- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Eingeseifte Realität
Die hagere, hochgewachsene Gestalt räusperte sich, griff nach dem Glas Wasser, das auf dem Konferenztisch stand. Das Licht der Abenddämmerung drang nur noch müde durch die abgedunkelten Fenster des Raumes im ersten Stockwerk. Draußen legte sich ein oranger Schein über die weiten Felder, die sich jenseits des Firmengebäudes erstreckten.
Die hagere Gestalt trank, und schluckte schwer.
"Sie können mir gar nichts, mir Ihren Anschuldigungen."
Fünf Menschen hatten Platz genommen, an dem langen Tisch aus schwarz lackiertem Holz. Ihre Gesichter waren Schemen im schwächer werdenden Licht.
Die korpulente Person am gegenüberliegenden Ende hatte zittrige Hände, die sich nervös ineinander kneteten.
"Was Sie da vorschlagen ist Wahnsinn. Das kann nicht mehr vernünftig sein."
Der Hagere stand abrupt auf und verschüttete sein Wasser.
"Nun hören Sie mir mal ganz genau zu. Sie wissen, wie groß der Druck von den Amerikanern ist. Wenn die Fabrik in Polen nicht bis Ende des Jahres läuft, dann ..." - Er sah in die dunkle Runde. "... dann läuft mit uns auch nichts mehr."
Der Mann im beigen Hemd und mit der roten Krawatte mischte sich ein.
"Wir haben jetzt schon Ausschuss ohne Ende. Das mit Polen läuft nicht. Es war klar. Wir hätten nie auslagern dürfen. Sie wissen das. Das gibt nichts."
Der Hagere atmete heftig, lockerte sich den Hemdkragen, ehe er antwortete: "Als ich hierhin übernommen wurde, da war die Fabrik ganz klein. Ich habe sie aufgebaut, und jetzt muss die gesamte Produktion da rüber, ganz gleich, wie das angestellt wird. Ich will Fortschritte sehen, und keine Ausschüsse!"
Die letzten Worte schrie er in das Gesicht des Produktionsleiters.
Der Korpulente stand jetzt ebenfalls von seinem Stuhl auf.
"Herr Doktor Schellten. Wir können nicht zweihundert Leute auf einen Schlag reduzieren. Eine solche Anpassung ist Humbug. Mindestens ein Jahr. Darunter geht nichts."
Der Hagere setzte sich wieder.
"Sie können mir gar nichts", wiederholte er sich. - "Und wenn hier alles in die Brüche geht, mir können Sie gar nichts. Aber Sie, Herr Geringen, Sie sollten sich in Ihrer Position als oberster Geschäftsführer ganz genau überlegen, welche Ergebnisse Sie in die USA weitergeben. Ich kann das Unternehmen wechseln. Mich kümmert dieser Laden hier auch nicht sonderlich. Ich bin ohnehin erst sechzehn Monate hier. Wenn ich aufgrund inkompetenter Führung meinen Posten verliere ... das geht mir sowas von am Arsch vorbei."
Geringens Hände zitterten noch heftiger. Er wandte sich an die beiden Herren aus dem Finance Bereich, die bislang schweigend zugehört hatten.
"Sie haben alles zusammengestellt?"
Der eine nickte, der andere deutete auf den buchdicken Stoß Papier, der vor ihm lag. - "Das reine Betriebsergebnis liegt zwischen 13,5 und 14 Prozent. Natürlich lässt sich da noch auf legale Weise beschönigen."
Geringen nickte abwesend.
"Maximal zehn. Alles darüber ist zu positiv. Wir haben das Beste Jahr seit 93. Trotz der enormen Kosten, die durch die teilweise Produktionsauslagerung angefallen sind. Das Ergebnis ist zu hoch."
Schellten lachte laut auf.
"Sie denken doch wohl nicht, dass irgendein Trottel die Zahlen versteht, die wir denen auf der Betriebsversammlung entgegenschleudern. Die kennen nur ihre stupiden Tätigkeiten. Und der Betriebsrat? Ein Witz! Der hat vor fünf Jahren noch Kartons im Wareneingang ausgepackt. Würde mich wundern, wenn der seine eigene Gehaltsabrechnung nachvollziehen könnte."
Der hagere Herr Doktor Schellten wurde plötzlich ruhiger, während die Sonne hinter dem Horizont verschwand.
"Ich weiß gar nicht, wo das Problem liegt. Schlechte Wirtschaft, hört man doch täglich in den Nachrichten. Verlagerung ins Ausland wegen gestiegener Kosten. Sonst gibts noch mehr Arbeitslose. Diese Leute werden das schon verstehen, wenn man ihnen ein paar Excel Sheets zeigt, die sie nicht kapieren, und die im Sekundentakt weiter geklickt werden. Dann brüllt der Betriebsrat noch ein wenig rum, Sozialpläne werden aufgestellt, und zwei Wochen später haben sich alle damit abgefunden, und für die Medien sind wir nicht groß genug. Da kräht kein Hahn nach. Die Fabrik in Polen gehört eben zum Konzern, und wenn die sagen, wir bauen die aus, dann bauen wir die aus."
Geringen griff nach dem enormen Stoß Papier. Er kannte die Zahlen, die Verteilungsschlüssel, sämtliche Kostenstellen, und wie wirtschaftlich sie arbeiteten. Er hatte Nächte mit dem Studieren der Fakten zugebracht.
"Das macht uns kaputt", murmelte er.
Schellten goss sich Wasser ins Glas.
"Es ist das, was der Konzern will. Dafür bin ich hierher gekommen."
Geringen sah auf.
"Ich könnte veranlassen, dass sie hier auch ganz schnell wieder raus sind."
"Und dann?"
In Gedanken ging der oberste Geschäftsführer die nächste Betriebsversammlung durch. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er vor sechs Monaten behauptet hatte, dass es so gut wie lange nicht mehr liefe. Und nun sollte er das genaue Gegenteil kundtun? Ging das?
Er müsste viel reden, von überhöhten Rohstoffpreisen und großem Konkurrenzdruck. Und er müsste dabei eine komplizierte Sprache verwenden, die nur ein paar dutzend Leute in der Firma verstanden, deren Einwände er aber gegenüber den nicht Kaufleuten mit irgendwelchen Phrasen widerlegen würde.
Und der Betriebsrat? Der konnte ohnehin nur brüllen.
Vielleicht funktionierte es.
Der Produktionsleiter schüttelte ununterbrochen den Kopf.
Die beiden Männer aus dem Finance Bereich fühlten sich unwohl.
"Es bleibt wohl keine andere Wahl", sagte Geringen.
"Sie sagen es", grinste Schellten.
Und diese Geschichte ist keine Seifenoper.