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Einen Triller lang

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05.10.2016
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Einen Triller lang

Ein Triller besteht aus zwei nebeneinander liegenden Tönen, die schnell im Wechsel gespielt werden. Immer hin und her. Mozart verwendete ihn oft und Beethoven in den Klavierkonzerten. Dort gibt er das Signal für das Orchester, das am Ende des Trillers dem Klavier mit Tumult in die Parade fährt und das Werk zu Ende bringt.
Man hört den Triller auf Jimi Hendrix‘ Gitarre und bei alten Motorrädern, kurz bevor sie absterben. Ja, er leitet das Finale ein, das Ende, er ist wie das letzte Aufbäumen einer Musik, die nur noch zwei Töne zur Verfügung hat, zwei Töne, die alles sind.
Auf dem Klavier kann er scheußlich klingen. Wie ein nervtötendes Telefonläuten oder wie das Rumpeln einer Waschmaschine im Schleudergang. Manchmal aber, wenn er gelingt, ist er das Letzte, was die Musik noch sagen kann, das Wichtigste, das in den zwei verlorenen Tönen, in den Verwirbelungen und Drehungen, die sie um sich selbst vollführen, aufscheint wie ein Strahl, um eine Lichtschneise in die Dunkelheit zu schlagen, wie ein Seil, auf dem man hinüberbalanciert in ein anderes Land, gedreht aus dünnsten Fäden, aus feinstem Garn, aus Schall und Rauch.


Jakob Adametz strich sich das graue Haar aus der Stirn. Dann ließ er den Arm langsam sinken, den Kopf über der Tastatur und das g und das a im Blick. Er wollte den Daumen und den Mittelfinger zum Triller aufsetzen. Da löste sich eine Schweißperle von der Nasenspitze und fiel auf den weißen Kunststoff der Töne g und a, und als er die Finger darauf legte, rutschte er herum wie auf einem frisch gewischten Fliesenboden, schlitterte, glitt aus, fand keinen Halt. Mit den Fingerkuppen verrieb er die Feuchtigkeit, versuchte, sie zu verteilen, damit sie verdunstete. Aber es half nichts. Dann sah er hinauf zum Dirigenten, der sich umgedreht hatte und ihm einen erstaunten Blick zuwarf. Er wartete mit dem Orchester auf den Einsatz nach Adametz‘ Triller, hob die Augenbrauen und nickte dem Pianisten aufmunternd zu.
Da löste sich ein Ton. Das g. Wie zufällig, ein heiserer Ruf aus dem Flügel heraus, gerade noch hörbar und der Stille näher als dem Klang. Adametz erschrak. Noch nie war ihm ein Ton ungewollt entkommen. Nie unterlief ihm eine falsche Note, ein Aussetzer, er hatte das Instrument im Griff, hielt es am Zügel, erfüllte genau den Notentext der alten Komponisten, und dafür wurde er geliebt. Für seine Perfektion, die er Zeit seines Lebens kultivierte und in höchste Höhen trieb. Und nun erklang das g, selbständig und spontan, ungeplant und losgelöst von seinem Willen. Sein Mittelfinger zitterte, als er ihn auf das a legte. Kurz hielt der den Atem an, fixierte das Fingerglied und ließ das Gewicht seines Unterarms vorsichtig herabsinken, bis er den Widerstand spürte, und im letzten Moment, kurz vor dem Aufschlagen des Tastenbodens, beschleunigte er den Anschlag, dass der Flügel einen ebenso leisen, nebelhaften Ton hervorbrachte wie vorhin, als wäre er ein klagender Widerhall auf das g, das noch wie ein Fragezeichen im Raum zu schweben schien. Aus dem Halbdunkel des Saals hörte Adametz ein leises Husten, ein gedämpftes Raunen. Tastend streckte er den Daumen dem g entgegen.


„Jakob, komm“, ruft ihm seine Mutter zu. Mit ausgebreiteten Armen balanciert er auf der Straßenbahnschiene. Nur nicht hinunterfallen in die Tiefe. Immer auf dem Seil tanzen.
„Du musst nicht immer ‚Himmel und Hölle‘ spielen!“, ruft sie. „Frau Blinowa wartet schon!“
Mit großen Augen sieht er die graue Fassade des Stadthauses hinauf.
„Ra-de-ti-stra-ße“, buchstabiert er.
„Radetzkystraße“, korrigiert ihn die Mutter. Sie nimmt seine Hand und drückt auf einen der Messingknöpfe. Die Tür springt auf und sie treten ein. Der Flur ist feucht. Jakob rutscht aus und krampft sich in ihren Arm.
„Immer aufpassen, Kleiner“, hört er die Blinowa mit russischem Akzent sagen. Ihr „r“ rattert wie eine Nähmaschine und das „a“ klingt dunkel aus ihrem dicken Hals. Sie steht in der Wohnungstür und streckt ihm die Hand entgegen. „Immer aufpassen, damit nicht falsch passiert. Ist wichtig auf Instrument.“ Bei der letzten Silbe reißt sie den Mund auf und blökt wie ein Schaf in der Weite der Tundra. Er legt seine Hand in ihre, die weich ist wie aufgegangener Hefeteig. In seine Nase zieht der Geruch von Sauerkraut.
„Er hat Talent“, sagt die Mutter.
„Wir werden sehen“, sagt die Blinowa und schiebt Jakob in die Wohnung.
Jede Woche balanciert er die Straßenbahnschienen entlang bis zur Eingangstür in der Radetzkystraße und spielt die Tonleitern im Sauerkrautdampf. Die Blinowa hebt sein Handgelenk mit dem Stiel des Kochlöffels und drückt es wieder hinunter.
„Federleicht muss der Arm sein und laufen müssen die Fingerlein“, erklärt sie mit kehliger Stimme, und Jakob fährt hinauf und hinunter, unentwegt, läuft Langstrecke auf den Tasten bis zum Marathon, bis zur Erschöpfung. Aber die Blinowa ist streng und fordert unerbittlich. In den kurzen Pausen sitzt er am Küchentisch gegenüber dem Krauttopf und darf die knallbunte Matrjoschkapuppe zerlegen bis zum letzten Exemplar, das nicht größer ist als das Vorderglied seines kleinen Fingers. Er stellt die immer kleiner werdenden Figuren der Größe nach auf, und dann jagt sie ihn wieder zurück an den Kasten.
Zu Hause dreht die Mutter die Eieruhr auf. Wenn sie rasselt, ist die Übezeit zu Ende. Aber die Finger werden behänder und schneller und er hört die Eieruhr nicht mehr. Er spürt, dass er ihn bändigen kann, den Kasten, dass seine Kraft wächst, dass er darauf Kunststücke vollführen kann wie ein Akrobat, dreifache Salti, Pirouetten, waghalsige Sprünge in die Höhe und in den Abgrund. Alles gelingt ihm mit der Zeit und die krautkochende Blinowa steht neben ihm und zieht ihre dicke Unterlippe nach unten. „Nicht schlecht“, brummt sie, „nicht schlecht, mein Kleiner. Wer hätte gedacht.“
Er will nur noch spielen. Und spielen wollen auch die Kinder, die ihn hänseln, weil er seine Zeit lieber am Klavier verbringt. „Zebra“, rufen sie ihm nach. Weil es schwarz-weiß ist, wie die Klaviertasten. „Zebra“, oder „Klimperer“, oder „Tastenhauer“, was so ähnlich klingt wie Fleischhauer, und da zuckt er zusammen. Wenn er mit Zebra und Klimperer noch leben kann, so geht ihm der Vorwurf des Hauens nah. „Du musst singen“, sagt die Blinowa, und das spürt er, dass jede Musik vom Gesang herkommt. Sogar das Schlagzeug singt, hat eine Melodie und ist weit entfernt vom Schlagen, vom Hauen, vom Dreschen. Ein Sänger will er sein, ein Sänger ohne Worte und als stummer Sänger ein Lied singen, das von der Seele erzählt, von der Traurigkeit der Welt, von der Dunkelheit und vom Licht.


Langsam, stockend, staksend wie ein kleines Kind, das die ersten Schritte tut, ging Jakob Adametz zwischen den Tönen hin und her. G-a-g-a. „Gaga“, dachte er und musste fast lachen über das Wort, das er in dem Stück nie so erkannt hatte. Und welches Stück war es eigentlich? Ein Klavierkonzert von Brahms, von Mozart, von Beethoven? Es wusste es nicht. Was war anders an diesem Abend? War es der Sauerkrautgeruch, der seit Beginn des Konzerts von der zweiten Geigerin zu ihm herüberwehte, ihre herabhängende Unterlippe, die ihn an die Blinowa erinnerte? Er sah zu ihr hinüber. Sie erwiderte seinen Blick und zog die Nase nach oben, als wollte sie ihm anzeigen, dass er nun machen solle, das Ding zu Ende bringen, dass das Orchester auf Kohlen sitze und nur darauf warte, dass er seinen Triller in Fahrt brächte und die Spieler endlich einfallen könnten zum großen Finale. Adametz wendete den Blick, sah wieder auf die Tastatur, betrachtete verwundert seine Hand, seine Finger, die etwas an Tempo aufnahmen, als hätten sie den Schock des ungewollten Tons überwunden. G-a-g-a.
Verstohlen äugte er dann in die andere Richtung zum abgedunkelten Publikumsraum. Die Leute in der ersten Reihe waren noch beleuchtet vom Bühnenlicht. Dahinter erhoben sich die Ränge, die im Finstern lagen. Er, der Künstler dagegen als Lichtgestalt, herausgehoben aus der namenlosen Menge, er, Jakob Adametz, der Tastenmeister, der vor aller Ohren einen neuen Anfang nahm, einen neuen Start mit den Tönen g und a. Wandelte er wirklich auf so dünnem Eis, dass ihn der zufällig passierte, kaum gehörte Ton so aus der Bahn warf? Trotzig stemmte er sich gegen die Tasten, schlug sie stärker nieder. Und wenn der Triller vorher noch leise und verhalten aus dem Resonanzboden klang, gewannen die Töne an Dichte und Stärke. Er musste die Sache wieder in den Griff bekommen, wieder festen Boden unter den Füßen spüren.
Immer noch die Augen zum Publikum gedreht, sah er zwischen den alten und ergrauten Leuten in der ersten Reihe eine junge Frau sitzen. Er bemerkte ihr dunkles, langes Haar und eine Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war. Unbeweglich saß sie da mit halboffenem Mund, die langen Beine übereinandergeschlagen. Er spielte schneller, die Beine im Blick, begann zu laufen mit seinen Fingern wie diese Beine, die aussahen, als könnten sie tanzen und übers Parkett fliegen, über den Asphalt, als würden sie den Boden nicht berühren, schwerelos, nicht von der Welt. Das g und das a. Sie wurden schneller und schneller. Adametz spürte seinen Puls. Anita.


Sie öffnet die schwere Metalltür der Musikhochschule und kommt die Treppe herunter, die zur Arcisstraße führt. Nein, sie kommt nicht herunter. Sie tanzt, sie schwebt über die Stufen und die schwere Tür fällt hinter ihr sanft ins Schloss, als wüsste sie, wer sie geöffnet hat. Schneeflocken wirbeln mit ihr die Straße entlang. Aus ihrer Strickmütze fällt eine Strähne übers Gesicht. Sie steckt sie unter die Mütze hinter das Ohr und lacht ihn an.
„Kommst du mit heute Abend? Es gibt ein Fest. Coole Leute.“
„Ich muss noch üben“, sagt er. „Mein Prof erwartet viel von mir.“
Sie verdreht die Augen, nimmt seinen Schal an beiden Enden und zieht seinen Kopf zu sich her. „Mein Prof, mein Prof. Das höre ich von dir den ganzen Tag. Dein Prof erwartet viel von dir, Jakob? Das Leben erwartet viel von dir. Schau!“ Anita breitet die Arme aus und mit ihren himmellangen Beinen dreht sie sich mit den Flocken um die Wette über den Königsplatz. Jakob sieht ihr nach und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.
„Kommst du?“, ruft sie lauthals über den Platz.
„Ja“, schreit er zurück und erstickt das „a“ und macht schnell den Mund zu, weil er nicht gewohnt ist, laut über Plätze zu plärren. „Ja“, sagte er nochmal leise. „Ja, ich komme.“

Anitas Freunde tragen die Haare lang. „Komm, wir spielen“, begrüßen sie ihn. „Du kannst doch ein wenig klimpern. Deep Purple? Smoke on the water? Mach uns ein wenig den Jon Lord! Ran an die Hammond!“
„Habt ihr Noten?“, fragt Jakob und sieht zu Anita hinüber, die die Lippen zusammenzieht und den Kopf schüttelt.
„Noten, er will Noten“, rufen sie und lachen, und der Gitarrist steht auf, hängt sich das Instrument um und stellt sich vor Jakob hin.
„Weißt du, was wir mit Noten machen?“, fragt er. „Das hier.“ Er lässt den Arm hochfahren und schlägt mit Wucht in die Saiten, dass es aus dem Verstärker schallt. Jakob zuckt zusammen. Dann spielt er weiter, und Jakob erkennt die Melodie. Die amerikanische Nationalhymne, verzerrt, johlend, kreischend, gequält. Der Gitarrist reißt an den Saiten, er schlägt darauf ein, rupft sie wie Hühnerfedern, zerrt an ihnen und biegt dabei seine Hüfte vor, als würde er auf seinem ... Nein, Jakob mag es nicht einmal denken, aber doch. Der Gitarrenhals ist sein Schwanz, der Spieler zeigt voller Stolz seinen verdammten Schwanz her und spielt darauf die Hymne. Mit dem letzten Akkord lässt er den Kopf hängen, und sein langes, lockiges Haar fällt wie ein Vorhang über seine Brust herab. Dann wirft er energisch den Kopf in den Nacken. Sein Schopf fliegt zurück. Lange sieht er Jakob an.
„Jimi Hendrix“, sagt er. „Das war Jimi Hendrix. Kennst du?“
„Das ist keine Musik“, sagt Jakob. „Das hat keine Form, keine Anmut.“
„Anmut?“, wiederholt der Gitarrist langsam und blickt fragend in die Runde. „Anmut! Wen interessiert Anmut?“
Anita zieht ihn weg. „Du bist peinlich“, flüstert sie. „Lass dein gekünsteltes Gerede.“
„Du bist nicht Schubert, du bist nicht Beethoven“, sagt sie später. „Du bist du!“
Das weiß er auch. Und als sie ihn lange küsst, fühlt er, was es hieße, er zu sein, was es für Folgen hätte und er läuft vor den Langhaarigen davon, weil er Angst hat, dass seine Hymnen auch verzerrt werden könnten, dass der Rausch, den er bei ihr spürt, seine klaren Gedanken trüben würde, die er braucht, um Schubert und Brahms zu verstehen.


Er schloss die Augen. G-a-g-a. Du sein. Als ob das so einfach gewesen wäre für ihn. Er war immer ein Gefäß, in das die Musik vergangener Zeiten hineingegossen wurde. Er war die Bühne, auf der Bach und Schubert tanzen konnten. Aber er musste seine Beine ruhig halten. Er durfte nicht tanzen. Und schon die läppischen zwei Töne, das g und das a machten ihm Angst, dass er vom rechten Weg abwich, einmal seine Sache machte. Nur seine. Nicht das, was vorgeschrieben war.
Aber wenn er die zwei Töne wie der Gitarrist damals, anders spielen würde? Sie jetzt, hier, vor allen Leuten in ein heulendes Rattern verwandeln würde wie das einer Bohrmaschine, oder wie das eines Häckslers, dessen Schneidwerk Äste in kleinste Teile zerfräst? Sich einmal auflehnte gegen die Konvention, gegen das schöne Singen. Einmal mutig sein.
Er wirbelte die Finger hin und her im schnellsten Wechsel, den er zustande brachte, dass man keinen einzelnen Ton mehr erkennen konnte und wurde lauter und lauter. Ja, so hätte er seine Lieder verzerren müssen, zerstören, wie Hendrix die Nationalhymne, einreißen, Farbe bekennen, wie Anitas Freund. Zu spät. Aber doch. Hier. Jetzt. Mit den beiden Tönen. Vielleicht könnte er es jetzt tun und das Spiel auf die Spitze treiben. Ein wahnsinniges Geplärr sollten die Töne werden, sollten den Zuhörern in die Ohren fahren, bis die Frauen in ihren mottenmiefigen Roben aus dem Saal stürzten und ihre vom Alter gebückten Männer hinterher. Und in den schwarzen Kasten, in das glanzlackierte Ungetüm, dem er sein Leben geweiht hatte, würde er seine Finger hineinhobeln, bis nur noch kleine Schnitzel übrig blieben, ofentaugliche Späne, die er ins Feuer schleudern könnte, wo das Sinnbild seiner Einsamkeit und seiner Leblosigkeit in einem letzten infernalischen Qualm ein Ende finden würde.


Einmal besucht er sie noch in der Kommune auf dem Land. Die Langbärtigen flößen ihm Respekt ein. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, spielen ihre Musik und verlangen nichts dafür.
„Wovon lebt ihr?“, fragt er. Wieder lachen sie und Anita zieht ihn nicht mehr zur Seite.
„Wir sind Vagabunden wie du, Schausteller, die auf dem Marktplatz die Trommel rühren“, sagt sie.
„Bei mir ist es anders. Meine Kunst ist anders.“
Sie lacht ihn aus. „Du machst dir was vor, Jakob. Geh!“, ruft sie ihm nach.
Er dreht sich nicht um und zieht aus dem Dorf hinaus als Fremder. Ein Hund bellt ihm hinterher.
Sie behält Recht. Er wird ein Vagabund, tritt in die Manege im glitzernden Anzug, drückt mit der einen hefeteigweiche Hände und nimmt mit der anderen die Beträge entgegen, die hoch und höher werden bis zur Obszönität. Spring, Künstler, spring. Spring über das Stöckchen, mach Männchen, balanciere auf der Straßenbahnschiene zwischen Himmel und Hölle, schlage den Purzelbaum.

„Spielen sie für ihn“, flüstert ihm sein Agent schmeichelnd ins Ohr. „Es wird sich lohnen.“
Und er geht über den weißen Marmorboden in dessen Palast, drückt Hände und spielt Chopin.
„Dort trittst du auf? Beim Diktator. Du verrätst die Kunst!“, schimpfen die Kollegen. Er weiß es und spielt, weil er meint, sein Lied von der Traurigkeit der Welt kann etwas ändern. Aber es ändert nichts. Überhaupt nichts. Er ist Zierrat, nur Unterhaltung und als er in den Nachrichten die Toten sieht, weiß er, dass die Musik niemanden zu einem besseren Menschen macht.


Adametz spielt und spielt, treibt seine Finger an wie ein Kutscher, der auf die Pferde eindrischt, weil er vor Einbruch der Winternacht zu Hause sein will. Die zwei Töne. Sie sollten ein Neubeginn sein. Stattdessen dreht er sie hohl im Kreis, ziellos, sinnlos. Sie wirbeln dahin und er weiß nicht, wie er aufhören soll. Leer sind die Töne, weil er sie zu oft gesagt hat, zu oft gespielt. Weil er sie drehte und wendete, hinaufwarf und fallen ließ, bis sie ihren Inhalt verloren, ihren Sinn und ihr Gewicht. Er schaut wieder in den Zuschauerraum, fragend, suchend, als läge in den halbdunklen Sitzreihen die Lösung, wie er die Sache aufhören könnte.
Und dann sieht er zu ihr. Sie hebt den Arm, ganz langsam, und streicht sich die Strähne, die ihr Gesicht fast in der Hälfte teilt, hinter das Ohr. Er zuckt zusammen, und ein kalter Schauer überfährt ihn, als hätte jemand alle Saaltüren auf einmal aufgerissen und ein eisiger Schneewind wehte herein. In seinen Ohren saust es. Seine Augen flimmern. Er sieht kleine, blitzende Lichter um sich herumschwirren. Schneeflocken. Ja, es sind Schneeflocken. Sie fallen auf seine Hand. Er sieht den Kristallen zu, wie sie auf dem Handrücken schmelzen und spürt mit jeder Flocke einen Stich, als wären es Nadeln, die in seiner Haut steckenbleiben. Dann packt ihn der Frost mit scharfer Klinge, fährt in seine Fingerbeugen, ritzt die Kuppen, schneidet die Knöchel auf bis auf den blanken Knochen. Adametz beißt sich auf die Zunge. Der Wind pfeift ihm ins Gesicht. Mit zugekniffenen Augen versucht er, das Tempo zu halten. Schützend beugt er sich über die Klaviatur und als er im Windschatten des Tastendeckels die Augen öffnet, sieht er seine Hand von einer Eisschicht überzogen. Schollen lösen sich von den Fingern, die sich gegen die Kälte wehren. Aber sie werden langsamer und langsamer, und je mehr ihre Bewegung abnimmt, desto mehr klammert sich das Eis an die Haut wie ein fester Panzer, wie eine kalte Kruste, die sie zum Stillstand zwingt. Adametz hört ein helles Klacken, als er seine Eisfinger in immer länger werdenden Abständen auf die Tasten setzt. Die Töne werden leiser und spärlicher, werden immer kleiner und unscheinbarer wie die immer kleiner werdenden Matrjoschkas auf dem Küchentisch der Blinowa.

Mit weit aufgerissenen Augen und vorgeschobenem Unterkiefer verfolgt der Dirigent jede einzelne Matrjoschka und bei der letzten kaum mehr hörbaren, kaum mehr sichtbaren dreht er sich blitzschnell um, sticht mit seinem Stab in die Luft und reißt das Orchester aus der fassungslosen Lähmung, in die es Adametz‘ Spiel versetzt hat. Wie eine in der Nacht vom Feind überraschte Armee packen sie ihre Instrumente und tönen wirr durcheinander. Aber der chaotische Aufbruch ordnet sich nach kurzer Zeit. Die Reihen formieren sich und sie marschieren dem Ende entgegen. Mit einem donnernden Akkord, den sie nicht lange aushalten wie üblich, sondern kurz in den Saal schmettern wie einen Kanonenschlag, ist es vorbei.

Adametz sitzt bewegungslos am Flügel. Es herrscht Stille. Kein Laut, kein Husten, kein Räuspern. Atemlose Stille. Nichts.
Da springt in der ersten Reihe die Frau auf und ruft laut: „Bravo, Adametz! Bravo!“ Steht alleine da, und die Augen richten sich auf sie, wie sie dasteht auf ihren langen Beinen und klatscht. Als hätte es ein Kommando gegeben, erheben sich alle. Ein rauschender Applaus brandet auf wie eine Woge, die den Saal erfüllt.
Ob es Schweiß oder Tränen sind oder geschmolzenes Eis, das er sich über das Gesicht wischt, weiß er nicht. Er legt die feuchte Hand auf den Flügelrahmen, zieht sich daran hoch und geht mit gebeugtem Kopf, langsam und schlurfend in die Mitte der Bühne. Als er zögerlich die Arme hebt, wird der Beifall noch heftiger. Er wendet sich zu ihr, sieht sie an, legt seine Hand aufs Herz und verbeugt sich. Sie erwidert seinen Blick, hält inne im Applaus und nickt ihm mit ernster Miene zu.
„Ich komme“, sagt er leise. „Ja, ich komme.“

 

Boah!
wie wunderschön!
Eine Geschichte, an der ich überhaupt nichts zu meckern habe, die mich umflossen hat in all ihrer Harmonie, das war eine wundervolle Auszeit. Wirklich eine Freude, das zu lesen. Hier sitzt jeder ton. Bei dieser Länge eine beachtliche Leistung. Ich habe mich an Shine erinnert gefühlt, den Film über den Pianisten David Helfgott. Kennst du bestimmt. Habe ich gleich Lust bekommen, den wieder mal zu sehen. Oder Musik von ihm zu hören. Ja, die mach ich mir jetzt an. Zum Ausklingen.

Um nicht nur zu lobhudeln, drei kleine Patzer:

Notentext der alten Komponisten ,und dafür wurde er geliebt.
hier ist dir das Komma verrutscht
rupft sie wie Hühnerfedern, zerrt an ihnen und biegt dabei seine Hüfte vor, als würde er auf seinem. Nein, Jakob mag es nicht einmal denken, aber doch. Der Gitarrenhals ist sein Schwanz,
hieratischen wolltest du sicher drei Auslassungspunkte setzen. So kann man das nicht lassen
Sie lacht ihn aus. „Du machst dir was vor, Jakob. Geh“, ruft sie ihm nach.
Aufforderung, Ausrufezeichen fehlt.
Auch sehr stark diese Begegnung.
Er ist Zierrat, nur Unterhaltung und als er in den Nachrichten die Toten sieht, weiß er, dass die Musik niemanden zu einem besseren Menschen macht.
Was für eine starke Szene! Wow.

Mehr Konstruktives habe ich nicht zu bieten. Für ich ein klarer Anwärter auf den Thron.
Danke für die tolle Geschichte

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo @rieger,

auf den Anschlag kommt's an, wie man die ersten Töne ansetzt, wie sie sich schwingen, erheben, jauchzen, klagen, weinen. lachen, eben Gefühle hervorrufen. Der Triller, den der Text besingt, ist ein solcher Anschlag. Aber auch ein Triumph der Freiheit für den Pianisten, im Anschlag, im Triller behält er die Hoheit, gar nicht anders als Jimi Hendrix.

Zwei Beispiele. Martha Ärgerlich, die Grand Dame der Virtuosen, spielt zu Neujahr das b-Moll-Konzert von Tschaikowsky, der Anschlag misslingt, die ersten Takte verspielt sie sich, Fehler, die jeder hören konnte, als wäre sie ein Durchschnittspianist wie unsereins, danach geschieht etwas Wunderliches, sie spielt wie ein Engel, der zweite Satz dringt direkt ins Herz. Oder Glenn Gould, der wie ein Zauberer jeden Ton anders setzte, wie alle anderen zuvor, obwohl gerade bei Mozart, gar nichts anklang, wie man erwarten könnte, alles süßlichmozartische vermissen ließ.

Und wenn wir schon bei Glenn Gould sind: kann man einen Text über Meisteroianisten schreiben - nach Thomas Bernhards "Untergeher"? Ja, kann man, du kannst es! Wenngleich ich die Kernaussage bezweifle. glaube, dass E.Musik und U-Musik sich dahingehend nicht so wesentlich unterscheiden, wie du das schilderst, jedenfalls nicht, wenn du Hendrix als Beispiel wählst und eben nicht Leute aus dem Jazz. Hendrix hat schließlich auch nur seine Hits variiert und tausendmal erwartbar gekrächzt.

Zur sprachlichen Gestaltung: viele Passagen sehr musikalisch, ineinander verwoben, ohne dabei an Klarheit zu verlieren. Okay, im zweiten Teil, gerade gegen Ende, hätte ich mir eine triunphierendere Gestaltung gewünscht, ein sprachliches Final, aber da werden mir die Sätze zu minimalistisch, obwohl die Gefühle des Protagonisten doch den Blutdruck antreiben.

Noch was: den Kunstgriff, die Vergangenheit im Präsens, die Gegenwart im Präteritum zu beschreiben, hat mich anfangs gestört, dann habe ich mich dran gewöhnt, fand es aber doch recht prätentiös.

Mozart verwendete ihn oft und Beethoven in den Klavierkonzerten.
gibt's eigentlich nur Mozart und Beethoven? was ist mit Chopin? Prokofjew, Glass, Bach, all den anderen?

in den Verwirbelungen und Drehungen, die sie um sich selbst vollführen, aufscheint wie ein Strahl, um eine Lichtschneise in die Dunkelheit zu schlagen, wie ein Seil, auf dem man hinüberbalanciert in ein anderes Land, gedreht aus dünnsten Fäden, aus feinstem Garn, aus Schall und Rauch.
:Pfeif:

ein heiserer Ruf aus dem Flügel heraus, gerade noch hörbar und der Stille näher als dem Klang.
:Pfeif:

Nie unterlief ihm eine falsche Note, ein Aussetzer, er hatte das Instrument im Griff, hielt es am Zügel, erfüllte genau den Notentext der alten Komponisten, und dafür wurde er geliebt.
ne, dann kann er kein Meister sein, oder er heißt Alfred Brendel?:lol:

„Du musst singen“, sagt die Blinowa, und das spürt er, dass jede Musik vom Gesang herkommt.
Glenn Gould hat beim Spielen gesungen, manchmal auch während eines Konzerts, muss genervt haben.

Ein Klavierkonzert von Brahms, von Mozart, von Beethoven?
okay, Brahms gibt's auch noch, was ist mit Haydn?

Der Gitarrenhals ist sein Schwanz, der Spieler zeigt voller Stolz seinen verdammten Schwanz her und spielt darauf die Hymne.
den Vergleich habe ich einfach zu oft gehört:thdown:

Aber wenn er die zwei Töne wie der Gitarrist damals, anders spielen würde? Sie jetzt, hier, vor allen Leuten in ein heulendes Rattern verwandeln würde wie das einer Bohrmaschine, oder wie das eines Häckslers, dessen Schneidwerk Äste in kleinste Teile zerfräst?
kann er doch machen!

Sie erwidert seinen Blick, hält inne im Applaus und nickt ihm mit ernster Miene zu.
„Ich komme“, sagt er leise. „Ja, ich komme.“
das Ende befriedigt mich nicht, ehrlich gesagt (siehe oben)

Trotz ein paar weniger Kritikpunkte, ganz wunderbarer Text
Isegrims
(ich höre mir jetzt Ding Lipatti an, yea, zum einschlafen)

 

Hallo @Kanji,

vielen Dank für Deinen Kommentar! Deine Einschätzung des Textes freut mich wirklich, weil für Dich die unterschiedlichen Passagen zueinander passen. Das wird ganz kontrovers beurteilt und ich hatte auch Vorbehalte. Das mit der erklärenden Einführung, mit der langgezogenen Konzertbeschreibung. Auch das mit der Politik dachte ich, ob das nicht zu dicke aufgetragen ist, so ein kleiner Schwenk dann am Ende, um dem Ganzen mehr Bedeutung und eine weitreichendere Beziehung zu verleihen. Das siehst Du nicht so. Und das tue ich eigentlich auch nicht, weil es ja tatsächlich eine Grundfrage ist, was Kunst überhaupt kann, ob Kunst überhaupt eine Veränderung, eine Läuterung, eine Verbesserung oder was auch immer bewerkstelligen kann. Das ist ja eine unheimlich vielfältig diskutierte Frage, die von Resignation bis zum Glauben an die Allmacht von Kunst reicht, wenn man die ästhetischen Konzepte der Vergangenheit anschaut, von Kant bis Schopenhauer und Nietzsche. Das ist jetzt nicht das Thema der Geschichte, aber irgendwie hat mich das gejuckt, das doch ins Spiel zu bringen und schön, dass Du das so bemerkst. Und dann kann der Künstler in einer zweifachen Rolle sein als Verführer und Verführter, der sich andient, wie es zum Beispiel auch im Mephisto von Klaus Mann thematisiert wird. Diese schillernden Gestalten, die dann ins Zwielicht der Macht geraten und am Ende sehen, dass die hehre Kunst doch viel weniger bewirkt, als sie dachten.

Zur Vorhersehbarkeit: Ja, das stimmt natürlich. Der Text arbeitet schon mit den Klischees der strengen Russin, der frechen Revoluzzer der 68er, der streng züchtigenden Klassik. Man könnte die Story schon anders aufziehen, die Revoluzzer als bieder demaskieren, den Klassiker als Freien darstellen und eine weiche Lehrerin aus Russland dazu. Da hast Du schon Recht. Das Spiel mit den Klischees ist natürlich einfacher, es ist vorgegangen und betreten und in dem Feld findet man sich gut zurecht. Aber das hätte natürlich ein ganz anderes Narrativ als Grundlage erfordert. Aber danke für den Hinweis, weil er mir das auch nochmal ziemlich klar vor Augen führt.

Beste Grüße!

rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Willi,

in der Kürze liegt die Würze. Vielen Dank für Deinen schönen Kommentar und schön, dass Dich die Geschichte wieder in den „Sumpf“ gezogen hat. Ich hoffe, Du kommst auch immer wieder mal raus.

Beste Grüße
rieger


Liebe @Chutney,

vielen Dank für Deinen schönen Kommentar, der wirklich balsamisch ist! Es gibt ja immer so Lesegewohnheiten und manchmal trifft man die und manchmal nicht und oft, glaube ich, gehört auch eine bestimmte Stimmung dazu, dass man sich in einem Text besonders mitgenommen fühlt. Das ist bei Dir gelungen und das ist einfach toll. Kann ich nicht anders sagen. Gleichzeitig weist Du auf eine Sache hin, die natürlich nicht ganz ohne Probleme ist. Wenn der Stil so über der der Sache steht und den Inhalt verdeckt, dann stimmt natürlich die Balance nicht. Dann wird das so ein l’art pour l’art-Geschreibsel, in dem mit dem Material gespielt wird, aber nichts mehr dabei an Inhalt rumkommt. Aber Du schreibst, dass Du das nicht nachteilig empfindest. Zum Glück.

Und dann die Sache mit dem Kreisel um den einen Ton. Da haben einige schon was dazu geschrieben, ob das realistisch ist, ob man das so verengen und so sehen kann. Deine Gedanken dazu finde ich wirklich treffend. Dass da wie in einem Brennglas sich etwas spiegelt, verdichtet und deshalb muss es auch die Form sein, die musikalische Form des Trillers, in der die Erinnerung sich dreht und wendet. Das setzt voraus, dass man den Triller als Metapher akzeptiert. Aber nicht nur. Es gibt natürlich in der Musik Tonfetischisten, die auf dem Ausdruck einzelner Töne bestehen und im Grunde ist das auch der Weg zum Klangzauber, vor allem auf dem Klavier. Der hat seinen Anfang tatsächlich im Ereignis des einzelnen Tons und vor allem dann in der Balance mit anderen Tönen und das ist eine höchst delikate Angelegenheit, die sehr oft unterschätzt wird. Insofern ist die Trillergeschichte nicht nur überspitzt. Im Grunde ist sie das natürlich, da haben die Kritiker schon Recht. Aber es steckt auch ne Menge an Kern drin, um den es in der Musik geht. Diese Tonsache ist bei Debussy enorm stark oder bei Pärt, aber im Grunde aus keiner Musik wegzudenken als Wurzel dessen, was Klangkraft bedeutet.

Die zwei „wies“, die Du anmerkst, haben mich auch schon gestört. Da muss ich nochmal drüber.

Danke für Deine Gedanken und für Deine Zeit!
Beste Grüße
rieger

Hallo @weltenläufer,

freut mich, freut mich! Ich kenne den Film und das ist ein sehr bewegendes Dokument. Spielt er nicht Rachmaninow? Die Fehler, die Du gefunden hast, habe ich ausgebessert. Danke! Ja, ich bin auch immer wieder erstaunt über die Kraft, die von Musik ausgehen kann, weil Du Ausklingen schreibst. Manchmal geht es mir so, dass ich die Klassische Musik gern für abgehalftert halten möchte, für ausgeleiert, weil sie doch alt ist und der Faktor des Zeitgenössischen, den es in der Bildenden Kunst gibt, fast fehlt. Aber leider gibt sie halt noch viel her, das kann man schlichtweg nicht leugnen. Und eine Beethoven-Sonate ist eben dann doch irgendwie ein Wunder an tönend bewegter Form, wie das Hanslick genannt hat. Besten Dank für Deine Zeit!

Herzliche Grüße
rieger


Hallo @Isegrims,

so viele Anregungen und Gedanken dazu! Deine Antwort habe ich sehr gerne gelesen und bedacht. Ja, der Untergeher ist mir natürlich auch im Kopf umgegangen, wie ich das geschrieben habe. Auch an die Jelinek mit der Klavierspielerin habe ich gedacht und überhaupt ein paar Pianisten wieder mal genauer angeschaut. Gould ist natürlich eine Welt für sich, da kommt keiner vorbei, der sich mit dem Thema beschäftigt und an Argerich genauso wenig.

Zur Schlusspassage: Da habe ich tatsächlich versucht, nicht durchzubrennen und bin in den Sätzen lieber kürzer geblieben, um das Inhaltliche nicht auszuhebeln. Aber eine Möglichkeit wäre es natürlich, dann nochmal aufs Gas zu gehen und die Sache an die Wand zu steuern.

Die Zeiten: Klar, prätentiös ist das. Ich wollte der letzten Szene dadurch einen anderen Drall geben. Dass jetzt eine andere Phase eingeläutet wird, dass sich jetzt die Zeiten berühren. Das war der Gedanke dahinter.

gibt's eigentlich nur Mozart und Beethoven? was ist mit Chopin? Prokofjew, Glass, Bach, all den anderen?

Unbedingt. Die Aufzählung erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit.

Zum Meister: Da gibt es ja auch ganz unterschiedliche Ansätze. Brendel ist natürlich schon der hohe Sachwalter. Wenn man Sviatoslav Richter ansieht, der als einer der wenigen mit Noten spielte, wenn ich mich recht erinnere, weil ihm Werktreue wichtiger war als der Effekt.

Die Goldbergvariationen von Gould sind unter anderem legendär, weil er mitsingt. Das ist bei ihm aber ganz erstaunlich, weil er ja nicht nur die Oberstimme singt, sondern den Kontrapunkt raushebt. Aber das war natürlich schon eine besondere Masche.

Haydn: Steht gleichwertig neben Mozart und Beethoven, klar. Wird chronisch unterschätzt.

Schwanz: Ja, das ist die übliche psychoanalytische Deutung des Gitarrenhalses. Den gesenkten Daumen muss ich mir gefallen lassen.

Das Ende: Zu rührselig für Dich? Mich hat der Rekurs auf die versäumte Situation auf dem Platz gereizt. Er spielt das neu durch und kann vielleicht irgendwie anders weitermachen. Das war die Idee.

Besten Dank für Gedanken und Zeit!
Herzliche Grüße
rieger


Hallo @Manlio,

maulen ist wunderbar.

Das klingt, als hätte sonst niemand den Triller benutzt, als wärs ein Patent der Wiener Klassik. Seltsam ausschließlich, und kaum so von dir beabsichtigt. Was ist mit "the godfather of baroque" JSB und zig anderen Komponisten? Was ist mit Beethovens Klaviersonaten, Sonatinen etc.?
Korrekt, aber ich wollte das nicht zu enzyklopädisch aufziehen und nur die bekanntesten Leute erwähnen für alle anderen.

Wirklich, nenn mir mal ein Youtube-Video mit einem scheußlichen Triller, dann bin ich überzeugt. Erst dann.
Ein Triller kann in der Tat scheußlich klingen, wenn man das Gras wachsen hören mag. Das hängt von der, sag ich mal, Variabilität des Klangs ab. Wenn er sehr starr in Tempo und Lautstärke ausgeführt wird, wenn er nicht organisch rüberkommt, dann klingt er stocksteif und maschinell. Eben wie ein Telefon. Ob es das auf youtube gibt, weiß ich nicht.

Das Letzte: Wie weiter oben schon geschrieben. Es geht um den Triller, der in der Schlusskadenz kurz vor dem Orchestereinsatz kommt. Oder 5. Klavierkonzert von Beethoven, 2. Satz gegen Ende. Ein sich nach oben schraubender Triller, der nicht nur verziert, sondern das ist, worum es geht.

Stimmt allerdings, dass die Sichtweise hier völlig verengt ist. Das muss man annehmen oder auch nicht, sonst verfällt der Text. Klar. Wort und Ton zu vergleichen hat allerdings seine Grenzen, weil ein Ton nichts und alles sagen kann, ein Wort aber nur einen begrenzten Inhalt hat. Insofern ist die Musik und damit auch ein Ton unbegrenzt in der Aussage im Gegensatz zur Sprache, außer man beschränkt sie aufs Phonetische, was es in der Musik auch gibt, dass Sprache von der Semantik gelöst wird. Aber das meinst Du ja nicht.

Vielen Dank jedenfalls für Deinen Kommentar und Deine anregenden Gedanken!

Beste Grüße
rieger

 

Hallo @Manlio,
besten Dank nochmal fürs Nachhaken!
Stimmt, mit dem Einwand Nummer eins hast Du schon Recht. Das hatte einen ganz praktischen Grund, weil beim Klavierkonzert das Orchester auf der Bühne sitzt und da waren dadurch ein paar Illustrationen möglich, das mit der zweiten Geigerin, der Einsatz des Dirigenten, also eine erweiterte Räumlichkeite sozusagen, die nur mit dem Adametz und dem Flügel allein nicht geklappt hätte. Also eine ganz pragmatische Entscheidung.
Die Sache mit dem Konzept ist schon eine sehr spannende Frage. Was bedeutet das Detail, was das Ganze? Die Verengung auf den Triller ist natürlich eine gemeine Metapher, die die Musik zeitlich verengt auf ein paar Sekunden. Bei Webern gibt es die Idee, dass man einen Roman mit zwei Tönen erzählen kann und der verwebt aber dann die Töne so komplex in die Komposition, dass daraus ein Konzept entsteht. Passt also auch nicht zu meiner Geschichte. Bei Bach ist das tatsächlich ähnlich. Also: Ich muss passen und auf das Metaphorische in dem Text verweisen. Das muss man annehmen, damit es geht.
Beste Grüße und Dank für die Anregung!
Sehr herzlich
rieger

 

Lieber @rieger

Den Text habe ich sehr gerne gelesen. Mich spricht die Thematik sehr an, das eine Leben, für das man alles gibt, und dann kommen die Momente, in denen der Verzicht deutlich wird, der Preis, den man gezahlt hat und immer noch zahlt. Da ist es mir dann auch egal, dass ich keinen grossen Zugang zur Musik habe, im Gegenteil, es hat sich mir eine Welt eröffnet, nicht eine völlig neue, aber doch tiefer als mir bekannt.

Meisterhaft, wie souverän du mit der Zeit umgehst, von einer Sekunde erzählst und gleichzeitig ein ganzes Leben erfasst. Das finde ich eindrücklich und das werde ich aus dieser Geschichte ganz bestimmt mitnehmen, und noch einges sonst.

Die Sprache, ja, da gehst du an die Grenze dessen, was ich noch so mag. Aber ich mochte es! Einzig das hier war mir too much:

ist er das Letzte, was die Musik noch sagen kann, das Wichtigste, das in den zwei verlorenen Tönen, in den Verwirbelungen und Drehungen, die sie um sich selbst vollführen, aufscheint wie ein Strahl, um eine Lichtschneise in die Dunkelheit zu schlagen, wie ein Seil, auf dem man hinüberbalanciert in ein anderes Land, gedreht aus dünnsten Fäden, aus feinstem Garn, aus Schall und Rauch.

Strahl, Lichtschneise, Seil, Land, Fäden, Garn, Schall, Rauch. Da hängt sich mir das Gehirn auf und ich finde das auch schade, denn der erste Teil, dieses "das Letzte, was die Musik noch sagen kann" hat mir sehr gut gefallen. Das wird durch all die Bilder, die folgen, deutlich abgeschwächt. Aber Novak hat ja gesagt, du sollst nichts streichen und es ist besser, du hörst auf sie!

Bei der letzten Silbe reißt sie den Mund auf und blökt wie ein Schaf in der Weite der Tundra.

Hm. Metaphern sollten aus der Erfahrungswelt der Protagonisten stammen. Ich weiss nicht, ob das hier reicht. Was meines Erachtens besser ginge, wäre so etwas wie: "So mussten Schafe klingen, die in der Weite der Tundra blökten". Aber das ist natürlich sprachlich weit weniger elegant.

Ein Genuss!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn,
besten Dank für Deinen Besuch!
Mit der Sprache, ja, da bin ich sicher in manchen Abschnitten an eine Geschmacksgrenze gegangen. Das war mir auch bewusst. Irgendwie hat sich das so eingeschwungen im Stil und ich habe versucht, mit den etwas nüchternen Rückblenden einen Kontrapunkt zu schaffen. Deinen Einwand kann ich aber gut nachvollziehen, weil ich das Gefühl von Sprachüberdruss gut kenne, wenn zu dicke aufgetragen wird. Das Schwärmerische ist ja nicht ungefährlich in der suggestiven Art, das lullt einen ein und man wacht mit Kopfweh aus der Narkose auf. Aber es hat für Dich dann letztlich funktioniert und das freut mich sehr!
Die Lichtschneisengeschichte fanden etliche interessant aber überhaupt ist die Eingangspassage ganz kontrovers diskutiert worden. Ich dachte, dass ich irgendwie was Erläuterndes zum Triller brauche, was aber nicht nach Schulbuch klingen sollte. Das war ein Kompromiss, über den man streiten kann, ob das eine Geschichte braucht, ob sie nicht aus sich selbst leben können muss.
Bei dem blökenden Schaf hast Du einen Haken erwischt. Habe ich noch nicht gesehen. Das durchbricht tatsächlich die Erfahrungswelt des Jakob, außer er war schon mal in der Tundra und hat ein Schaf gehört, was unwahrscheinlich ist. Das sprachlich anders hinzubekommen, ist aber tatsächlich nicht leicht, weil die Stelle von der Direktheit des Vergleichs lebt. Schwierig. Ich denke drüber nach.
Genuss klingt wunderbar.
Besten Dank und beste Grüße!
rieger

 

Lieber @rieger,

ich habe gleich zu Beginn deine Geschichte gelesen, mich aber ein wenig schwer getan, mich dazu zu äußern. Das liegt nicht an deinem Text, sondern daran, dass ich eigentlich von Musik nicht viel verstehe. Zwar gehe ich jeden Monat in unsere schöne Philharmonie und lasse mich ein auf das, was mir die Pécser oder die Budapester Symphoniker darbieten, doch könnte ich keine theoretischen Aussagen über das, was ich höre, machen, weil mir die Kenntnis fehlt. Ich schaue deshalb einfach, was die Musik mit mir macht, auf welche Gedanken- oder Fanatasie-Reisen sie mich mitnimmt, ohne zu analysieren, was da im einzelnen passiert.
Das nur vorweg, um dir zu beschreiben, dass der musiktheoretische Teil deiner Geschichte mich weniger erreichen konnte.
Die eigentliche Geschichte allerdings doch. Und da muss ich dir sagen, dass dir hier ein sprachlich sehr feines Kleinod gelungen ist.
Möglicherweise weil mich der musiktheoretische Teil deines Textes nicht so berührt hat, konnte ich mich umso mehr auf deine Erzählstimme einlassen – und die hat mir von Anfang bis Ende sehr gefallen. Ein wenig erinnert mich der Sound deiner Geschichte und die Art deines Erzählens an Geschichten von Autoren der Zeit vor Borchert, Böll, Aichinger u.a. (Das ist übrigens ein Gefühl, das ich auch schon bei deinem sehr schönen Text im letzten Jahr hatte.)

Gefallen haben mir diesmal ganz besonders die vielen gut gewählten Bilder und Vergleiche.
Zwei von vielen:

Er spürt, dass er ihn bändigen kann, den Kasten, dass seine Kraft wächst, dass er darauf Kunststücke vollführen kann wie ein Akrobat, dreifache Salti, Pirouetten, waghalsige Sprünge in die Höhe und in den Abgrund.

Sogar das Schlagzeug singt, hat eine Melodie und ist weit entfernt vom Schlagen, vom Hauen, vom Dreschen. Ein Sänger will er sein, ein Sänger ohne Worte und als stummer Sänger ein Lied singen, das von der Seele erzählt, von der Traurigkeit der Welt, von der Dunkelheit und vom Licht.

Gestockt habe ich nur zweimal:

Es geht um das Sauerkraut-Motiv:

Jede Woche balanciert er die Straßenbahnschienen entlang bis zur Eingangstür in der Radetzkystraße und spielt die Tonleitern im Sauerkrautdampf.

In den kurzen Pausen sitzt er am Küchentisch gegenüber dem Krauttopf

Alles gelingt ihm mit der Zeit und die krautkochende Blinowa...

War es der Sauerkrautgeruch, der seit Beginn des Konzerts von der zweiten Geigerin zu ihm herüberwehte, ihre herabhängende Unterlippe, die ihn an die Blinowa erinnerte?

Ich denke, dass ein Geruch sich in Textilien festsetzt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Geigerin in ihrem Auftritts-Kleid Sauerkraut kocht oder sich mit ihm in ihrer Küche aufhält. Ich habe mich gefragt, ob es an dieser Stelle nicht auch nur die herabhängende Unterlippe getan hätte und das Sauerkrautmotiv lieber bei der Blinowa geblieben wäre.

Und dann hat auch mich gleich beim ersten Lesen die Tundra gestört:

Bei der letzten Silbe reißt sie den Mund auf und blökt wie ein Schaf in der Weite der Tundra.

Dieser Vergleich wirkt auf mich ziemlich weit hergeholt, irgendwie aufgesetzt. ‚Die Weite der Tundra‘ macht ihn für mein Empfinden nicht anschaulicher. Vermutlich möchtest du die Russland-Assoziation vertiefen, aber irgendwie ist mir das hier ein wenig zu gewollt.

Das aber alles nur so ganz nebenbei. Mir hat deine Geschichte und besonders ihre sprachliche Gestaltung sehr gefallen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe @barnhelm,
vielen Dank, dass Du in den Text reingeschaut hast. Was Du am Anfang zur Musikrezeption schreibst, ist, glaube ich, eine ganz grundsätzliche Frage. Was muss man wissen, damit einen eine Kunstform anspricht. Muss ich die Technik eines Autos verstehen, um davon zu schwärmen, oder die Geomorphologie der Alpen, um von ihnen beeindruckt zu sein? Ich glaube, es ist ganz und gar nicht naiv, so an Kunst heranzugehen. Ich glaube, dass sie letztlich so ist, so bildhaft und aussagekräftig sein muss, damit sie ohne Beiheft verstanden werden kann, ohne Gebrauchsanweisung. Wenn eine Kunst das braucht, ist das nicht unproblematisch und das betrifft ja den Vorspann meiner Story auch, in dem erst mal Theorie gepaukt wird, was unterschiedlich diskutiert wurde.
Gleich fällt dann aber der Naivitätsvorwurf auf mich zurück, wenn man an diese Aussagen Adornos Hörtypologie ansetzt. Er schaut auf die rein konsumierenden Hörer despektierlich herab und verlangt ein strukturelles Hören, das die Architektur des Werks offenlegt, die Bezüge und Entwicklungen. Von schwärmerischer Hingabe hält er nichts. Allerdings sind Adornos Ideen von der Erfahrung der NS-Zeit geprägt und ihrer hemmungslosen Korrumpierung des Kulturguts. Da konnte man einfach nicht mehr dahinträumen mit Mozart. Das ging einfach nicht. Da ist die Idee der Musikrezeption also mit der Geschichte verbandelt. Aber dennoch ist das eine, wie gesagt, grundsätzliche Frage, die ich hochspannend finde und auch unabhängig vom Zeitkontext besprechenswert.
Dass Dir das Sauerkraut sauer aufgestockt ist, kann ich verstehen, wenn Du die Zitate hintereinander anführst. Verdammt. Das kommt echt oft vor. Ist in der Menge vielleicht doch etwas viel Kraut. Da muss ich Dir Recht geben.
Der Tundravergleich wird auch ganz unterschiedlich bewertet. Mir war bei dem Bild auch nicht ganz wohl, weil ich da das Gefühl hatte, die Blinowa ein wenig zu verraten. Sie sollte streng rüberkommen, aber nicht überzeichnet sein. Da ist Deine Ansicht gerechtfertigt. Mal sehen. Danke jedenfalls für Deine Gedanken dazu.
Schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat! Ja, der Stil. Vielleicht habe ich in meiner Jugend einfach zu viel Thomas Mann gelesen und das färbt in den Texten ab. Ich bin da eigentlich immer auf der Suche nach einem passenden Ton. Und in dem Bildungskontext ist mir das passend erschienen. Ist ja auch irgendwie interessant, woher ein eigener Stil kommt. Jedenfalls schien er Dir stimmig zu der Sache. Und das freut mich sehr. Danke für Deine Zeit.
Liebe Grüße und schöne Adventszeit in Ungarn!
rieger

 

Liebe @maria.meerhaba,
Du hast Dich durch die Geschichte gebissen mit Hochs und Tiefs! Vielen Dank für die Zeit und für den Kommentar. Wenn ich das Plus und Minus zusammenrechne, passt Dein Gesamturteil am Ende ja ziemlich gut: Neutral zwischen gut und schlecht. Ja, es ist schon eine sehr spezielle Sache, da hast Du Recht. Deine Einwände beziehen sich aber auch weniger aufs Musikalische, als auf die technischen Dinge, wie die Zeitbehandlung und unklare Rückblenden. Ich denke, dass man von der Musik gar nicht so viel verstehen muss. Ja, man sollte das Konzertsetting kennen, was ein Orchester ist und so. Ein Triller ist dann schon wieder etwas fachlich. Darum habe ich den Artikel vorne dran gestellt. Ein paar haben sich drauf eingelassen, anderen ging es wie Dir, dass sie sich von der Infotainment-Sache gegängelt fühlten. Weil hier auch die Urteile fifty-fifty waren, habe ich es gelassen.
Was Du zur Zeit schreibst, zur Dehnung, das war ein Experiment. Klar, dass der Moment eben nur einen Triller lang dauert und da steckt ja schon im Titel ein Verweis auf die Streckung, wenn man die Länge des Textes vor sich hat. Das kann nicht gehen, dass er den Triller so lang spielt, wie es das Lesen des Textes beansprucht. Der Plan war, die Spannung zwischen subjektiver und objektiver Zeit darzustellen, was unweigerlich zu Längen führt, wenn man Assoziationen sprachlich ausformuliert. In Bildern geht das rasend schnell. Aber Sprache braucht halt, wie die Musik, auch Zeit, beide vermitteln sich in der Zeit. Das ist ihr Vor- und Nachteil und das war eigentlich auch das Thema der Story.
Die Diktator-Sache: Da habe ich auch gezweifelt, weil ich das recht dick aufgetragen fand. So ein Seitenhieb, der eine ziemlich große Sache berührt, die dann aber kaum ausgeführt wird. Andererseits fand ich es wichtig, dass sein Entwicklungsgang wenigstens kurz angerissen wird, damit man die Brüchigkeit, die an diesem Abend über ihn kommt, einordnen kann. Die Idee ist, dass er eben vor irgendeinem kriminellen Diktator gespielt hat und dachte, er könnte mit der Musik irgendwas bewirken, was nicht funktionierte. Das ist ja seit der NS-Zeit auch eine immer wieder bearbeitete Problematik, inwiefern Kunst humanitäre Ideale befördern kann, nachdem ein Kulturvolk, das mit Goethe und Beethoven aufwuchs, menschlich dermaßen scheiterte. Das fand ich als Grundidee spannend. Kommt aber wirklich recht kurz und verknappt daher. Das verstehe ich schon, dass Dich das irritiert.
Im Übrigen bin ich ein großer Techno-Fan. Was zum Beispiel die Jazzrausch-Bigband von Roman Sladek in München zur Zeit veranstaltet mit dem Technoprogramm, halte ich für sensationell. Das ist im wahrsten Sinn rauschhaft. Da ist die klassische Musik bei weitem domestizierter. Was sich aber da mit der Geschichte berührt, ist der Faktor Zeit, der ja im Techno durch die Wiederholungen endlos gedehnt wird. Am Ende weiß man nicht mehr, ob man 5 oder 20 Minuten zugehört hat. Der Triller sollte da einen ähnlichen Effekt beschreiben. Aber klar: Zum Abtanzen ist er nicht so gut geeignet. Das muss der Adametz innerlich erledigen.
Liebe Maria, besten Dank nochmal für Deinen ehrlichen und aufschlussreichen Kommentar!
Beste Grüße
rieger

 

Hey rieger,

was für eine wunderschöne Geschichte! Ehrlich, ich habe die so sau gern gelesen, weswegen ich hier auch nur vorbeistolpere um dir das mitzuteilen. Muss man doch sagen, wenn einem was gefallen hat, soll der Autor doch wissen!

Da löste sich ein Ton. Das g. Wie zufällig, ein heiserer Ruf aus dem Flügel heraus, gerade noch hörbar und der Stille näher als dem Klang. Adametz erschrak. Noch nie war ihm ein Ton ungewollt entkommen.
Was so ein kleiner Schweißtropfen doch für Folgen haben kann ...

„Er hat Talent“, sagt die Mutter.
„Wir werden sehen“, sagt die Blinowa und schiebt Jakob in die Wohnung.
Hehe. Das ist ja wie aus dem wahren Leben.

Ein Sänger will er sein, ein Sänger ohne Worte und als stummer Sänger ein Lied singen, das von der Seele erzählt, von der Traurigkeit der Welt, von der Dunkelheit und vom Licht.
Da hat aber einer einen echten Blues. Armer Mensch.

Sie verdreht die Augen, nimmt seinen Schal an beiden Enden und zieht seinen Kopf zu sich her. „Mein Prof, mein Prof. Das höre ich von dir den ganzen Tag. Dein Prof erwartet viel von dir, Jakob? Das Leben erwartet viel von dir. Schau!“
Ja, er sollte damit mal anfangen.

„Jimi Hendrix“, sagt er. „Das war Jimi Hendrix. Kennst du?“
„Das ist keine Musik“, sagt Jakob. „Das hat keine Form, keine Anmut.“
„Anmut?“, wiederholt der Gitarrist langsam und blickt fragend in die Runde. „Anmut! Wen interessiert Anmut?“
Anita zieht ihn weg. „Du bist peinlich“, flüstert sie. „Lass dein gekünsteltes Gerede.“
„Du bist nicht Schubert, du bist nicht Beethoven“, sagt sie später. „Du bist du!“
Ja, seine Welt ist sehr, sehr klein und eng. Da ist auch schön mit dem Sauerkraut. Gibt doch so viel Essen, aber ihm passiert immer nur Sauerkraut. Wobei man ja gegen Sauerkraut nichts sagen kann, da steckt schon sehr viel drin, es kann Zähne retten!

Und schon die läppischen zwei Töne, das g und das a machten ihm Angst, dass er vom rechten Weg abwich, einmal seine Sache machte. Nur seine. Nicht das, was vorgeschrieben war.
Ich mag die Idee so gern, das in diesen zwei Tönen seine Revolution liegt, seine Befreiung, seine Weltvergrößerung.

„Dort trittst du auf? Beim Diktator. Du verrätst die Kunst!“, schimpfen die Kollegen. Er weiß es und spielt, weil er meint, sein Lied von der Traurigkeit der Welt kann etwas ändern. Aber es ändert nichts. Überhaupt nichts. Er ist Zierrat, nur Unterhaltung und als er in den Nachrichten die Toten sieht, weiß er, dass die Musik niemanden zu einem besseren Menschen macht.
Ich fand den Schwenk interessant. Allerdings war ich vom Diktator überrascht, weil man das ja sofort zeitmäßig verorten will. Ich bin in Rumänien gelandet, aber die Namen passten doch nicht dorthin, und dann stand ich bisschen ratlos rum und dann war aber auch gleich wieder vorbei, ich mein, die Aussage dahinter, die mag ich schon sehr und ich habe mich gefragt, ob es wirklich unbedingt ein Diktator sein muss, oder ob alte Männer in Anzügen nicht auch gereicht hätten.

Adametz spielt und spielt, treibt seine Finger an wie ein Kutscher, der auf die Pferde eindrischt, weil er vor Einbruch der Winternacht zu Hause sein will.
Schönes Bild!

Die zwei Töne. Sie sollten ein Neubeginn sein. Stattdessen dreht er sie hohl im Kreis, ziellos, sinnlos. Sie wirbeln dahin und er weiß nicht, wie er aufhören soll. Leer sind die Töne, weil er sie zu oft gesagt hat, zu oft gespielt. Weil er sie drehte und wendete, hinaufwarf und fallen ließ, bis sie ihren Inhalt verloren, ihren Sinn und ihr Gewicht. Er schaut wieder in den Zuschauerraum, fragend, suchend, als läge in den halbdunklen Sitzreihen die Lösung, wie er die Sache aufhören könnte.
Und nach all den Jahren traut er sich was, weicht einen Schritt vom Pfade ab und dann kommt die Ansage, der kleine Adametz sucht seine Mutti. Steht da mitten im Gebüsch und hat nie gelernt, sich durchzuschlagen, weiterzugehen, auch ohne befestigten Wege. ich seh ihn da so gut in seiner Hilflosigkeit - schöner menschlicher Moment.

Ja, super schöne Geschichte, auch in ihrer Ruhe, in der Dramaturgie, in der Sprache.
Sehr gern gelesen!

Beste Grüße, Fliege

 

moin, moin @rieger,

keine Sorge, hier kommt keine wirklicher Kommentar mehr, es ist denke ich auch wirklich viel/alles gesagt. Aber Deine Geschichte schießt in der Bewertung durch alle Ränge und ich hab sie nach dem ersten Absatz abgebrochen - geht gar nicht.

Also Kulturbanause hin- oder her, jetzt habe ich sie durch, gleich zweimal. Einfach, um vielleicht doch einen geistreichen Komm schreiben zu können - wird nicht, fürchte ich, ich bin einfach kein poetischer Mensch. Aber Deine Sprache ist schön, mir nur einfach zuviel. Die Rückblicke, also die "Geschichte" fand ich wunderbar, ich hatte ein Bild, ein Gefühl für ihn, mein Kopf baute Deine Worte aus - sehr gelungen.
Das Konzert, ja, vielleicht mag ich Musik einfach lieber hören und nicht lesen, vielleicht muss ich es einfach üben ...
Eventuell darf ich mir diesen poetischen Text ja einmal für eine Schreibübung meinerseits "ausborgen", gefühlt kommt ein Teil der Ablehnung einfach aus dem unbekannten, neuen - man weiß es nicht.
Es war ein ausgesprochen interessantes Leseerlebnis, missen möchte ich es jetzt nicht mehr
Beste Wünsche
witch

 

Leider habe ich erst gestern Muße gehabt, @rieger, diesen deinen Text zu lesen, der mich, wie offenbar viele andere vor mir, stark beeindruckt hat. Du bewegst dich in diesem Musikermilieu sehr sicher, kennst dich aus mit Freuden und Nöten, die fast alle haben, die sich in sehr jungen Jahren einem Gebiet zuwandten, von dem sie nicht wissen konnten, welche Mühen es sie noch kosten wird. Und du kennst auch die Münchner Musikhochschule, im ehemaligen Führerbau der NSDAP untergebracht, in der eine eigentümliche Atmosphäre herrscht, vielleicht nur durch das Wissen um die Vergangenheit des Hauses ausgelöst.

Dein Prot ist ja auch eher ein Opfer der Umstände als des eigenen Willens: Von Mutter getrieben, muss er auf „gemeine“, altersgemäße Freunde und Spiele verzichten, wofür er Spott erntet, was ihn offenbar noch mehr zum Einzelgänger macht mit der Folge, noch mehr auf Erwachsene zu hören. Und die sind oft grausam, wenn es um die Auswahl der „richtigen“ Freuden geht.

Ein Kind ist wie Knetmasse formbar, wird zu oft das, was Eltern wollen. Später ist es zu spät, sich zu ändern, obwohl es auch Beispiele gibt, die das Gegenteil beweisen. Aber fast alle Virtuosen haben schon als kleine Kinder mit dem angefangen, was sie später so meisterhaft beherrschen. Das gilt nicht nur für Musiker, sondern für beinahe alle Berufen, die nach Finger-, Hirn- und/oder sonstigen Fertigkeit verlangen. Das ist keine neue Erkenntnis, schon Schiller ließ seinen Tell sagen: „Früh übt sich, was ein Meister werden will“.

Dein Jakob scheint sich erst spät darauf zu besinnen, dass die Arbeit zwar wichtig, aber nicht der Sinn des Lebens sein kann. Und Arbeit ist das, was er da spielt, ganz sicher. Sogar schwere Arbeit ist das, nicht umsonst tropft ihm der Schweiß während des Konzerts auf die Tasten, und wer je einen Dirigenten aus der Nähe sofort nach der Aufführung gesehen hat, weiß, dass der anschließend unter die Dusche gehen und seine gesamte Kleidung wechseln wird müssen.

Der Text ist sehr dicht, da und dort ein wenig überladen mit Bildern und Metaphern, aber im Großen und Ganzen stimmig, was ich als die wichtigste Voraussetzung für einen Text halte, der mir eine Geschichte erzählen will. Vor allem hat mir das Detailwissen beeindruckt, das in dieser Geschichte steckt. Und natürlich das nach und nach erkennbare Psychogramm des Prots, der sich erst als Grauhaariger traut auszubrechen aus der Gefangenschaft der Perfektion, die ihm einst im Kindesalter die russische Lehrerin eingepflanzt und die er bis dahin als das einzig Wahre gesehen hatte. Kompliment.

 

Hey @Fliege,
jetzt hast Du mich erwischt. Ich habe nämlich Deine Geschichte schon vor etlichen Wochen gelesen. Sie blieb mir im Kopf hängen, nicht zuletzt wegen des spannenden Titels, ich wollte sie unbedingt kommentieren und in der turbulenten Jahresendzeit bin ich nicht mehr dazu gekommen. Wird noch!
Bei Dir kommt der Text ohne Wenn und Aber an und das freut mich sehr. Einzig der Diktatorenausflug hakt ein wenig. Das habe ich schon ein paar Mal angemerkt, dass mir da auch nicht so wohl war dabei, weil die Sache so unvermittelt und drastisch daherkommt. Plötzlich wird eine Szene aufgerissen, die halt irgendwas zeigen soll, was mir wichtig schien. Dass der Adametz eben auf dem großen Parkett landet und von seiner Kunst mehr an Wirkung erwartet. Was mich besonders freut, ist, dass Du das Gefangensein-Bild in den zwei Tönen akzeptierst, ohne nach der technischen Realisierbarkeit zu fragen. Dann kann man die Story auch als eine Metapher nehmen und dann funktioniert sie. Wenn man den Wirklichkeitsmaßstab ansetzt, eher nicht. Aber eine Geschichte kann ja wahrscheinlich eine eigene Wirklichkeit entfalten, kann eine eigene Logik haben und die hast Du rausgelesen. Freut mich sehr!
Danke für die Zeit und für den schönen Kommentar!
Herzlich und ein gutes Neues!
rieger

Guten Abend @greenwitch,
vielen Dank, dass Du Dich durch den Text gearbeitet hast. Sogar mit Wiederholung! Ausborgen jederzeit. Gerade über den Anfang sind sehr viele gestolpert, weil er im Grunde ja den direkten Schritt in die Geschichte versperrt und einen erstmal nicht reinlässt. Wahrscheinlich zerstört er auch die Vorstellung einer spontanen Erfindung, des spontanen Erzählens ex tempore. Wie ein erklärender Prolog vor einem Theaterstück oder eine ungelenke Erklärung vor einer Musik, wie es oft gemacht wird auch von Profis. Und das stimmt: Musik muss sich schon aus sich selbst erklären. Wissen darüber kann vertiefen, aber mitteilen muss sie sich selbst. Und in der Literatur ist das wahrscheinlich auch so. Ich habs gemacht, weil ich den Triller als musikalisches Phänomen zu speziell fand. Darum der Kompromiss, einen Vorspann zu liefern, der erklärend ist, sich aber im Tonfall in die Musik einschwingt. Bei Dir hat das nicht geklappt. Wie gesagt, ging mehreren so. Ist kontrovers. Musik in Worte zu fassen ist natürlich auch eine Gratwanderung. Wenn man grausam blumige Texte liest, hohl schwärmende, das kann schon weh tun. Ich habe versucht, die Balance zu halten. Immerhin konntest Du mit den Rückblenden gut leben und das war auch intendiert. Das die eben relativ nüchtern sind und einen Kontrapunkt zu den ausufernden Musikschilderungen bilden.
Vielen Dank für Deine Zeit und schön, dass Dich das Lesen am Ende nicht gereut hat!
Herzliche Grüße und ein gutes 2019!
rieger

Lieber @Dion,
vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar!
Was Du über den Musiker als Arbeiter schreibst, finde ich sehr spannend. Ja, schweißtreibend ist das oft genug. Und Du beschreibst ja den Typus genau, der vielleicht in seiner Karriere in so eine Brüchigkeit hineinkommt, die dann zu einer Verengung führen kann. Das muss sicher nicht so sein. Am Silvesterabend hat Barenboim in Berlin gespielt. Das Krönungskonzert am Klavier und als Dirigent, dann vier Orchesterstücke von Ravel dirigiert, alles auswendig und mit Leichtigkeit mit über 70. In ihm steckt wahrscheinlich wenig Adametz. Aber ich denke, dass das Wissen um die Abgründe auch für einen reproduzierenden Künstler wichtig ist und dass manche mehr und manche weniger eine Nähe dazu empfinden. Und in einer solchen Situation steckt eben Adametz an dem Abend, an dem sich die entscheidenden Sinneseindrücke zu einem Erinnerungskarussell verdichten.
Was Du zur Überladung des Textes sagst, finde ich auch sehr wichtig. Da eine Balance zu halten, ist schon nicht so leicht. Zum einen müssen die Bilder stimmen, dürfen auf keinen Fall hinken. Dann aber auch nicht an jeder Ecke erscheinen. Der Text muss schon auch auf die Imagination des Lesers vertrauen und darf ihn nicht zustöbern mit Bilderramsch. Wenn die allerdings originell sind und raffiniert, schiebe ich persönlich die Grenze für die Metapher auch gern nach oben. Das ging mir eben bei der Lektüre von Hilmar Klutes Roman "Was dann nachher so schön fliegt" so. Das ist ein Vergleichssturm, der für mich manchmal an die Grenze ging und manchmal auch darüber, weil der Text eben dann alles machen will und erledigen will. Aber so zu schreiben und so zu erfinden wie Klute, ist eben auch eine ganz eigene Sache.
Die HMTM kenne ich gut, da hast Du Recht. Das ist schon ein geschichtsträchtiges Gebäude, auf alle Fälle.
Vielen Dank für Deine Zeit und Deinen motivierenden Kommentar!
Ein gutes Neues und herzliche Grüße
rieger

 

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