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Eine Woche
Er hat in der Nacht vom 14. auf den 15.03.1998 mit ihr Schluß gemacht, in ihrem Zimmer, in ihrem Bett. Sie kann sich nicht recht erinnern aber es muss nach drei gewesen sein. Die Kristalllampe verströhmte mattes orangenes Licht indem sein nackter Körper zu schwimmen schien. Als er es sagte, war auch sie selbst nackt, splitternackt und ihr Bewußtseinszustand bewegte sich auf der Grenze zwischen Schlafen und Wachen. Um der Situation gerecht zu werden hätte das Licht zu einem erschrockenen smaragdgrün wechseln müssen, nach ein paar weißen grellen Blitzen. Sie tauchte jedoch weiterhin nackt im Orange und verstand außer "Schluß" kein Wort von seiner Erklärung. Wann er gegangen ist weiss sie nicht mehr.
Am Morgen ist sie von der Welt abgeschnitten als hätte sie über Nacht jemand dick eingegipst. Wie eine Untote bewegt sie sich durchs Haus und erschreckt ihre Familie. Ihre Mutter stellt die Diagnose "Schock" und schleppt sie deshalb nach Hürth ins Kino. Die Eintrittskarte behält sie im Portemonaie. Nach einer weiteren Nacht kommen der Schmerz und die Tränen. Deshalb schenken ihr die Freundinnen in der Pause ein Überraschungei. Am dritten Tag geht sie in den Garten ihrer Oma, sie hat das Gefühl etwas tun zu müssen. Im Gartenhäuschen gibt es ein Regal mit vielen kleinen Dosen. Sie liest die Aufschrift "Mohn" und zieht eine Dose hervor, die sie in ihrer Jackentasche verstaut. Während die Tränen zwischen ihren tapfer zusammengebissenen Zähnen versickern und der Kloß in ihrem Hals schmerzhafter wird stapft sie aufs Feld hinaus. Hier jedoch entfesseln sich die Schluchzer, die sie so mühsam niedergekämpft hat und mit den Händen bedeckt sie ihr Gesicht. Die Zeit vergeht. Aber dann öffnet sie den Schraubverschluss der Dose, die sie aus ihrer Tasche herausgenommen hat, entleert den Inhalt in ihre rechte Hand, ballt diese kurz zur Faust bevor sie sie öffnet um das was darin ist in den Wind zu werfen. Samenkörner. Mohnsamen. Der Wind begreift schnell welchen Erwartungen er gerecht werden muss und nimmt sich der Saat an die sie ihm anvertraut hat. Mit seiner Hilfe soll hier ein Mohnfeld entstehen. Ein Feld der Erinnerung, ein Symbol für ihren Schmerz, denkt sie. Sehr viel Mohn, mit seiner traurigen, blutigen Ausstrahlung, soll hier wachsen. Wenn sie das hier überlebt wird sie es nie mehr vergessen. Bibbernd steht sie im Wind, über ihr ein Himmel wie schimmelige Linsensuppe. Bestimmt ein rührendes Bild. Wenn er jetzt vorbeikäme.... an ihrem Mohnfeld. Ihr Wunsch wird halb erhört, denn jemand nähert sich ihr. Sie erkennt ihren Bruder, der auf sie zugeschlendert kommt, Hände in den Hosentaschen.
"Was machst Du denn da? Wieso stehst Du mitten im Feld?" Keine Antwort. Er nimmt ihr die Dose aus der Hand.
"Falls Du Radieschen pflanzen willst, dann mach das nicht hier draußen, Du Hirni. Oma pflanzt die doch immer im Garten neben den Karotten. Sie flippt bestimmt aus wenn sie mitkriegt was Du hier machst mit ihrer zukünftigen Radieschen." Mit der Art wie er "Karotten" und "Radieschen" sagt, die Silben in die Länge gezogen und nachdrücklich betont mit nicht enden wollenden "n"-Lauten am Ende, will er sie ärgern, ihr zeigen wie dumm sie ist – so dumm dass andere wegen ihr langsam und deutlich sprechen müssen. Sie erwacht aus ihrer Starre.
"Wie kommst Du darauf das ich Radieschen pflanzen wollte?, fragt sie.
"Na, Du stehst hier, hältst Dich an der Dose fest, in der Oma die Radieschensaat aufbewahrt und siehst so aus als hättest Du Lust zu gärtnern." Er grinst über seine scherzhafte Bemerkung und hält die Dose über seinen Kopf als sie versucht danach zu greifen. Als er jedoch die Tränen in ihren Augen sieht, die sich dort rasant vermehren, drückt er sie ihr in die Hand und sagt:
"Mann, bist Du heute empfindlich. Sei doch froh, dass Du die Laberbacke endlich los bist." Sie versucht nach ihm zu treten, aber er weicht geschickt aus und macht sich davon in Richtung Gartentür. Radieschen. Sie schaut nochmal auf das Etikett. Tatsächlich. Radieschen. Wie dumm. Wie peinlich.
Heute STOP zur Erinnerung STOP Radieschenfeld gepflanzt STOP Hoffe STOP alles gut STOP
Sie schleicht ins Gartenhäuschen und stellt die Dose mit den Radieschensamen an seinen Platz zurück, neben die Dose mit der Aufschrift "Mohn".
Genau eine Woche nach der Nacht vom 14.03. auf den 15.03., also vier Tage nach dem Radieschenfeld ruft er an, um sich mit ihr zu verabreden. Sie treffen sich "als Freunde". In seinem Zimmer angekommen will er sie jedoch anfassen wogegen sie sich sträubt, mit einer Wildheit, die sie nicht fühlt aber die sie für angebracht hält. Solange er sie nicht zur Freundin haben will, läßt sie sich auch nicht berühren. So beginnt das Rad sich wieder zu drehen. Die Karten werden neu gemischt. Am Ende behält er sie und sie behält die Kinokarte vom 15.03. Ihr Körper gehört wieder ihm und ein Mohnfeld wird es sowieso nicht geben.