Mitglied
- Beitritt
- 13.12.2007
- Beiträge
- 10
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Einfach nur weg
Mit einem Ruck fuhr die S- Bahn an und sie sah wieder aus dem Fenster. Gemächlich entfernte sich der Bahnhof. Die Landschaft zog an ihr vorbei, Kühe auf der Weide, Gestrüpp, Bäume und Schrebergärten. Als der S- Bahn an der nächsten Haltestelle bremste, hatte sie das Gefühl, ein Sog wolle sie hinausziehen, hinaus in die Sonne- einen Stadtbummel machen, in einem Cafe sitzen. Sie wollte sich erheben, doch schon schlossen sich die Türen wieder und es war ihr, als verschlössen sie ihr die Atemwege, das Quietschen erinnerte sie an eine Gefängnistür. Noch gab es zwei Haltestellen, an denen sie einfach ausstiegen und weggehen könnte. In die nächste S-Bahn nach Hause einsteigen und nur weg, weg, weg. Doch tief in ihrem Inneren quälte sie permanent eine Stimme: Du musst hin, du musst hin, kannst doch jetzt nicht kneifen. Was soll sonst aus dir werden, wenn du nicht hingehst? Unbarmherzig ratterte die S- Bahn weiter, der Großstadt entgegen.
Schlecht gelaunt herrschte er seine Sekretärin an, ihm endlich seinen Kaffee zu kochen und zwar einen starken. Das Klackern ihrer hochhackigen Schuhe, als sie den Raum verließ, ging ihm unsäglich auf die Nerven. Überhaupt ging ihm in letzter Zeit alles auf die Nerven: das Gezeter seiner Frau, das Geschrei seiner Kinder, das Kantinenessen, die dämliche Sekretärin, sein unpersönliches Büro und am allermeisten der Stapel Bewerbungsordner, der sich auf seinem Schreibtisch türmte.
Ich sollte Urlaub machen, dachte er, wegfahren, möglichst weit weg, irgendwo in die Berge, am besten allein, damit meine angegriffenen Nerven wieder zur Ruhe kommen können.
Seufzend holte er seinen Terminkalender hervor: bis zum nächsten Vorstellungsgespräch hatte er immerhin noch eine halbe Stunde Zeit. Und wenn er einfach ging? Der Tippse im Vorzimmer sagen, dass ihm nicht gut war?
Nein, die Hexe würde nur einen Zirkus machen und ihm einen Kräutertee bringen. Der war noch schlimmer als ihr Kaffee. Außerdem war aufgeschoben nicht aufgehoben. Der Personalchef zog seine Schublade auf und genehmigte sich einen großen Schluck aus seinem Flachmann.
Sie war an ihrer Haltestelle angekommen. Die riesigen Bürohäuser erdrückten sie, alles war grau, der Bordstein, die Tauben und seltsamerweise auch die hektischen, miesepetrig dreinblickenden Leute, mit Schirm und Aktentasche bewaffnet. Der Blazer zwickte unangenehm und der Rock war zu eng, um bequem darin laufen zu können. Sie setzte sich auf eine Bank und stellte sich vor, einfach hier sitzen zu bleiben, die vorbeihastenden Menschen zu beobachten, mit ihrer schlechten Laune, ihrem Stress und ihrer Gleichgültigkeit anderen gegenüber. So wollte sie nicht werden, nein, niemals und deshalb würde sie auch nicht zu diesem Vorstellungsgespräch gehen. Der Personalchef würde sie nicht vermissen, schließlich waren sicher noch genügend andere Bewerber da. Aber was würden die Eltern sagen? Woher sollte das Geld kommen? Noch während sie dies dachte, stand sie auf und ging weiter, wurde Teil der grauen Masse.
Er schraubte den Flachmann zu und ließ ihn gerade noch rechtzeitig verschwinden, bevor seine Sekretärin hereinklackerte. Seine Nerven! Sie stellte das Tablett so heftig ab, dass das Geschirr aneinander schlug und Kaffee aus der Tasse schwappte. Der Personalchef atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, doch trotz des hochprozentigen Alkohols wollte es ihm nicht recht gelingen. Wer hatte bloß diese unfähige Person eingestellt? Er war es bestimmt nicht gewesen. Kaum war sie hinausgeklackert, (seine Nerven!) kramte er den Flachmann wieder hervor und goss einen großzügigen Schluck in den Kaffee. Irgendwie musste er ihn ja genießbar machen. Wenn er doch nur diese Bewerber jetzt nicht am Hals gehabt hätte. Er könnte ja sagen, die Stelle sei schon besetzt und basta. Dunkel erinnerte sich der Personalchef an die Mappe der ersten Bewerberin, die bald da sein müsste. Eine graue Maus, durchschnittliches Zeugnis, uninteressanter Lebenslauf, keine besonderen Fähigkeiten, kurzgesagt das Letzte, womit er sich jetzt unterhalten wollte. Seine Nerven. Einfach nur weg.
Nervös verkrampften sich ihre Hände, stolpernde Füße in viel zu hohen Schuhen, bimmelnde Straßenbahnen, bettelnde Obdachlose. Geräuschlos öffnete sich die schwere Glastür, Vorzimmer, nicht so werden wie die Eltern, nicht hier jeden Tag hinmüssen, kalt, einfach nur umdrehen, heim, weg.
Seine Nerven, der Geruch nach Kantinenessen, Zurechtrücken der Krawatte. Aktenhinundhergerücke, Selbstmordgedanken, Himmel, seine Nerven! Er fuhr sich mit dem Kamm durch schüttere Haar, ein letzter Schluck aus dem Flachmann, zurücklehnen, die Tippse klopfte, herein.
Überdrehte Sekretärin, unfreundlich dreinblickender Personalchef mit feuchten Händen und einer gut wahrnehmbaren Fahne. Nicht hier sein.
Standartfragen: Was machen Sie in ihrer Freizeit? Warum wollen Sie die Ausbildungsstelle und warum gerade bei uns? Nennen Sie ihre besonderen Fähigkeiten. Wie haben Sie sich auf diesen Tag vorbereitet? Nervosität, Angst, war die Antwort gut? Ich will die Stelle nur, um nicht arbeitslos zu sein, aber das kann ich ja wohl schlecht sagen. Alter Säufer, was für eine Fahne!
Immer die gleichen, auswendig gelernten Bewerberantworten, die Nerven, in die Berge, die wird einmal wie die alte Tippse da draußen, wir melden uns dann bei Ihnen, Feierabend.