Was ist neu

Einer muss sterben

Seniors
Beitritt
12.02.2004
Beiträge
1.260
Zuletzt bearbeitet:

Einer muss sterben

Sein Großvater hatte die benachbarten Länder unterworfen oder tributpflichtig gemacht. Sein Vater hatte gewaltige Bauten errichtet, und die berühmtesten Künstler und Gelehrten an den Hof geholt. Das Reich lebte in Frieden, Wohlstand und Beschaulichkeit – und versank dabei in Langeweile. Oft fragte sich der König, was er noch tun konnte, um in die Geschichte einzugehen.

Am meisten verdross ihn die Trägheit seiner „Genies“, wie er sie nannte: Er überschüttete sie mit Gold und Preisen, ließ sie an allen Festen auf den Ehrenplätzen sitzen, und sorgte persönlich dafür, dass es ihnen an nichts fehlte. Dafür gingen sie zur Arbeit wie der Schmied zum Amboss und der Händler auf den Markt. Sie hatten keinerlei Ehrgeiz. Schon hörte man Gerüchte, dass die Barbaren jenseits der Grenzen sich über die Bewohner des Reiches lustig machten.

Also dachte sich der König einen Wettbewerb der etwas anderen Art aus: Er sollte nicht den Besten ermitteln, sondern den Schlechtesten. Dabei wollte er auch etwas über ein neuartiges Konzept namens „Wahrscheinlichkeit“ lernen. Seine Sterndeuter hatten es kürzlich erfunden.

Er rief alle Philosophen, Wanderprediger, Handaufleger, Lautenspieler, Dichter, Gaukler, Architekten, Bader, Sterndeuter, Maler, Rechtsgelehrten und Bildhauer zusammen, und sprach: „Ihr seid die besten Köpfe meines Reiches. Ich bin wahrlich froh, euch an meinem Hof zu wissen, auf dass etwas von eurem Ruhm auch auf mich zurückfalle.“

Sie hörten ihm etwas gelangweilt zu, und erwarteten, dass er weitere Wohltaten über sie ausschüttete.

Doch er sagte: „Zu meinem unsäglichen Bedauern sind eure Werke nicht mehr so wunderbar wie noch zu den Zeiten meines Vaters. Ich bin daher gezwungen, den Schlechtesten von euch in einem Jahr auf dem Marktplatz vor dem versammelten Volk auspeitschen, aufs Rad flechten und anschließend köpfen zu lassen.“

Manche dachten an einen Scherz. Schon drohte sich ein Tumult unter ihnen zu erheben.

Er fuhr ungerührt fort: „Ihr zählt wohl an die hundertfünfzig Köpfe. Wie wenig muss sich da jeder von euch sorgen, da es ja nur einen einzigen treffen wird, und zwar den Schlechtesten. Und wie gewaltig wird der Gewinn sein, wenn jeder nur ein wenig mehr tut, auch wenn das Werk des Geringsten ein jähes Ende findet. Denkt ihr denn, dass einer, der fürchten muss, der Letzte zu sein, überhaupt das Recht hat, an derselben Tafel mit euch zu sitzen?“

Einer wagte es, zu rufen: „Wer die Hand gegen den Künstler erhebt, und sei er der Geringste, erhebt die Hand gegen die Kunst selbst!“

Die Anderen applaudierten stürmisch.

Der König ließ ihn verhaften, und in den Kerker werfen. Fortan fiel er nicht mehr unter „Philosophen“, sondern unter „Dissidenten“.

Ein anderer fragte: „Wer maßt sich an, zu entscheiden, dass einer ein geringer Künstler sei? Und wie wollt ihr so verschiedene Künste wie Malerei und Lautenspiel vergleichen?“

Der König entgegnete: „Ich bin es, der entscheidet, denn ich bin es auch, der euch bezahlt und Schutz gewährt. Wie gering muss dein Zutrauen zu dir selbst sein, wenn du fürchten musst, vor meinen Augen zu versagen?“

Keiner wagte es mehr, sich zu Wort zu melden.

***
Das Jahr verging schnell. Die Maler malten was das Zeug hielt. Die Dichter dichteten. Die Sterndeuter lasen in den Sternen. Die Gaukler versuchten, lustig zu sein.
Jeder der Hundertfünfzig tat mehr als sonst, und dachte in manchen Momenten an die Verwundbarkeit des Lebens und die Vergänglichkeit. Zu Hause und in den Schenken, auf den Festen und in den öffentlichen Gärten zeigten sie keine Angst vor einer für den Einzelnen so minimalen Bedrohung. Aber über ihrem Schaffen hing fortan die Möglichkeit eines Unheils, die sie antrieb, mehr zu tun.

Der Schwächste war, wie sich herausstellte, ein Dichter. Er war ein gutmütiger alter Trottel, der seit zwanzig Jahren nichts mehr geschrieben hatte, und dem jetzt die Angst vollends die Feder lähmte.

Vor dem Tag der Entscheidung, als die Henkersknechte schon den Richtplatz vorbereiteten, ließ ihn der König zu sich rufen.

Auf des Dichters stumme Frage, entgegnete er: „Ja, du bist es. Es tut mir unendlich leid, dass du es bist. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind deinen Versen lauschte. Aber was hilft es? Ich muss nun einmal zu meinem Wort stehen, denn was ist ein Mann wert, der auf sein eigenes Wort nichts hält? Wenn ich jetzt Gnade walten lassen würde, und sagen würde: So habe ich entschieden. Aber nehmt nicht diesen, obwohl er der Schwächste ist, denn dieser ist ein alter Freund. Denkst du, dass irgendjemand noch etwas auf mein Wort geben würde, nach so einer Entscheidung?“

Der alte Dichter wagte einzuwenden, dass er zwar nichts getan hatte, dass aber viele andere nur Schlechtes zustande gebracht hatten. War es nicht besser, nichts zu tun als etwas Schlechtes, und hatte folglich nicht eher einer von denen den Tod verdient, und nicht er, dessen Verse früher den König erfreut hatten?

Der König dachte darüber nach. In seinen Gedanken entschied sich die Geschichte seines Reiches in den nächsten tausend Jahren. Er seufzte, und befahl den Wachen: „Bringt ihn in den Kerker, damit er nicht entfliehen kann!“

Er lauschte noch eine Weile den sich entfernenden Schreien.

***
Am nächsten Tag hielt der König auf dem Marktplatz eine Rede: Er schilderte die Blüte aller Künste, zustande gekommen durch die Anstrengungen eines einzigen Jahres. Er sprach von den Rosen, die so viel stärker blühen, wenn man sie beschneidet, und von glänzenden und heroischen Zeiten für sie alle.

Noch immer hoffte der alte Dichter, dass der König ihn freilassen würde, jetzt wo er seine Absicht erreicht hatte, die Künstler und Weisen zu bewegen, mehr und besseres zu schaffen.

Die Hoffnung war unbegründet. Sie schleiften ihn an den Pranger und rissen ihm das Hemd vom Leib. Dann ketteten sie ihn fest, und peitschten ihn, bis seine Schreie verstummten und Blut seinen Leib rot färbte. Die Schläge hallten über die Köpfe der stillen Menge hinweg. Anschließend brachen ihm die Folterknechte die Knochen mit Eisenstangen, und flochten ihn aufs Rad. Die verbliebenen Zuschauer rückten näher. Keiner hatte je etwas so Schreckliches gesehen. Als sie ihm eine Stunde später mit dem Beil den Kopf abhackten, war er schon fast tot. Der Henker musste dreimal zuschlagen, um den zähen Hals zu durchtrennen.

Als es vorbei war, trat der König wieder vor das Volk, und erklärte: „Dieser Mann war ein Freund, und das alles hat mir genauso weh getan wie ihm. Aber für die Kunst und die Konkurrenzfähigkeit des Reiches im Internationalen Wettbewerb war es notwendig. Lasst ihn uns beweinen und in Ehren begraben, denn er ist gestorben, damit wir anderen besser leben können!“

***
Das Beispiel machte Schule im ganzen Reich. Überall entstand eine nie gekannte Betriebsamkeit, und bald war es soweit, dass keiner mehr Rechte hatte, es sei denn, er konnte beweisen, dass er der Gesellschaft nützte. Die Kinder lernten in den Schulen, dass sie nicht viel zählten, es sei denn, sie brachten die Investitionen in sie in Zukunft wieder herein. Immer mehr Alte, Lahme und Kranke verschwanden einfach.
Weil die Tötungen der Schlechtesten nicht rentabel waren, ging man mit der Zeit dazu über, sie nur zu entlassen und ihrer materiellen Lebensgrundlage zu berauben.

***
Die Bewohner dieses Landes standen bald in dem Ruf besonderer Tüchtigkeit. In den Ländern der Barbaren lachte niemand mehr über sie. Jetzt hießen sie nicht mehr „Schwächlinge“ und „Faulpelze“, sondern „Spinner“ und „Mörder“.

 

Hallo Fritz,

Aber für die Kunst und die Konkurrenzfähigkeit des Reiches im Internationalen Wettbewerb war es notwendig.
Ein Grund mehr die (Deutsche) Bank zu wechseln. ;) Wie war das noch: Wir haben Millarden über Millarden Reingewinn, aber sorry, die Quote, wir müssen leider 100 Millionen Leute entlassen...

Weil die Tötungen der Schlechtesten nicht rentabel waren, ging man mit der Zeit dazu über, sie nur zu entlassen und ihrer materiellen Lebensgrundlage zu berauben.
Da ist dein König dem Dritten Reich aber voraus. :D


Regt zum Nachdenken an - und das soll der Text auch bezwecken, daher: :thumbsup:

Liebe Grüße!

Dante

 

Hallo Fritz,

den Titel finde ich für das Ambiente, in dem du deine Gleichung unterbringst, gänzlich ungeeignet.
Das ist für mich aber auch das einzige Manko dieser Geschichte. Natürlich leben ir in einer Zeit, in der all zu starke Verschlüsselungen nicht nötig sind, trotzdem haben sie für mich ihren Reiz, wenn sie so unterhaltend daher kommen, wie dein Text.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo,

danke für Eure Reaktionen!

@lukas: Ich finde, "Märchen" eignen sich gut, um Prinzipien darzustellen. Darum. Eine bessere Form ist mir nicht eingefallen. Man könnte auch behaupten, das alles sei auf einem weit entfernten Planeten passiert. Und weil das Universum so groß ist, wäre das vermutlich sogar die Wahrheit ;)

@Dante: Es ist an der Zeit, zu fragen, ob das mit dem "Internationalen Wettbewerb" wirklich wahr ist. Paul Krugman hat ein interessantes Buch darüber geschrieben.

@Sim: Gestern abend fand ich den Titel noch sehr geistreich :)

Ich hatte schon gefürchtet, dieser Text könnte ein wenig zu heftig sein...

Freundliche Grüße,

Fritz

 

Friedvolle Grüße

Auch von mir ein dickes Lob für die Geschichte. Die erfrischend ungewöhnliche Form war geradezu Balsam für Augen und Geist, die ansonsten nur möglichst punktgenaue und nüchtern erzählte Geschichten zu lesen bekommen. Der Inhalt läd zum Nachdenken und Interpretieren ein, und steht damit in bester Tradition der märchenhaften Erzählweise, wie lukas_iskariot schon angemerkt hat.

Den einzigen Kritikpunkt, den ich habe, hat sim bereits genannt. Der Titel ist völliger Schwachsinn, und ich gehe so weit, Dir eine Änderung zu empfehlen. Nicht nur aus ästhetischen Gründen (deutsche Geschichte = deutscher Titel), sondern auch, weil er die Interpretationsmöglichkeiten der Geschichte einschränkt.

Kane

 

Hallo,

Ihr habt recht, was den Titel betrifft. Der Name des Threads lässt sich wohl nicht mehr ändern. Ich habe der Geschichte eine weniger dissonante Überschrift verpasst, obwohl ich immer noch der Meinung bin, dass "Decapitalizing" ein wunderschönes neoliberales Wort ist. Ich weiß übrigens nicht genau, was es bedeutet, und war bisher zu bequem zum Nachschauen :)

 

Hi du guter Fritz, :D

eine erschreckend "wahre" Geschichte, die, so finde ich, hier genau richtig steht.

Das Volk lehnt sich auf. Ein wenig ...Zu wenig.

Auch deine Erzählform hat mir gefallen.
Zeitgeschehen, verpackt in ein Märchen, tut vielleicht nicht so weh. :shy:

Lieben Gruß, coleratio

 

Hallo DerGuteFritz,

ich hab mir mal die Freiheit genommen und den Titel angepasst. Der jetzige ist übrigens wesentlich besser. :)
Auch mir hat dein Text gefallen, die Erzählform ist angenehm anders, das Erzählte schön parabelhaft, die Geschichte flüssig. Außedem ist sie offen genug, um einiges herein zu interpretieren und einiges heraus zu lesen.

Viele Grüße,
Anea

 
Zuletzt bearbeitet:

@coleratio: Wie wahr! Das Volk besteht aus einzelnen, die sich zu leicht einschüchtern lassen.

@Brother Kane: Vielen Dank für die Blumen! Bisher habe ich mich immer für einen von denen gehalten, die sich beim Schreiben auf das Wesentliche beschränken, schon aus Bequemlichkeit.

 

Hallo,

ich schließe mich dem Lob der anderen an. Die Geschichte bringt analogisch unsere Gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Prinzipien auf den Punkt. Dabei verwendest du (Feinheiten, Feinheiten) auch noch den korrekten Sprachcode der Protagonisten, Bsp.:

Ich bin daher gezwungen, den Schlechtesten von euch in einem Jahr auf dem Marktplatz vor dem versammelten Volk auspeitschen, aufs Rad flechten und anschließend köpfen zu lassen.
Natürlich, er ist dazu gezwungen: Sachzwänge, obwohl :
Das Reich lebte in Frieden, Wohlstand und Beschaulichkeit.

Verschärfen könnte man die Story noch, indem man jeden Monat den Schlechtesten beseitigt [ein Jahr - klingt immer noch beschaulich ;-)]; auch frage ich mich, ob es nicht treffender wäre, wenn die Barbaren das Reich bewunderten (Ende).

 

nochmal @Flic:

Verschärfen könnte man die Story noch, indem man jeden Monat den Schlechtesten beseitigt
Der Ausdruck "Mitarbeiter des Monats" würde auf diese Weise eine neue Bedeutung bekommen. ;)

 

Hallo Fritz,

hat mir gefallen, sehr sogar (Du weißt ja, dass ich der "Märchenform" nicht abgeneigt bin ;) ). Zum Glück habe ich Deine Geschichte gefunden, obwohl Du sie in "Gesellschaft" versteckt hattest :D

Sehr gut hast Du das Dilemma konstruiert und den König in Sachzwänge hineinmanöveriert, denen er sich nicht entziehen konnte. Durch die Märchenform hast Du den Leser immer wieder auf ein positives Ende hingewiesen, das sich am Ende nicht einlöst: Auch einer meiner Favoriten, alle verlieren.

Liste:

auch wenn das Werk des Geringsten ein jähes Ende findet.
Die Maler malten was das Zeug hielt.
Fiel für mich ein wenig aus der Sprache der Geschichte.
Der Henker musste dreimal zuschlagen, um den zähen Hals vom Rumpf zu trennen.
Beil von Ratio? ;) Aber im Ernst: Hier stimmt etwas mit der Formulierung nicht. Der Hals ist die Verbindung zwischen Kopf und Rumpf, sie wird durchtrennt, aber nicht vom Rumpf getrennt, dazu müsste man schon sehr weit unten schlagen.

Grüße,
Naut

 

Hi Naut,

danke für die Anmerkungen! Mir fällt im Moment keine gute Formulierung ein, die besagt, dass die Maler viel und angestrengt malten. ;)

Deine besten Geschichten sind auch "Märchen". In die Rubrik "Märchen/Fantasy" würden sie aber nicht passen, ebensowenig wie diese Geschichte. Eben kommt mir die Idee, noch ein paar Geschichten mit der sympathischen Figur des Königs in der Hauptrolle zu schreiben. Shakespeare hat ja auch mehrere Königsdramen geschrieben :)
Abgelegene Rubriken haben den Vorteil, dass die Beiträge nicht so schnell in der Versenkung verschwinden.

Herzliche Grüße nach Ernst-August-Stadt (wo immer das liegen mag)

Fritz

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom