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Eingeflüstert (Februar 2008)
»Ein Schusswechsel am Kastanienwall vierzehn«, nuschelte der Anrufer mit verstellter Stimme. »Ein Mann fuhr mit einem Wagen davon. Dunkelblauer VW-Golf, Leverkusener Kennzeichen. Blonder Hippietyp in Jeansklamotten. Mehr kann ich ...«
»Wir schicken sofort einen Einsatzwagen«, unterbrach ihn der Polizeibeamte. »Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihren genauen Standort ...«
Der Anrufer hängte den Hörer ein. Er fuhr sich mit zittriger Hand über das verschwitzte Gesicht. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. Dann sucht mal schön einen blonden Hippie mit VW-Golf, dachte er und trat aus der Telefonzelle. Er stopfte die Skimaske noch tiefer in die Tasche, blickte sich rasch um und verschwand in der Dunkelheit.
*
»Sie ist tot!«, schrie Dieter in den Hörer. Ein Schluchzen mischte sich in seine Stimme und er brauchte einige Sekunden, ehe er weitersprechen konnte. »Sie ... sie hatte eine Waffe! Sie hat auf mich gezielt! Ich konnte nicht anders, ich musste, ich ...«
»Ganz ruhig«, sagte der Mann am anderen Ende. »Von wo aus rufen Sie an? ... Gut. Bleiben Sie, wo Sie sind und machen Sie genau, was ich Ihnen jetzt sage.«
*
»Es ist Hendrik, nicht wahr?«, fragte sie leise. »Er hat Sie zu mir geschickt.«
Dieter schnaubte. Die Pistole blieb unentwegt auf Renate gerichtet. Sie schloss die Augen. Es war beinah, als redete sie zu sich selbst.
»Ich wusste, dass er es eines Tages versuchen würde. Er ist verrückt, er ist ... ich hätte ihn schon viel eher verlassen sollen.« Ihr Atem ging schneller. »Ich hätte fliehen sollen, aber wohin? Er hätte mich ja doch gefunden. Überall.« Sie öffnete wieder die Augen und starrte auf den Mann mit der Skimaske. Im gleichen Moment ahnte Dieter, was jetzt kommen würde.
»Es sind die Mächte, nicht wahr? Er hat von den bösen Mächten geredet. Die ihn zu allem zwingen, was er tut. Die Stimmen.« Ihr Ton wurde immer schriller. »Sie sagen ihm, dass ich sterben soll, seit Jahren schon! Ich habe ihn verlassen, aber das hilft nichts. Er glaubt immer noch, dass er gezwungen wird, mich umzubringen. Und wer glaubt mir?«, fuhr sie krächzend fort. »Wer glaubt mir?«
»Es hat keinen Zweck«, fuhr ihr Dieter über den Mund. Er hoffte, dass seine Stimme in ihren Ohren fester klang als in seinen eigenen. Sein Herz raste. Nicht die Nerven verlieren. O Gott, was machte er überhaupt hier! Rebekka, Christine ... »Hören Sie auf mit diesem Gewäsch von den bösen Mächten. Ich weiß Bescheid, ich will ...« Er stockte. Renates schmale Hand umklammerte eine winzige Waffe, die aus der Tasche ihrer Strickjacke lugte.
»Nehmen Sie Ihren Arm runter«, sagte sie.
Als sie den Hahn spannte, setzte Dieters Atmung aus und sein Finger zuckte los.
*
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, zischte Dieter. Der Pistolengriff in seiner Hand war schweißnass. Die grauhaarige Frau, die Renate sein musste, umklammerte die Strickjacke über ihrem Nachthemd so stark, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dieter hätte sie am liebsten angebrüllt, doch er wusste, dass er dadurch seine Lage nur verschlimmern würde. Verdammt, sie sollte doch gar nicht hier sein.
»Gehen Sie an die Wand«, forderte er sie mit rauer Stimme auf. Sie gehorchte stumm. Dieters Blick hetzte zur Treppe. Das Medaillon sollte sich in einer Kommode im Schlafzimmer befinden. Aber er konnte die Frau unmöglich allein im Wohnzimmer lassen. Ebenso riskant war es, sie vor ihm die Treppe hinaufsteigen zu lassen. Wer konnte schon wissen, ob sie sich nicht im nächstbesten Zimmer einschloss und die Polizei rief. Oder womöglich aus irgendeiner Ecke ein Handy hervorzauberte. Dieter schwitzte unter seiner Skimaske. Es lief alles so völlig anders als geplant.
»Hören Sie«, sagte Renate mit dünner Stimme. »Wenn Sie Geld wollen ... ich habe nicht viel. Aber Sie können alles an Bargeld bekommen, was im Haus ist. Sie ... Sie können auch den Schmuck haben, alles! Bitte erschießen Sie mich nicht, bitte, ich werde auch nicht die Polizei rufen ...«
Natürlich nicht, dachte Dieter. Einerseits half ihm die Skimaske dabei, nicht völlig die Nerven zu verlieren. Renate hatte ihn nie zuvor gesehen und allein seine Stimme und seine Statur würden niemals für eine Identifizierung ausreichen. Oder doch? Wenn er nur mehr Zeit zum Überlegen hätte. Hatte er etwas im Haus angefasst, Fingerabdrücke hinterlassen? Die Hintertür, klar, das Abwischen wollte er ja zum Schluss erledigen.
*
Zunächst lief alles gut. Der Nachschlüssel passte und die Hintertür öffnete sich geräuschlos. In wenigen Schritten hatte Dieter den Waschraum durchquert und trat in den Flur. Alles war genauso wie beschrieben. Er orientierte sich kurz und öffnete die Wohnzimmertür. Am anderen Ende des Raums lag die Treppe zum Schlafzimmer. Doch in diesem Moment ging das Wohnzimmerlicht an. Dieter hörte ein Geräusch, fuhr herum und erstarrte. In der Küchentür stand eine Frau. Tausend Gedanken stürzten auf Dieter ein und beinah hätte er sich umgedreht und wäre weggelaufen. Doch mit seinem letzten Funken Verstand riss er sich zusammen. Verdammte Scheiße. Es war alles vermasselt.
»Wer sind Sie?«, rief die Frau schwach.
Statt einer Antwort hob er die Pistole.
*
Dieter fuhr mit der U-Bahn, das Auto war viel zu riskant. Je näher er der Straße kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Becky lag jetzt sicher schon im Bett und träumte. Und Christine ... Er hatte ihr erzählt, dass er noch mal in die Firma musste. Sie hatte keine Fragen gestellt. Nur genickt. Unter ihren Augen lagen in letzter Zeit auch dunkle Schatten. Er sah sie genau vor sich. Dieters Schritte wurden wieder schneller.
*
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Dieter ohne wirkliche Überzeugung. Er brachte es nicht über sich, Lehmann dabei anzuschauen. Stattdessen starrte er auf den kleinen Blumentopf auf dem Schreibtisch. Die Blätter werden langsam braun, dachte er unwillkürlich. Hendrik Lehmann legte ein schmallippiges Lächeln auf.
»Herr Kotschate, Sie wissen, wie hoch Ihre Schulden sind. Ich nehme an, Ihre Frau und ihre kleine Tochter wissen es nicht. Wie alt ist sie überhaupt, Ihre Kleine ...?«
»Acht«, brachte Dieter heraus. Lehmann nickte befriedigt.
»Kein Alter, in dem man sich Sorgen um seinen Vater machen sollte. Ich bin sicher, dass Sie die Angelegenheit schnell und sauber über die Bühne bringen werden. Einfach rein, das Medaillon aus der Kommode holen und wieder raus. Renate kommt erst am Sonntag von ihrer Tante zurück und es wird wahrscheinlich noch ein paar Tage dauern, bis sie den Diebstahl bemerkt.« Er verzog kurz das Gesicht. »Wenn man überhaupt von Diebstahl sprechen kann. Das Medaillon war schließlich mein Geschenk, bevor wir uns getrennt haben, und da es ein Familienerbstück ist, möchte ich es gerne wieder haben. Leider sehe ich keinen anderen Weg.«
Dieter erwiderte nichts darauf. Er hatte sowieso nicht begriffen, weshalb ein stinknormales Medaillon so wichtig für Hendrik Lehmann sein sollte. Aber es war ihm auch egal. Das Medaillon war seine einzige Chance, die Schulden auf eine halbwegs erträgliche Art bei Lehmann einzulösen. Er würde beinah alles machen, damit Christine und vor allem Becky niemals erfuhren, was er in den letzten Monaten alles verspielt hatte. Natürlich, Christine ahnte bereits etwas. Das Haushaltsgeld, das er ihr gab, wurde immer knapper. Sie sah seine Ringe unter den Augen und gewiss hörte sie, dass er sich nachts hin und her wälzte. Arbeitsstress, hatte er gemeint, doch das zog nicht mehr lange. Wenn nur alles glatt ging. Aber Lehmann hatte gut geplant. Jemand in seiner Position überließ nichts dem Zufall.
*
Als Dieter auf dem Sessel kauerte, fühlte er sich an seine Schulzeit erinnert. Lehmann hätte tatsächlich einen guten Schuldirektor abgegeben. Einen von der Sorte, dem man nicht gerne auf dem Flur begegnete.
»Ich weiß, es klingt albern, einen solchen Aufwand für ein Medaillon zu machen.« Dieter stimmte Lehmann zu, doch er hütete sich, es laut auszusprechen. Überhaupt war es das Beste, so wenig wie möglich mit Lehmann zu sprechen. Man zahlte seine Schulden und ging. Oder auch nicht. Dann saß man hier.
»Mit anderen Frauen kann man allerdings auch besser reden als mit Renate.«
Das glaub ich gern, dachte Dieter. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass ausgerechnet Hendrik Lehmann mit einer Verrückten verheiratet gewesen war. Die ersten Jahre seien allerdings normal gewesen, hatte Lehmann gerade erzählt. Dann begannen die Wahnvorstellungen. Renate sprach immer öfter von den »bösen Mächten«. Sie las Bücher über Magie und Dämonen und verschloss sich immer weiter in ihrer eigenen Welt. Irgendwann verdächtigte sie ihren Mann, mit den Stimmen zu kooperieren. Lehmann hatte ihr mehrfach zu einer Therapie geraten, war aber auf taube Ohren gestoßen. Eine Trennung war unvermeidlich, gerade für jemanden in Lehmanns Stellung. Und echten Kontakt gab es schon lange nicht mehr. Renate lebte zurückgezogen in ihrem kleinen Haus, kümmerte sich um ihre uralte Tante und führte wahrscheinlich Selbstgespräche mit den »bösen Mächten« und den »Stimmen«. Fast tat es Dieter leid, dass er bei ihr einbrechen musste. Aber sein eigenes Leben hatte Vorrang. Es gefiel ihm auch nicht, dass er eine Pistole mitnehmen sollte. Renate war verreist, doch Lehmann wollte auf Nummer Sicher gehen - vielleicht machte Dieter Lärm und rief einen neugierigen Nachbarn auf den Plan. Natürlich sollte Dieter auf niemanden schießen, aber ein Warnschuss zur Abschreckung war denkbar.
*
Noch gut zwanzig Minuten, bis Kotschate eintreffen würde. Lehmann lehnte sich entspannt im Sessel zurück. Kotschate würde annehmen, das stand fest. Er hatte gar keine andere Wahl. Und so groß war sein Risiko nicht. Dank der Skimütze würde ihn niemand erkennen. Die Gegend war ruhig, Renates Nachbarn verreist, wie Lehmann recherchiert hatte. Er selbst würde wie immer um diese Zeit im Club sitzen. Kurz nachdem es vorbei war, käme dann Kotschates Anruf. Natürlich nur, wenn nichts schief ging. Aber er schätzte Kotschate nicht als Zauderer ein. Es ging um Frau und Kind - er würde, vor die Wahl gestellt, einer alten Frau nicht den Vorzug geben. Auch wenn er sich über die rührselige Story mit dem Medaillon und den Aufwand vermutlich wundern würde. Zu Recht. Lehmann lächelte. Endlich wurde es zum Abschluss gebracht. Er begann leise zu summen. Fast gleichzeitig fing das Flüstern an. Von allen Seiten raunten sie. Zum ersten Mal seit langer Zeit klangen sie freundlich, fast zärtlich. Das beruhigte ihn. Nicht mehr lange, antwortete er ihnen, ohne den Mund zu öffnen. Ein wenig Geduld, ein klein wenig. Ich gebe euch, was ihr wollt. Nur Geduld. Das Flüstern wurde leiser. Er schaute noch immer verklärt vor sich hin, als die Sekretärin Kotschate ankündigte.