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Eine zweite Chance

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08.07.2005
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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance​

Vielleicht hätte Ben auf seine innere Stimme hören sollen, bevor er sich an jenem Abend in die Bar Sixtyseven aufmachte. Schon allein, der Wunsch diese Spelunke besuchen zu wollen, hätte sämtliche Alarmmelder seines Körpers aktivieren müssen. Im Sixtyseven, das war stadtbekannt, trieben sich vornehmlich Zuhälter, Diebe, Betrüger, Gewaltverbrecher und Dealer herum.
Aber selbst wenn er auf die Signale aus seinem Innersten gehört hätte? Wären sie in der Lage gewesen, ihn tatsächlich auch nur im Entferntesten auf das vorzubereiten, was ihn erwartete? Und was hätte es genützt? Oder hat Ben sich vielleicht gar seiner inneren Stimme folgend ins Sixtyseven aufgemacht?

Ben war seit geraumer Zeit arbeitslos und die Aussicht mit seinen 39 Jahren auf einen Job war so trüb wie Haferschleim. Grafiker ohne Anstellung gab es so viele, dass sich auf eine freie Stelle ganze Hundertschaften meldeten.
Was blieb ihm also anderes übrig, als er die schwarze dicke Brieftasche auf dem Parkplatz vorm Supermarkt entdeckte? Er hatte sich nur bücken müssen und sie war sofort in seine warme Jackentasche geschlüpft.
Magere dreiundzwanzig Euro betrug die Bareinlage, aber der Name Dr. med. Frank Grabner zierte ein halbes Dutzend Kreditkarten. Sogar zwei goldene VISA und AMEX- Karten durfte der Doktor sein eigen nennen.
Die flüchtige Überlegung, die Brieftasche mit der vagen Aussicht auf einen mageren Finderlohn zurückzugeben, tauchte in seinem Bewusstsein auf wie ein Kaffeefleck, den er aber sofort wegwischte und sich entschied die Karten irgendwie zu Geld zu machen. „Man muss sehen, wo man bleibt!“ sagte er zu sich selbst, so als ob er eine Rechtfertigung benötigte, aber tief in seinem Inneren, war ihm die Vorstellung zuwider. Es verstieß gegen seinen Gerechtigkeitssinn.

Die Tür zum Sixtyseven lag im Halbdunkel. Der abgenutzte Türknauf hatte schon so viele Hände berührt, dass er gegen sämtliche Viren und Bakterien immunisiert war.
Was er erwartet hatte, war ihm nicht bewusst. Das Licht war zwar Mangelware aber die Bar sah auf den ersten Blick ganz normal aus. Wolken aus kaltem Rauch und abgestandenem Bier hingen in der Luft.
Ben glaubte die eine oder andere Gestalt in den dunklen Ecken schemenhaft erkennen zu können. Ob dort die undurchsichtigen und halbseidenen Geschäfte abgewickelt wurden? Genauer wollte er es sich vorerst nicht ansehen. Zuerst an die Bar. Einen Drink bestellen. Umschauen, sondieren und sehen was sich ergibt.
Am Tresen ging es zu wie auf einem Bahnsteig. Laufend kamen volle Gläser an, wurden hastig und gurgelnd entleert, retour geschickt und wieder nachgefüllt. Dazwischen schoben sich Teller mit Sandwiches und Salzbrezeln hindurch Überall lagen Zigarettenpackungen herum wie abgestellte Koffer und in den Aschenbechern türmten sich die abgeknickten Stummel zu kleinen Pyramiden auf.
Die Bar war eingehüllt in eine Dunstglocke aus Qualm, die sich wie ein Atompilz ausbreitete, und von staubigen Deckenventilatoren in feine Scheiben geschnitten wurde.
Die gut zwanzig Gäste vor dem Tresen tranken lauthals und johlend auf jedes nur erdenkliche Ereignis das ihnen einfiel und im besonderen Maße schienen sie ihrem Gönner zuzuprosten.
Der speckbauchige Gönner, in der Mitte, umringt von drei Bikinis, die sich perfekt um braungebrannte makellose Körper spannten, sonnte sich in scheinbarer Beliebtheit, die mit jedem Glas Champagner für die Meute um ihn herum wuchs.
„Ja, recht so! Trinkt auf mein Wohl. Von nun an wird sich einiges ändern.“ rief der Fettleibige in die Runde und kippte sich den Rest des Champagners in den offenen Rachen. Er gurgelte freudig, warf das Glas hinter sich, griff einer der Bikinischönheiten an die Brust. Sie kicherte automatisiert und dümmlich als er schmatzend an ihrer hervorstehenden Brustwarze saugte.
„Kommt schon, Jungs! Bedient Euch, sie sind für Euch alle da.“ schrie er übermütig. Der Rest eines Sandwich lugte zwischen seinen terracotta-farbenen Zähnen hervor, während seine Hände überprüften, ob die Hintern der Bikinidamen noch an ihrem Platz waren.
Schweißperlen rannen von seiner fetten Stirn. Vereinzelt hingen ihm schmalzige Haarsträhnen wie Seetang ins Gesicht. Sein ausladender Bauch hüpfte vor Erregung auf und ab und in seinen weit aufgerissenen Augen meinte Ben das Flackern des Wahnsinns entdecken zu können.
Niemand, weder der Wirt, noch die anderen Gäste, die, bis auf die drei Bikinis, aus lauter Männern bestanden, nahmen Notiz von ihm. Unsichtbar stand er am Ende des Tresens. Interessiert und angewidert zugleich beobachtete er das Gelage. Zu klischeehaft, um wahr zu sein, dachte er sich.
Die Idee, ins Sixtyseven zu kommen, um seinen Kreditkartenfund zu Geld zu machen, verlor zusehends an Farbe und Gestalt. Wen sollte er hier ansprechen? Und vor allem, wie?
Am anderen Ende des Tresens im Schatten der trägen Rauchschwaden fiel ihm eine weitere Frau auf. Unbeteiligt wie er lehnte sie an der Bar, das Glas Champagner vor sich unberührt. Gelangweilt sah sie der Szenerie zu, bis sie seinen Blick auffing.
Die tiefschwarzen, stechenden Augen, intelligent, geheimnisvoll weckten seine Neugier. Ben entschied sich, aus einem unerklärbarem Gefühl heraus, zu bleiben.
Sie passte genauso wenig hierher wie er und dennoch bildete Ben sich ein, dass sie auf eine seltsame Weise mit dem Gönner in der Mitte am Tresen verbunden zu sein schien. Ständig schielte der fette schmierige Bauch zwischen seinen drei Bikinimädels zu ihr hinüber und nickte ihr bestätigend zu.
„Ab jetzt bin ich wer! Ihr werdet schon sehen, was ich alles noch erreichen werde. Vielleicht werde ich sogar Bürgermeister!“ johlte der Dicke und das Gelächter seiner Gäste steigerte sich.
„Der George und Bürgermeister....“, sagte ein anderer und prostete ihm zu. „Dann bin ich der Kaiser von China.“
Ben spürte eine schwelende Spannung im Raum. Etwas nicht greifbares begann sich zu regen. Die ebenen Gesichtszüge der Frau am Tresen spannten sich an, sie schien zu warten. Lauerte wie eine Katze vor dem Sprung. Ihre Augen folgten jeder Bewegung des Dicken.
„Na und... glaubst Du etwa ich könnte das nicht?“ erwiderte George gereizt, während er zu der geheimnisvollen Frau hinüberblinzelte.
Das Gelächter seiner Kumpanen gipfelte in brüllendem Getose. Keiner wollte Georges Worte ernst nehmen.
Niemand außer Ben schien die Verbindung zwischen der Frau am Tresen und der gönnerhaften Wampe zu erkennen.
George ließ von seinen drei Bikinidamen ab, die, wie Ben erst jetzt bemerkte, eineiige Drillinge sein mussten und sich nur durch ihre Haarfarbe voneinander unterschieden.
„Verdient hätte ich es sicher, wie wir alle sicher was Besseres verdient haben, als das hier.“ George fegte ärgerlich mit seinem Handrücken klirrend die Gläser vom Tresen.
„Da hat er recht, der George“, antwortete eine andere Stimme, die sich vor Trunkenheit überschlug.
„Ich sage Euch was,“ George brüllte die Worte heraus... „Wir sollten alle das bekommen, was wir wirklich verdienen, wir sollten es besser haben!“
Georges Worte wurden mit lautem Zuprosten und Hoch-soll-er-leben-Phrasen kommentiert, während Ben sich noch über die verblüffende Ähnlichkeit der Bikiniklons wunderte.
„Ja, so soll es sein“, tönte George und sah beschwörend zu der Frau am Tresen hinüber. Wie bei einem Tennismatch wechselten Bens Blicke nun zwischen der geheimnisumwitternden Frau und dem üppigen George hin und her. Ihre Augen versprühten abgrundtiefe Verachtung. Gleich würde sie ihn fauchend anspringen und die Kehle durchbeißen.
„Wir werden es besser haben“, die Worte des runden Georges wurden leiser. Beschwörend, fast als ob er eine Art Zauberformel spräche, vernahm Ben seine mittlerweile heisere Stimme. „Ich wünsche uns allen...,“ er machte eine Pause, spähte noch einmal prüfend zu der Unbekannten hinüber. Über ihren angespannten Gesichtsmuskeln konnte Ben ein wildes Zucken erkennen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und seine Haut fühlte sich an wie ein gerupftes Huhn. Irgendetwas war hier im Gange, das er nicht beschreiben, nicht einordnen konnte.
„Ich wünsche, dass Ihr alle hier, das bekommt, was Ihr verdient!“ Georges Worte hallten ein wenig nach, die Anspannung der unbekannten Frau am Tresen löste sich merklich und dann überschlugen sich die Ereignisse.
Ein Schuss krachte, jemand stürzte schreiend zu Boden. Augenblicklich fiel jeder mit wüsten Beschimpfungen über jeden her. Ein Messer blitzte auf. Ein anderer quiekte wie ein abgestochenes Schwein. Ben sah wie Blut spritze und George sich die Hand an den röchelnden Hals hielt. Binnen Sekunden verfärbten sich Hände und Oberkörper rot. Mit aufgerissenen Augen starrte George fassungslos zu der Frau hinüber. Sie sah ihn kurz an, gelangweilt, um sich dann eine Zigarette anzuzünden.
Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Gleißendes Licht überflutete den Raum und mehrere Polizisten stürmten unter Gebrüll herein.
Es herrschte Panik. Tische, Stühle und unzählige Gläser flogen durch die Luft. Die Situation war außer Kontrolle.
Ben drückte sich in die Ecke gegen die Wand. Nur schemen- und bruchstückhaft nahm er wahr, was um ihn herum geschah. Einer der Gäste brach auf dem Tresen zusammen. Ihm steckte eine abgebrochenen Champagnerflasche in seinem unrasierten Hals. Wie aus einer geplatzten Wasserleitung sprudelte blubberndes Blut hervor.
In einer Ecke würgte jemand einen Polizisten. Ein anderer hatte dort, wo normalerweise die Zähne saßen, einen kristallenen Aschenbecher stecken und am Fußboden vor sich entdeckte Ben ein abgeschnittenes Ohr, dessen blutender Besitzer kniend daneben jammerte.
Mehrere Polizisten führten bereits einige der Anwesenden in Handschellen ab, als unvermittelt ein bärtiger Mann auf Ben zu sprang, ihm seine nach Schnaps und Blut stinkenden behaarten Hände um den Hals schlug und zudrückte. Er hörte sein Blut in seinen Ohren rauschen und spürte den Druck der Daumen auf seinem Kehlkopf.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er die unbekannte Frau wahr, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Sie drückte ihre weiße saubere Handfläche auf das Gesicht des Bärtigen und stieß ihn wie eine Feder davon. „Verschwinde, Du Missgeburt!“ zischte sie und an Ben gewandt mit einer lieblichen, reinen und dennoch selbstbewussten Stimme, so als ob sie gemeinsam einen Abend bei einem gemütlichen Dinner verbracht hätten, „Ich möchte gern gehen.“
Ben schaute sie an. Staunend. Fragend. „Das wünsche ich mir auch“, hörte er sich keuchend sagen und im selben Augenblick fand er sich mitten unter tausenden Touristen am Fuße des Eifelturms in Paris wieder.

Das Stimmengewirr der Touristen dröhnte in seinem Kopf. Überall liefen, saßen oder standen Menschen herum. Einige knipsten eifrig, andere aßen oder tranken und wiederum andere standen nur da und sahen staunend gen Himmel, der Spitze des Eifelturms entgegen. Kinder und Hunde rannten umher und überall boten Souvenirhändler lautstark ihren Kitsch an.
Ben saß abseits auf einer Bank, die unbekannte Frau aus der Bar neben ihm. Sie grinste ihn an.
„Was ist passiert?“ stotterte er und schaute sich hektisch um. Er spürte seine schweißnassen Hände seinen Hals auf Würgemale abzutasten.
„Paris!“ hörte er die klare, doch dunkle Stimme der Frau. „Paris. Ist es nicht herrlich hier? Die Sonne, die Tauben, die Seine. So viele Menschen und doch so anonym.“ Ihr Blick ruhte auf dem Eifelturm.
„Ja, aber,“ hörte er sich ungläubig stammeln. „Wieso, ich meine wie...?“
„Das ist eine lange Geschichte“, sie hielt ihm lachend ihre Hand hin. „Merfina. Ich heiße Merfina.“
Ben nahm ihre Hand gedankenlos und murmelte automatisiert seinen Namen. „Ben, äh, Benjamin Tomkins.“ Seine Stimme klang verwirrt. “Was ist passiert?“
„Oh nichts weiter, ich wollte gehen und Sie wünschten sich das Gleiche.“ antwortete sie, während sie sich eine Zigarette anzündete und den Rauch hörbar genussvoll in die Luft blies. „Früher hab ich nicht geraucht, wissen Sie, früher war es aber auch nicht so anstrengend. Heute ist es anders, mühsamer und vor allem widerlicher.“
Ben verstand kein Wort von dem was sie sagte.
„Eines dieser Laster, die man lieber aufgeben würde, aber der einzige wirkliche Grund es zu lassen, ist die Gefahr, dass Rauchen tödlich sein kann aber, na ja...“ sie zog an ihrer Zigarette bis die Glut einem kleinen Sonnenball glich. „das triff halt auf mich nicht zu.“
Merfina blickte ihn an. „Sie wollen wissen, was geschehen ist?“ Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Es war eine rein rhetorische Frage.
„Der fette George und seine Kumpanen haben das bekommen, was sie verdient haben“, sagte sie und blickte den Rauchwölkchen hinterher.
„Ich meine, wie bin ich hier her gekommen oder träume ich etwa?“ sagte Ben unwirsch nachdem Merfina nicht weitergesprochen hatte.
„Na ganz einfach. Sie haben sich gewünscht zu gehen und da sind wir!“ Es klang aus ihrem vollen Mund so einfach und dennoch verstand Ben nicht im geringsten, wieso und warum er plötzlich mitten in Paris unterm Eifelturm saß, wo er soeben noch in London im Sixtyseven gesessen hatte.
Er sah sie fragend und fordernd an, so als ob er noch eine Erklärung erwartete.
„Sie haben es sich gewünscht!“ wiederholte Merfina ein weiteres Mal und strich sich das schwarze Haar aus ihrer hohen ebenmäßigen Stirn.
„Ach, so einfach ist das also“ erwiderte Ben sarkastisch. „Ich könnte mir jetzt also auch einfach wünschen ich wäre gern auf dem Mond und dann wäre ich auf dem Mond...oder was?“ fügte er nach einer kleinen Pause schnippisch hinzu.
„Ja, das könnten Sie. Allerdings würde ich mir an Ihrer Stelle genau überlegen, was Sie sich wünschen, denn sie haben nur noch zwei Wünsche frei“, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. Ihre Zähne blitzten auf. „Und auf dem Mond ist die Luft nicht gut für Sie!“ Er hörte ein leises Kichern.
Ben glaubte nicht was er hörte, sagte aber um bei dem Spiel zu bleiben, „normalerweise erfüllt die gute Fee drei Wünsche, wenn ich mich recht entsinne.“
„Das ist korrekt“ erwiderte sie. „Aber einen Wunsch haben Sie bereits verbraucht, indem Sie sich aus der Bar wegwünschten. Und eine gute Fee bin ich wirklich nicht.“ Sie legte ihren Zigarettenstummel unter den Absatz ihres Schuhs und drehte den Fuß sacht bis die Glut erloschen war.
„Was sind Sie dann?“ wollte Ben wissen.
„Eine Dschinn!“ Ihre Antwort kam sofort und bestimmt.
„Und gleich werden Sie mir erzählen, Sie wohnen in einer Lampe und sind mit Aladdin zur Schule gegangen.“ Ben ärgerte die Gelassenheit, die Merfina an den Tag legte.
„Sie haben zu viel Filme gesehen, lieber Benjamin. Dschinns wohnen nicht in Lampen. Das wäre außerdem viel zu eng und unkomfortabel.“ Sie blickte prüfend auf ihre Hände und entfernte gewissenhaft etwas Schmutz unter ihren Nägeln. „Und Aladdin hat es nie gegeben, er ist eine Phantasiefigur aus den Geschichten aus 1001 Nacht, wussten Sie das etwa nicht“?
„Wo wohnen Sie dann, die Dschinns?“ Bens Zynismus war nicht zu überhören.
„Ich finde die Frage ein bisschen zu privat, aber, um Ihre Neugier zu stillen, ich wohne in einer schnuckeligen kleinen Penthousewohnung in New York mit vielen alten Möbelstücken und einer Menge guter Bücher. Und wann immer es mir meine Freizeit erlaubt, sitze ich dort auf meiner Terrasse, lese und schaue der Welt zu.“ Sie schlug ihre Beine übereinander. „Aber jetzt bin ich leider gerade an einen ungehobelten Klotz, namens Benjamin Tomkins gefesselt und wenn ich Sie nun bitten dürfte, ihre Wünsche auszusprechen, damit ich wieder nach Hause kann“, fügte sie gereizt hinzu.
Ben versuchte die Worte in seinem Hirn zu ordnen und zu verstehen. Konnte das wahr sein? „Warum sind Sie an mich gefesselt?“
„Sie haben noch zwei Wünsche und ich kann Sie erst verlassen, wenn sie diese auch verbraucht haben“ sagte sie ohne aufzublicken.
„Waren Sie auch so an diesen Schmierbauch George aus der Bar gefesselt“? fragte er.
„Ja, das war ich. Dieser Widerling. Wollte, das ich seine Sexsklavin werde.“ Sie verzog angeekelt den Mund zu einer Grimasse.
„Aber Sie sind es nicht geworden?“ sagte Ben, sich an die Bikinidrillinge erinnernd.
Sie sah ihn vorwurfsvoll an. „Natürlich nicht. Es gibt eherne Dschinngesetze, denen sich jeder fügen muss.“ Das ihre Stimme nun nicht mehr so gelassen klang gefiel Ben, gab es ihm das Gefühl auch einen Punkt gemacht zu haben. „Regel Nummer eins!“ Ihr Ton wurde wieder schärfer. „Es gibt nur drei Wünsche, mehr Wünsche zu haben, ist nicht möglich. Regel Nummer zwei: Ich bin unantastbar. Und Regel Nummer drei.“ Sie machte ein Pause. „Regel Nummer drei ist; niemand kann sich nach dem dritten Wunsch an seine Wünsche oder an mich erinnern.“ Sie zündete sich erneut ein Zigarette an.
„Was hatte sich der fette George gewünscht?“ wollte Ben wissen.
„Das was sich die meisten wünschen.“ Sie machte ein abschätzende Handbewegung. „Einen Koffer voll Geld, halbnackte Weiber und den letzten Wunsch haben Sie ja live miterlebt.“
„Was war der letzte Wunsch?“ Ben versuchte sich zu erinnern.
„Das alle im Raum das bekommen ,was sie verdienen“ murmelte sie beiläufig, so als ob das Thema sie langweilte.
„Und das haben sie bekommen?“ fragte Ben.
„Ja, keiner dieser Widerlinge hat etwas Besseres verdient. Alles Schurken und Kriminelle. Früher hätte man ihnen die Hände abgehackt und sie danach gevierteilt.“
„Früher?“
„Na früher, eben“, Merfina schüttelte den Kopf über Bens Unverständnis. „Zu Zeiten der großen Sultane und Kalifen.“
„Und jetzt wollen Sie sicher erzählen, dass sie schon damals gelebt haben und über 1000 Jahre alt sind.“ Ben war sich nicht mehr sicher, was er glauben sollte. Die Tatsache, dass er so plötzlich in Paris saß, war ein Beweis für ihre Fähigkeit, der sich nur schwer widerlegen ließ.
„Ich hatte Recht. Sie sind ein ungehobelter Klotz. Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter und ich weiß nicht warum sie eine zweite Chance verdient haben. Ich hätte Ihnen die Brieftasche klauen und sie ins Gefängnis werfen lassen sollen.“
Ben verstummte. Woher wusste sie das mit der Brieftasche? „Was meinen Sie mit einer zweiten Chance?“
„Jeder in der Bar hat das bekommen, was er verdient. Einige sind tot, verstümmelt, verletzt oder im Gefängnis. Und sie hatten eine zweite Chance verdient, deswegen sind Sie hier.“
Bei den letzten Worten Merfinas fühlte Ben so etwas wie Scham. Er blickte sie lange an und dachte nach. Saß er hier etwa einem üblen Trick auf? Gab es eventuell eine versteckte Kamera?
„Sie haben also schon vielen Menschen Wünsche erfüllt?“ fragte er.
Sie nickte: „Viel zu vielen. Im Laufe der letzten 3000 Jahre habe ich aufgegeben sie zu zählen.“
„Wen haben Sie denn zum Beispiel seine Wünsche erfüllt?“
„Ist das jetzt ein Wunsch?“ fragte sie neckisch.
„Nein, eine Frage!“ Ben grinste sie an.
Ihr Verhältnis zueinander wurde freundlicher und auf eine Weise vertrauensvoller, die er nicht erklären konnte.
„Ich habe zum Beispiel den Wunsch Tut-Anch-Amuns erfüllt, unsterblich zu werden und das noch viele, viele Zeitalter nach seinem Tod von ihm gesprochen wird und geschrieben steht.“ Ihr Gesicht verriet ihm eine gewisse Schadenfreude als sie zu erzählen begann. „Ich habe Odysseus seinen Wunsch erfüllt das größte Abenteuer zu erleben. Das war etwas. Da musste ich schon tief in die Trickkiste greifen. Die Zyklopen und die Sirenen, aber am besten finde ich ist mir Circe gelungen, finden Sie nicht?“ Sie lächelte süffisant bei der Erinnerung an Odysseus.
Ben verstummte, lauschte und nichts mehr in ihm widersetzte sich der Vorstellung, dass sie nicht die Wahrheit sprechen könnte.
„Cäsar wünschte sich eine Frau, die es mit ihm aufnehmen könne und so bekam er Cleopatra. Kennedy zum Beispiel wünschte sich, dass ihm alle Amerikaner folgen würden.“ Merfina wischte sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen aus der Stirn. „Da ließ ich ihn erschießen.“
„Sie haben Kennedy ermordet?“ rief er ungläubig.
„Ja und?“ erwiderte sie. „Es war ein anmaßender Wunsch. Jeder bekommt das, was er sich wünscht. Er kann sich sicher sein, dass ihm all seine Landsmänner in Tod folgen werden. Ein römischer Statthalter wünschte sich einst noch mehr Sklaven für seine Häuser und Lustgärten. Er wollte von Sklaven umgeben sein, so schickte ich ihn als Ruderer auf eine Sklavengaleere.“
„Ja, aber Kennedy war doch einer von den Guten“ stammelte Ben. Merfina warf ihren Kopf zurück und lachte. „Gut oder Schlecht. Sein Wunsch war vermessen und größenwahnsinnig. Was wissen Sie denn schon, wie es in den Köpfen der Menschen aussieht. Nichts als Gier. Gier nach Macht, Gier nach Geld, Gier nach Lust und Befriedigung. Immer dasselbe.“ Sie schnippte ihren Zigarettenstummel fort. „Was glauben Sie, was sich Adolf Hitler gewünscht hat“?
„Sie haben Hitler geholfen?“ entfuhr es Ben.
„Nein. Dem haben die Menschen geholfen. Er hat sich einen Freund gewünscht, die arme Sau und da hat er einen Hund bekommen.“ Merfina fing an, ohne es selbst zu bemerken, aus ihren Erinnerungen zu plaudern.
„Bill Gates wollte als zwölfjähriger eine Garage, um irgendwelche elektronische Dinge zu bauen. Ein vergleichsweise bescheidener Wunsch, wenn man das aus heutiger Sicht sieht.“
Ben staunte mit offenem Mund. Ja, erinnerte er sich, hatte nicht Bill Gates in einer Garage angefangen seine Computer zu bauen. War nicht die Garage eventuell der Grundstein seines Erfolges.
„Der Papst wünschte ein Gespräch mit Gott“, fuhr Merfina fort.
„Und?“ fragte Ben neugierig.
„Er hätte sich zuerst einen Gott wünschen müssen, zu dem er sprechen kann!“ lachte Merfina.
Sie meinen, es gibt keinen Gott?“ Ben war über die Feststellung absolut erstaunt. Er war kein Gläubiger, aber dennoch wurzelte die Vorstellung von Gott ganz tief in seinem Bewusstsein. Gott war ein Mysterium, an das man gern glauben wollte.
„Nein es gibt keinen. Warum sollte es auch, es hat sich noch keiner einen Gott gewünscht.“
„Was heißt das? Ich könnte mir Gott wünschen.?“
„Sie könnten sich einen Gott wünschen und würden den Gott bekommen, an den Sie glauben möchten.“
„Heißt das, es gibt keine höhere Gerechtigkeit?“
„Nein, es gibt ja mich“! sagte Merfina, ohne auch nur einen Zweifel an ihren Worten zu lassen.
„Ich kann mir also alles wünschen“?
„Ja, alles was Ihnen in den Sinn kommt.“ Merfina blickte ihn herausfordernd an.
Einer plötzlichen Eingebung hin wollte Ben seinen zweiten Wunsch äußern. Er hatte eine Idee, die einen Gott überflüssig machte. Er hatte noch zwei Wünsche. Den letzten würde er für sich selbst nutzen.
„Ich weiß meinen zweiten Wunsch“, sagte er mit unverkennbaren Stolz in der Stimme.
Merfina blickte überrascht auf. Sie sah ihn an und nickte ihm zu.
„Ich wünsche mir Frieden auf Erden.“
Augenblicklich verstummte alles um ihn herum. Es war totenstill.
Der Platz vor dem Eifelturm war menschenleer. Nirgends hörte man eine Taube gurren oder einen Spatz piepsen. Kein Geräusch war von der Straße zu vernehmen. Er war allein. Allein mit Merfina in Paris. Allein auf der Welt.
Fassungslos und ungläubig starrte er sie an. “Was soll das?“ fragte er mit brüchiger Stimme.
„Frieden auf Erden. Da haben Sie ihn.“ Merfina wollte sich eine weitere Zigarette anzünden, als Ben sie mit einer wütenden Handbewegung aus ihren Händen fegte.
„Das ist Betrug!“ schrie er.
„Nein“ erwiderte sie gelassen. „Das ist Frieden auf Erden. Nur wirklich möglich, wenn kein Mensch und kein Tier mehr auf dem Planeten weilt. Und wenn sie genau darüber nachdenken, dann werden Sie nicht anders können als mir beizupflichten.“ Sie nahm sich eine andere Zigarette und entzündete sie.
„Warum bin ich dann noch hier?“
„Es war Ihr Wunsch. Sie haben jetzt Frieden auf Erden.“
Bens Gedanken rasten. Er war der einzige Mensch auf Erden, von Merfina einmal abgesehen, aber sie war kein Mensch, sondern eine Dschinn. Und was würde er sich jetzt noch wünschen können? Die einzige wirkliche Alternative war, seinen letzten Wunsch rückgängig zu machen.
„Was soll ich jetzt tun?“ fragte er kleinlaut.
„Wünschen Sie sich etwas. Ihr dritter Wunsch steht an.“
„Was würden Sie sich wünschen“? Ben sah sie an.
Sie schmunzelte. „Ich würde mir wünschen, dass ich arbeitslos wäre.“
„Na, toll. Das bin ich bereits.“
„Dann wünschen Sie sich einen Job“ sagte sie.
„Ist das Ihr Ernst, Sie wollen keine Wünsche mehr erfüllen?“ fragte Ben ungläubig.
Merfina steckte sich eine weitere Zigarette an. „Ja, irgendwie schon. Ich bin es leid. Die Menschheit ist für Wünsche nicht geeignet. Das ist vielleicht gar nicht so schlecht, ich weiß nicht.“ Sie blies den Rauch durch die Nase aus. „Ihr Menschen wisst solche Geschenke nicht zu schätzen, Ihr könnt sie weder richtig einsetzen, noch wirklich davon profitieren. Ich bin nach über dreitausend Jahren zu der Ansicht gelangt, dass der Mensch nur ohne meine Wünsche glücklich werden kann. Alles, was sie dazu brauchen ist in ihnen! Etwas aus eigener Kraft zu erreichen, ist tausendmal mehr wert und stärkt die Seele.“
„Wie setze ich meine Wünsche dann richtig ein?“ wollte Ben wissen, der nur noch einen Wunsch übrig hatte und sich deswegen sein Hirn zermarterte.
„Spielen Sie nicht Gott, versuchen Sie nicht die Welt zu verändern. Sie werden immer scheitern, egal was Sie sich wünschen.“ Merfinas Stimme hatte einen mütterlichen und väterlichen Ton zugleich angenommen. „Ich habe schon viele Weltverbesserer erlebt, alle meinten es genau zu wissen. Sämtliche Ideen endeten in einem Desaster. Jeder, ausnahmslos jeder war anmaßend und überheblich und niemand hat wirklich je über die Folgen nachgedacht. Die Menschen sind nicht dazu geschaffen, die Welt zu verbessern. Sie sind nur ein Teil von ihr. Aber weil es einen scheinbaren Sinn in ihr Leben bringt, wollen sie ständig verbessern, erneuern, erfinden und erweitern. Der grausam perfide Sinn des Lebens besteht nun mal in der Existenz und der Erhaltung der eigenen Art.“
Leicht niedergeschlagen hörte Ben den Worten Merfinas zu.
„Lebe Dein Leben und versuche nicht die anderen zu verändern. Winston Churchill zum Beispiel. Er hat sich nichts sehnlicher gewünscht, als einen ruhigen Abend und die beste Zigarre der Welt, die er im übrigen auch bekommen hat.“
„Wie war Churchill so?“ fragte Ben.
„Kann ich nicht sagen. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen. Er wollte einen ruhigen Abend. Ein Satz blieb mir in Erinnerung. Er sagte, dass jeder davon spricht, den Gürtel enger zu schnallen, aber jeder am Gürtel des anderen herumfummelt.“ Merfina blickte in Bens Augen.
Er grinste über Churchills Worte.
„Mein lieber Benjamin Tomkins“, sagte sie fast mütterlich zärtlich. „In all der Zeit, hat sich nicht einmal jemand Gesundheit oder ein erfülltes Leben gewünscht. Können Sie sich das vorstellen? Sich das Richtige zu wünschen, ist das wichtigste im Leben. Erst ein echter Wunsch, ein wirklich gutes Ziel gibt dem Leben einen wahren Sinn.“
Ben ließ seinen Blick über den leeren Platz am Eifelturm schweifen. Das Richtige wünschen, wer sollte schon wissen, was das Richtige ist, wiederholte er im Geiste Merfinas Worte.
„Versuchen Sie nicht die anderen zu verändern, verändern Sie sich“ vernahm er Merfinas Stimme.
Er stand auf, ging ein paar bedächtige Schritte, drehte sich um und sah in Merfinas dunklen Augen. „Ich wünsche mir eine zweite Chance.“

Die Tür zum Sixtyseven lag im Halbdunkel. Der abgenutzte Türknauf hatte schon so viele Hände berührt, dass er gegen sämtliche Viren und Bakterien immunisiert war. Ben war im Begriff die Tür zu öffnen, als er einem unerklärlichen Gefühl folgend von der Tür abließ, sich umdrehte und gutgelaunt nach Hause ging. Ob er auf eine innere Stimme hörte, die irgendwie sonderbar mütterlich und väterlich zugleich klang? Wer kann das schon sagen?

 

Hi bentom,

die Geschichte gefällt mir, auch wenn sie fast ein bisschen lang ist. Aber das kann ich verstehen, denn der Dialog zwischen den beien Protagonisten hat beim Schreiben bestimmt Spaß gemacht. Und solche Dialoge haben beim Schreiben oft die Eigenschaft, sich ihre eigene Sperrigkeit und Richtung zu suchen.
Des Menschen Wünsche sind wirklich oft sonderbar und selbst wenn kein Dschinn zur Verfügung steht, sollte man sehr darauf achten, was man sich wünscht.

Lieben Gruß, sim

 

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