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Eine Tafel Schokolade

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20.10.2002
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Eine Tafel Schokolade

Stumm saßen sie nebeneinander im Wagen, alle Aufmerksamkeit galt der Nacht. Langsam fuhr der rote Toyota durch die Straßen, schon seit mehreren Stunden. Die Straßenlaternen und das kalte Licht der verdreckten Scheinwerfer strahlten auf den toten Beton. Sie starrten aus den Fenstern.

Wo kann er nur sein?

Bei allen Freunden hatten sie bereits angerufen, die Polizei war alarmiert.
Schließlich, am Rand des großen Stadtparks, lenkte er den Wagen auf den Seitenstreifen. Sie blickten einander an, schließlich sagte sie leise: „Geh nur... ich werde hier warten.“ Er nickte bloß, nahm die schwere Taschenlampe vom Rücksitz, und sie sah dem Lichtpunkt nach, der zwischen den dunklen, undurchdringlichen Büschen unter den alten Eichen verschwand. Sie saß nun alleine im Auto, voll Hoffnung, dass inzwischen jemand anrufen würde, dass vielleicht... und gleichzeitig voll mit Vorwürfen, mit Schuldgefühlen und furchtbaren Gedanken, die nicht die Oberhand gewinnen durften.

Hätte sie doch nur nicht... Was ist denn eine Tafel Schokolade schon? Eine einzige, dumme Tafel Schokolade! Nicht einmal fünfzig Cent wert!

Bilder drängten in ihr Bewusstsein, wieder und wieder liefen die Szenen in ihren Gedanken ab, wieder und wieder...

...Aber wie bringt man einem Sechsjährigen sonst bei, dass er nicht einfach alles, was er haben will, nehmen darf...

Der Klingelton des Mobiltelefons riss sie aufdringlich aus ihren Gedanken. Im Schreck und in der Eile fand sie den richtigen Knopf nicht gleich, endlich: „Ja?“

Im Park war es dunkel, Wolkenschichten ließen das Licht von Mond und Sternen nicht durchschimmern, und die alte Taschenlampe war nicht die hellste. „Martin?“ Er rief. Zuerst leise, fragend, dann immer lauter. „Martin!“ Seine Stimme war vor Verzweiflung ganz rau. Er leuchtete die breiten Kieswege, die Bänke und das Gebüsch ab. Auf einmal hörte er es rascheln, bog sofort ab, achtete nicht darauf, dass ihm die Zweige der Sträucher das Gesicht zerkratzten. Wieder rief er, lauschte angespannt in die Dunkelheit, aber es rührte sich nichts mehr.

Wo kann er nur sein, sie hatten doch schon überall gesucht...

Als er die Autotüre öffnete, wagte sie kaum, ihn anzublicken. „Nichts“, sagte er leise. „Nichts... Hat jemand angerufen?“ setzte er hinzu, einen Funken Hoffnung in der Stimme. „Deine Eltern... sie haben mir Vorwürfe gemacht...“
Sie konnte die Tränen nun nicht länger zurückhalten. „Liebling... du bist nicht schuld.“ Er beugte sich zu ihr, umarmte sie. „Du bist nicht schuld...“ Er streichelte ihr beruhigend übers Haar, küsste ihre Stirn. Sie zitterte immer noch heftig, als er sie nach unendlichen Minuten losließ und den Wagen erneut startete.

Mittlerweile war es halb drei Uhr nachts, es hatte zu nieseln begonnen. Gleichmäßig gingen die Scheibenwischer, während sie immer noch die Gegend abfuhren, zum wievielten Mal in dieser Nacht, wussten sie nicht. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, in ihr nagten immer drängender die Vorwürfe.

Wenn ihm nur nichts passiert ist... bitte... wenn wir ihn nur wieder finden...

Eine Stunde später fuhren sie dann endgültig zur Wohnung zurück. Beide hatten nichts mehr gesagt seit sie beim Stadtpark losgefahren waren, keiner war bereit auszusprechen, wovor beide sich fürchteten. Er hielt vor der Garage, schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Wortlos zog er eine Packung Zigaretten aus der Tasche, bot ihr eine an. Sie rauchten in der Dunkelheit, jeder für sich. „Er ist doch erst sechs...“ kam es ihr über die Lippen. „Sie werden ihn finden...bitte, Liebling, sie werden ihn doch finden, oder?“
Er blickte sie an, gab ihr einen Kuss.

Sie verließen das Auto, er schloss die Haustüre auf und sie gingen die Treppen hinauf.
Das Knarren des alten Holzes, die flackernde Lampe des Stiegenhauses... all das war vertraut, fiel ihnen nicht mehr auf; wie blind setzten sie einen Fuß vor den anderen.
Die Gestalt vor ihrer Wohnungstüre nahmen sie erst wahr, als sie wenige Meter davor standen.

Martin.

Ihr wurde schwarz vor Augen, eine Welle von Glück durchzuckte ihren Körper. In diesem Moment war er schon bei dem kleinen Schatten, hob ihn vorsichtig hoch. Martin.
Der Junge schlief friedlich, er regte sich nicht einmal, als seine Eltern ihn in die Wohnung trugen. Er erwachte nicht, als sie ihm den Anorak und die Kleidung auszogen und als ihn die Mutter schließlich in sein Bett legte.

Wie lange er wohl draußen herumgelaufen ist? Und als er dann heimkam... niemand von uns war da.

Die Eltern saßen in dieser Nacht noch lange wach.

 

Hallo Anna - Maus,

nun habe ich ein paar deiner Geschichten gelesen und leider fehlt mir die ironische Distanz, du neigst zu Gefühlen und damit etwas zu Sentimentalität. Nun, klar, dazu hat Schiller auch geneigt und manches ist auch dementsprechend grauenhaft - finde ich - aber meine Meinung ist nicht wichtig.

spare mit adjektiven, zum Beispiel müssen Minuten nicht unendlich sein. ;- )

ich werde weiter geschichten lesen

viele Grüße aus Nürnberg nach München

 

hallo anacrion!

Vielen Dank für Deinen Kommentar und den Tip.

du neigst zu Gefühlen und damit etwas zu Sentimentalität
- da kannst Du recht haben - in den meisten meiner Geschichten stehen Gefühls/oder Landschaftsbeschreibungen mit im Vordergrund. Stimmt schon, es nimmt oft das Tempos aus der Geschichte und lenkt von der Handlung ab.
Ein Vergleich mit Schiller?!
Das mit den Adjektiven - auch da muss ich Dir recht geben, ist ein Schwachpunkt. Aber Du solltest die Texte mal lesen, bevor ich sie hier reinstelle und dabei die Hälfte dieser Dinger rausnehm. :D Ich werds versuchen...

Schöne Grüße
Anne

 

Also ich habe diese Story auch schon vor Wochen gelesen, und fand sie auch nicht so toll, aber diese Story hier steht nicht stellvertretend für Maus´ Werke. Das sind andere Stories, die das Prädikat "Wertvoll" verdienen. Ich wollte es unbedingt geschrieben haben, weil Maus zu meinen Lieblingsschreiberinnen gehört.

viele liebe Grüsse

Archetyp

 

Hallo Maus,

jetzt muss ich wohl noch mehr Deiner Geschichten lesen ... :)

Auch diese hat mir gut gefallen! Die Verzweiflung der Eltern hast Du so eindringlich geschildert, ganz ohne Pathos und Übertreibung, schlicht!

Und die Geschichte ist spannend - als das Alter des verschwundenen Jungen herauskam, stockte mir regelrecht der Atem.

Und schließlich die Erleichterung, als sie Martin vor der Wohnungstür finden!

Du hast mich gefangen genommen!

Liebe Grüße
al-dente

 

Hallo al-dente,

Hilfe, Du hast ja alte Geschichten ausgegraben. ;) Vielen Dank auf jeden Fall für die Rückmeldung, ich hab mich sehr gefreut.

Du hast mich gefangen genommen!
was schöneres gitbs nicht.

liebe Grüße
Anne

 

bor, anne, ich hatte schon befürchtet, du lässt den armen jungen verenden. bei dir weiss man ja nie.
weisst du, wer am besten solche geschichten schreiben kann? es sind eltern, die das erlebt haben. in deiner geschichte kam es nicht deutlich herüber, der erzählstil zu brav. die panik war nicht ansteckend. die verfluchte angst, wo steckte sie? die angst, die einem den atmen raubt? du musst dir das vorstellen, es gibt keine schlimmere angst auf erden als die um das eigene kind. und wenn du ein so anspruchsvolles thema wählst, dann liegt der anspruch auch in der geschichte. mehr gestiken, zwei hände, die sich voller kraft gegen die scheiben pressen. weit aufgerissene augen die in der unendlichen dunkelheit die unsichtbare gegend absuchen. die rufe nach martin müssen mit viel mehr panik passieren. "Immer lauter und schneller rief er seinen Namen, bis er ihn voller Verzweiflung nur noch in die Nacht schrie."

das kalte Licht der verdreckten Scheinwerfer strahlten auf den toten Beton

toter beton?? ist das deine lösung dafür, weil du "kalt" schon für "scheinwerfer" verwendet hast?
wie wäre es mit "geisterhaftes Licht" und "kalter Beton" ?

Schließlich, am Rand des großen Stadtparks, lenkte er den Wagen auf den Seitenstreifen. Sie blickten einander an, schließlich sagte sie leise:

"Schließlich" ist aber doppelt. das erste "Schließlich" würde ich sogar in ein "Endlich" ändern. das zweite "schließlich" im ganzen satz ändern "bis er leise sagte"

Hoffnung, dass inzwischen jemand anrufen würde, dass vielleicht... und gleichzeitig voll mit Vorwürfen, mit Schuldgefühlen und furchtbaren Gedanken, die nicht die Oberhand gewinnen durften.

diesen satz lese ich oft doch, aber ich kriege ihn nicht auf die reihe. ich glaube, ab "und gleichzeitig" solltest du es klarer formulieren. vielleicht sogar gross weiter und unbedingt ein verb spendieren. "Und gleichzeitig drohen die Schuldgefühle oberhand gewinnen ..."

Der Klingelton des Mobiltelefons riss sie aufdringlich aus ihren Gedanken. Im Schreck und in der Eile fand sie den richtigen Knopf nicht gleich, endlich: „Ja?“

vor endlich bitte etwas stärkeres als ein komma. wenigstens ein semikolon.

Im Park war es dunkel, Wolkenschichten ließen das Licht von Mond und Sternen nicht durchschimmern, und die alte Taschenlampe war nicht die hellste. „Martin?“ Er rief. Zuerst leise, fragend, dann immer lauter. „Martin!“ Seine Stimme war vor Verzweiflung ganz rau. Er leuchtete die

war ich hier zu unaufmerksam? ich musste drei mal nachlesen, bis ich begriff, dass hier ein szenenwechsel ist. es wäre einfach gewesen, wenn schon am anfang der geschichte klar ist, dass martin der gesuchte sohn ist. ausserdem, der name ist schlecht gewählt, "Martin", so heisst eher der ehemann. besser "Florian"

Wo kann er nur sein, sie hatten doch schon überall gesucht...

besser: "wo, verdammt noch mal, steckt er denn? Bitte, bitte, zeige dich endlich, ruf uns." ich sehe überhaupt keine panik in deinem text.

Wenn ihm nur nichts passiert ist... bitte... wenn wir ihn nur wieder finden...

das ist schon viel besser.

ich sehe gerade, ich habe gerade eine drei jahre alte geschichte von dir gelesen. fein *smile*! schade, dass ich al-dentes meinung nicht teilen kann. ich hätte mir gerne mehr panik und mehr einfühlungsvermögen deinerseits gewünscht *smile*.
der erzählstil natürlich maustypisch und solide, aber, wie bereits gesagt, nicht angemessen.

bis dann *smile*

barde

lieblingsstelle:

„Nichts... Hat jemand angerufen?“ setzte er hinzu, einen Funken Hoffnung in der Stimme. „Deine Eltern... sie haben mir Vorwürfe gemacht...“

unfreiwillig komisch, aber komisch *smile*!

 

Hallo Maus,
bei sovielen Kommentaren bleibt mir wenig zu sagen.

Zitat von Querkopp
mir gefällt die Geschichte. Nicht dass ich sie unter dem Begriff "Kracher" einsortieren würde, nein mehr unter "still und nachdenklich".
Das trifft es auch für mich.
Gern gelesen.

Gruß, Elisha

 

Hallo Barde,
schön, Dich hier wieder zu sehen und Danke fürs lesen. Natürlcih ahb cih überlegt, ob der Junge das überlebt ;) Ich kann Deine Argumentation schon nachvollziene, sicher kann man die Panik und die Gerfühle noch besser rüberbringen ... ich denke, heute würde ich an die Geschichte auch ganz anderes rangehen, sie mit anderen Mitteln schreiben. Das Ding is ja 3 Jahre alt und war eine meiner ersten. ;) Deine angemerkten Stellen sind zu verbessern, das werde ich auch die kommenden Tage tun.

Hallo Elisha,
Vielen Dank für den Kommentar. Ich freue mich, wenn Du den Text gerne gelesen hast.

liebe Grüße
Anne

 

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