sie sich so wahnsinnig gestritten hatten, annehmen würde.
Es war auch gar nicht wichtig, denn was zählte eine alberne Distanz zu einem Menschen, die man doch überwinden konnte?
Sie hatten einem Kind wieder zum Leben verholfen, dies, obwohl sie beide natürlich viel zu bescheiden waren, als es zuzugeben, dies war das einzig wichtige.