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Einer muss sterben
Sein Großvater hatte die benachbarten Länder unterworfen oder tributpflichtig gemacht. Sein Vater hatte gewaltige Bauten errichtet, und die berühmtesten Künstler und Gelehrten an den Hof geholt. Das Reich lebte in Frieden, Wohlstand und Beschaulichkeit – und versank dabei in Langeweile. Oft fragte sich der König, was er noch tun konnte, um in die Geschichte einzugehen.
Am meisten verdross ihn die Trägheit seiner „Genies“, wie er sie nannte: Er überschüttete sie mit Gold und Preisen, ließ sie an allen Festen auf den Ehrenplätzen sitzen, und sorgte persönlich dafür, dass es ihnen an nichts fehlte. Dafür gingen sie zur Arbeit wie der Schmied zum Amboss und der Händler auf den Markt. Sie hatten keinerlei Ehrgeiz. Schon hörte man Gerüchte, dass die Barbaren jenseits der Grenzen sich über die Bewohner des Reiches lustig machten.
Also dachte sich der König einen Wettbewerb der etwas anderen Art aus: Er sollte nicht den Besten ermitteln, sondern den Schlechtesten. Dabei wollte er auch etwas über ein neuartiges Konzept namens „Wahrscheinlichkeit“ lernen. Seine Sterndeuter hatten es kürzlich erfunden.
Er rief alle Philosophen, Wanderprediger, Handaufleger, Lautenspieler, Dichter, Gaukler, Architekten, Bader, Sterndeuter, Maler, Rechtsgelehrten und Bildhauer zusammen, und sprach: „Ihr seid die besten Köpfe meines Reiches. Ich bin wahrlich froh, euch an meinem Hof zu wissen, auf dass etwas von eurem Ruhm auch auf mich zurückfalle.“
Sie hörten ihm etwas gelangweilt zu, und erwarteten, dass er weitere Wohltaten über sie ausschüttete.
Doch er sagte: „Zu meinem unsäglichen Bedauern sind eure Werke nicht mehr so wunderbar wie noch zu den Zeiten meines Vaters. Ich bin daher gezwungen, den Schlechtesten von euch in einem Jahr auf dem Marktplatz vor dem versammelten Volk auspeitschen, aufs Rad flechten und anschließend köpfen zu lassen.“
Manche dachten an einen Scherz. Schon drohte sich ein Tumult unter ihnen zu erheben.
Er fuhr ungerührt fort: „Ihr zählt wohl an die hundertfünfzig Köpfe. Wie wenig muss sich da jeder von euch sorgen, da es ja nur einen einzigen treffen wird, und zwar den Schlechtesten. Und wie gewaltig wird der Gewinn sein, wenn jeder nur ein wenig mehr tut, auch wenn das Werk des Geringsten ein jähes Ende findet. Denkt ihr denn, dass einer, der fürchten muss, der Letzte zu sein, überhaupt das Recht hat, an derselben Tafel mit euch zu sitzen?“
Einer wagte es, zu rufen: „Wer die Hand gegen den Künstler erhebt, und sei er der Geringste, erhebt die Hand gegen die Kunst selbst!“
Die Anderen applaudierten stürmisch.
Der König ließ ihn verhaften, und in den Kerker werfen. Fortan fiel er nicht mehr unter „Philosophen“, sondern unter „Dissidenten“.
Ein anderer fragte: „Wer maßt sich an, zu entscheiden, dass einer ein geringer Künstler sei? Und wie wollt ihr so verschiedene Künste wie Malerei und Lautenspiel vergleichen?“
Der König entgegnete: „Ich bin es, der entscheidet, denn ich bin es auch, der euch bezahlt und Schutz gewährt. Wie gering muss dein Zutrauen zu dir selbst sein, wenn du fürchten musst, vor meinen Augen zu versagen?“
Keiner wagte es mehr, sich zu Wort zu melden.
***
Das Jahr verging schnell. Die Maler malten was das Zeug hielt. Die Dichter dichteten. Die Sterndeuter lasen in den Sternen. Die Gaukler versuchten, lustig zu sein.
Jeder der Hundertfünfzig tat mehr als sonst, und dachte in manchen Momenten an die Verwundbarkeit des Lebens und die Vergänglichkeit. Zu Hause und in den Schenken, auf den Festen und in den öffentlichen Gärten zeigten sie keine Angst vor einer für den Einzelnen so minimalen Bedrohung. Aber über ihrem Schaffen hing fortan die Möglichkeit eines Unheils, die sie antrieb, mehr zu tun.
Der Schwächste war, wie sich herausstellte, ein Dichter. Er war ein gutmütiger alter Trottel, der seit zwanzig Jahren nichts mehr geschrieben hatte, und dem jetzt die Angst vollends die Feder lähmte.
Vor dem Tag der Entscheidung, als die Henkersknechte schon den Richtplatz vorbereiteten, ließ ihn der König zu sich rufen.
Auf des Dichters stumme Frage, entgegnete er: „Ja, du bist es. Es tut mir unendlich leid, dass du es bist. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind deinen Versen lauschte. Aber was hilft es? Ich muss nun einmal zu meinem Wort stehen, denn was ist ein Mann wert, der auf sein eigenes Wort nichts hält? Wenn ich jetzt Gnade walten lassen würde, und sagen würde: So habe ich entschieden. Aber nehmt nicht diesen, obwohl er der Schwächste ist, denn dieser ist ein alter Freund. Denkst du, dass irgendjemand noch etwas auf mein Wort geben würde, nach so einer Entscheidung?“
Der alte Dichter wagte einzuwenden, dass er zwar nichts getan hatte, dass aber viele andere nur Schlechtes zustande gebracht hatten. War es nicht besser, nichts zu tun als etwas Schlechtes, und hatte folglich nicht eher einer von denen den Tod verdient, und nicht er, dessen Verse früher den König erfreut hatten?
Der König dachte darüber nach. In seinen Gedanken entschied sich die Geschichte seines Reiches in den nächsten tausend Jahren. Er seufzte, und befahl den Wachen: „Bringt ihn in den Kerker, damit er nicht entfliehen kann!“
Er lauschte noch eine Weile den sich entfernenden Schreien.
***
Am nächsten Tag hielt der König auf dem Marktplatz eine Rede: Er schilderte die Blüte aller Künste, zustande gekommen durch die Anstrengungen eines einzigen Jahres. Er sprach von den Rosen, die so viel stärker blühen, wenn man sie beschneidet, und von glänzenden und heroischen Zeiten für sie alle.
Noch immer hoffte der alte Dichter, dass der König ihn freilassen würde, jetzt wo er seine Absicht erreicht hatte, die Künstler und Weisen zu bewegen, mehr und besseres zu schaffen.
Die Hoffnung war unbegründet. Sie schleiften ihn an den Pranger und rissen ihm das Hemd vom Leib. Dann ketteten sie ihn fest, und peitschten ihn, bis seine Schreie verstummten und Blut seinen Leib rot färbte. Die Schläge hallten über die Köpfe der stillen Menge hinweg. Anschließend brachen ihm die Folterknechte die Knochen mit Eisenstangen, und flochten ihn aufs Rad. Die verbliebenen Zuschauer rückten näher. Keiner hatte je etwas so Schreckliches gesehen. Als sie ihm eine Stunde später mit dem Beil den Kopf abhackten, war er schon fast tot. Der Henker musste dreimal zuschlagen, um den zähen Hals zu durchtrennen.
Als es vorbei war, trat der König wieder vor das Volk, und erklärte: „Dieser Mann war ein Freund, und das alles hat mir genauso weh getan wie ihm. Aber für die Kunst und die Konkurrenzfähigkeit des Reiches im Internationalen Wettbewerb war es notwendig. Lasst ihn uns beweinen und in Ehren begraben, denn er ist gestorben, damit wir anderen besser leben können!“
***
Das Beispiel machte Schule im ganzen Reich. Überall entstand eine nie gekannte Betriebsamkeit, und bald war es soweit, dass keiner mehr Rechte hatte, es sei denn, er konnte beweisen, dass er der Gesellschaft nützte. Die Kinder lernten in den Schulen, dass sie nicht viel zählten, es sei denn, sie brachten die Investitionen in sie in Zukunft wieder herein. Immer mehr Alte, Lahme und Kranke verschwanden einfach.
Weil die Tötungen der Schlechtesten nicht rentabel waren, ging man mit der Zeit dazu über, sie nur zu entlassen und ihrer materiellen Lebensgrundlage zu berauben.
***
Die Bewohner dieses Landes standen bald in dem Ruf besonderer Tüchtigkeit. In den Ländern der Barbaren lachte niemand mehr über sie. Jetzt hießen sie nicht mehr „Schwächlinge“ und „Faulpelze“, sondern „Spinner“ und „Mörder“.