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Einmal im Rampenlicht
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Manuela öffnete das Abteilfenster und atmete erleichtert die frische Luft ein. Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung. Schwankend, nach Halt suchend, schob sich eine Gruppe Reisender durch den Flur.
"Da ist auch noch was frei - pfui Teufel, ist das vielleicht schmutzig!", beschwerte sich eine Dame mit platinblonden Haaren und wedelte affektiert mit ihrem Spitzentaschentuch über den Sitz.
"... und dieser Mief", dachte Manuela als ein schlaksiger Junge ihr gegenüber Platz nahm, die langen Beine ausstreckte und penetrant nach Knoblauch roch.
Sie wollte das Fenster noch ein Stück herunterziehen, weil sie ein flaues Gefühl im Magen verspürte, da sprang der junge Mann auf, packte den Griff und schloss es.
"Hey...", setzte Manuela zum Protest an.
"Sie können doch nicht einfach alle Leute im Abteil der Zugluft aussetzen. Bedenken Sie mal die Konsequenzen. Meine Mutter", er schaute zu der blonden Dame die sich nun vorsichtig auf den gesäuberten Platz niederließ, "hat eine schlimme Erkältung."
Manuela wollte aufstehen und das Abteil verlassen, da kippte die Reisetasche des Jungen zur Seite und ein hellgelber Briefumschlag glitt heraus. Das Firmenlogo der Casting-Agentur war ihr bekannt und auch der Name "Sternberger" ein Begriff. Ihr Plan war aufgegangen, die Familie ihres Exfreundes Rainer hatte ihre Einladung zur Talkshow angenommen. Ihr Mund wurde trocken, ihr Herz schlug schneller, als ihr die Konsequenz ihres Handelns bewusst wurde.
Dieser "Knoblauchjüngling" ihr gegenüber müsste Rainers jüngerer Bruder Ralf sein - aufstrebender Beamte im höheren Dienst. Sie schluckte ihren Ärger hinunter und sagte demütig: "Aber ein bisschen Luft muss sein, ich bin im fünften Monat und mir geht’s zur Zeit nicht so besonders."
Der junge Mann nickte kurz, knurrte irgendetwas Zustimmendes und ließ das Fenster einen kleinen Spalt weit offen.
Manuela war zwar ein Mensch, der gerne Kontakte knöpfte, aber für diese Leute konnte sie von Anfang an keinerlei Symphatie aufbringen, sah sie regelrecht als ihre Feinde an. Das lag wohl daran, weil sie bei Rainer immer die Frau im Verborgenen spielen durfte.
Groß und breit saß da die Mutter und strich sich die Falten ihres Designerkostüms glatt. Neben ihr saß ihr Ehemann. Die Hände im Schoss zusammengefaltet, schaute er mit ergebener Miene zu seiner übelgelaunten Gattin. Er wirkte an für sich symphatisch, stand aber unter der Fuchtel seiner Frau. Gegenüber saß die hübsche Tochter, mit schulterlangen, blonden Haaren. Sie erinnerte Manuela flüchtig an eine Schauspielerin aus ihrer Lieblingstelenovela "Verliebt in Berlin".
"Sie scheint so ein richtig pubertierendes Zickchen aus einer finanziell höher gestellten Familie zu sein", sinnierte Manuela. "Oh, wie hochmütig sie aus der Wäsche guckt. Und geschminkt ist sie, wie für einen richtig großen Auftritt. Den wird sie hoffentlich nachher auch haben!"
Fröhlich winkend betrat eine hochgewachsene Frau das Abteil, ein niedliches aber etwas trotziges Kleinkind hinter sich herzerrend.
"Ach, das muss Rainers Cousine Ulrike und ihre kleine Tochter Sissi sein", überlegte Manuela. Rainer hatte Manuela oft von Ulli aus Darmstadt und ihren munteren Kindern erzählt. Ulrike, diese etwas chaotische, alleinerziehende Mutter mit chronischem Geldmangel, hatte wohl auch Interesse an dieser Talkshow bekommen.
"Oh, wie sie ihre Haare gefärbt hat, so ein künstlich aussehendes Schwarz! Scheint den gleichen Friseur zu haben, wie unser ehemaliger Bundeskanzler Schröder", dachte Manuela spöttisch. "Vielleicht liegt es nur an dem Umstand, dass Ulrike zu Rainers Sippschaft gehört, dass ich sie unsymphatisch finde."
Rainers Cousine hatte ein hinreißendes Lächeln und wirkte offen und umgänglich. Wenn diese unglücklichen Verknüpfungen nicht wären, könnte sich Manuela sogar vorstellen, mit ihr befreundet zu sein.
"Hallo Ulrike", rief ihr die Mutter zu. "Wo hast du deinen Sohnemann gelassen?"
"Ach der, der hat wieder mal so ein wichtiges Fußballturnier. Sein Trainer lobt ihn sehr. Er sagt, der hat das Talent für einen richtig guten Spieler. Er ist auch total ehrgeizig, will zu den "den Lilien", den "Darmstadt 98ern". Aber seine Klamotten, seine Fußballschuhe, was das Alles kostet!"
"Hi Ulrike", hauchte der blonde Teenager und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
"Na, schon wieder mal müde Damaris?"
"Ach Damaris heißt seine Schwester!", dämmerte es Manuela. "Irgend so einen ausgefallenen Namen hatte Rainer mir damals genannt."
"Ich brauch 'nen Kaffee", brummelte diese und griff nach ihrem Handtäschchen. "Weißt du Ulli, wir sind um fünf Uhr aus den Federn gekrochen und seit über zwei Stunden inklusive Umsteigen unterwegs zu diesem bescheuerten Studio in Köln."
"Bei mir war es heute auch nicht viel besser. In Frankfurt habe ich erst mal meinen Anschlusszug verpasst. Kann vom Glück sagen, dass ich den nachfolgenden IC nach Köln noch erwischt habe. "
"Ich schlage vor, wir schließen uns alle Damaris an und gehen in den Speisewagen", verkündete die Mutter mit lauter Stimme. "Ulrike, kommst du auch mit?" fragte sie die schmale Frau und befahl dem Kind: "Sissi, komm, du hast noch nicht gefrühstückt. Oma besorgt dir erst mal einen guten Kakao."
Bevor die Familienpatriachin das Abteil verließ, schaute sie zu den Gepäckstücken und befahl Manuela: "Und Sie, passen Sie bitte auf unsere Koffer auf, bis wir wiederkommen! Danke auch!"
"Schade, nun gehen sie in den Speisewagen, Ende der Muppets-Show", dachte Manuela enttäuscht.
"Zum Glück weiß niemand aus dem Familienclan, wer ich bin!"
Dieses herrische Gebaren, dieser Befehlston, das Alles erinnerte sie an Rainers schlechte Eigenschaften. Andererseits konnte er auch lieb und verständnisvoll sein, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, setzte er es kalt und rücksichtslos durch.
Sie dachte an diesen schwülen Samstag im Juli. Rainer hatte Manuela zu seiner Datscha eingeladen. Manuela, die in einem großen Autohaus bei Rathenow arbeitete, hatte Schwierigkeiten, am Wochenende frei zu bekommen, aber Rainer bestand auf dieses Treffen. Manuela liebte die Wochenenden an der Havel, aber diesmal hatte sie ein mulmiges Gefühl, weil seine Stimme zu hell und unehrlich geklungen hatte. Außerdem fühlte sie sich in der ersten Zeit ihrer Schwangerschaft ängstlich und anlehnungsbedürftig. Sie würde Rainer endlich erzählen, dass er Vater wurde.
Am Ferienhaus angekommen, sah sie mit Entsetzen einen Korb mit ihren Handtüchern und Toilettenartikeln vor der Tür stehen. Rainer trat heraus und sagte kühl: "Liebe Manuela, es tut mir leid, dass ich dir gegenüber nicht ganz ehrlich war. Weißt du, ich bin schon über einem halben Jahr mit einer Frau zusammen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich sehr viel für diese Frau empfinde. Die Beziehung zu ihr hatte von Anfang an viel mehr Tiefe, als bei dir. Sorry, dass ich so feige war und erst jetzt damit rausgerückt bin."
Manuela wurde durch Rainers Beichte Einiges klarer. Ihr Freund war seit langem "zweigleisig gefahren" und sie hatte etwas geahnt, aber nicht auf ihre innere Stimme gehört. Wenn Rainer kurzfristig ein Date absagte, weil ein dringender Geschäftstermin dazwischen gekommen war, da war er mit Sicherheit bei "ihr" gewesen. Im Nachhinein betrachtet, hatte sie in der Zeit mit Rainer immer nur kurzzeitige Dates, ansonsten wäre die andere Frau irgendwann mal misstrauisch geworden. Manuela hatte sich auch darüber gewundert, dass Rainer sie nie seiner Familie vorgestellt hatte, zumal Berlin nur eine Stunde Fahrzeit von Rathenow entfernt lag. Sie hatte damals gedacht, Rainer schämte sich ihrer und sie wäre seiner Familie gegenüber nicht vorzeigbar. Als sie den wahren Grund für diese Heimlichtuerei erkannte, spürte sie eine Wut, die wie glühende Lava in ihr hochstieg. Sie fühlte sich ausgenutzt und hintergangen. Klar, Gefühle kommen und gehen. Aber ein bisschen mehr Ehrlichkeit ihr gegenüber wäre von Anfang an angebracht gewesen.
Kurz vor Einfahrt in den Zielbahnhof erschien die Familie wieder im Abteil. Der Vater bedankte sich bei Manuela für das Aufpassen und wünschte ihr noch eine gute Reise.
"Danke", sagte sie. "Aber ich steige auch aus."
Ihr Magen grummelte. Voller Hass und Rachegedanke hatte sie an der Ausführung ihrer Pläne gefeilt. Nun da es ernst wurde, bekam sie Bedenken. Aber da musste sie durch.
Vor dem Bahnhof warteten junge Leute mit Schildern, die sie zu einem Zubringerbus führten. Manuela saß dicht bei Rainers Familie, die nun ihre Briefumschläge herauskramten. Auch Manuela angelte in ihrer Handtasche nach einem Umschlag, als sie auf dem Parkplatz vor einer Lagerhalle zum Stehen kamen. Sie stiegen aus und Manuela verspürte einen kleinen Stich im Magen. Da stand Rainer, am Arm seine Freundin, ein hübsches Mädchen mit braunem, halblangem Lockenhaar. Beide sahen sich missmutig um und Rainer beschwerte sich bei seiner Familie: "Wie könnt ihr diesen Blödsinn mitmachen! Glaubt nur nicht, ich geh da mit hinein!"
"Stell dich nicht so an, Rainer-Hase. Hier geht es um unbekannte Familienmitglieder. Bei dem adeligen Teil meiner Verwandtschaft gab es einmal einen Baron, der sich nach Südamerika abgesetzt hatte." Energisch bauschte die Mutter ihr Blondhaar auf.
Manuela duckte sich hinter einem Lastwagen, während die Sippschaft in die Halle geleitet wurde.
Sie wartete noch ab, bis Ulrike mit der widerstrebenden Sissi im Eingang verschwunden war, dann trat sie zögernd zur Studiotür. Eine stark geschminkte Frau warf einen kurzen Blick auf ihren Briefumschlag und deutete mit arroganter Miene in den Flur.
"Die Kandidatengarderobe ist hier vorne. Ich wünsch Ihnen einen angenehmen Aufenthalt."
Nervös schritt Manuela zu einer großen Eisentür. Sie kam sich vor, wie in einem Verlies.
"Nein", sagte ein junger, blonder Mann mit einem Strahlelächeln. "Da ist die Studiotür, da vorne ist ihre Garderobe. Wenn die Talkrunde mit dem Thema: "Schlampe, du hast meinen Jungen auf dem Gewissen!" im Kasten ist, sind Sie an der Reihe. Sie werden als Spezial-Guest in der Talkrunde: "Hallo, hier ist ein noch unbekanntes Familienmitglied!" auftreten. Hier vorne ist Ihre Einzelgarderobe. Wenn Sie noch eine Kleinigkeit essen oder trinken möchten, wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung."
Lächelnd streichelte Manuela ihren Bauch und sprach leise: "Kleines, wenn du mal älter bist, wirst du dir diese Talkshow auf Video ansehen. Mal sehen, was du dann von deiner Mama denkst. Aber vielleicht ist es besser, du erfährst nie, was damals in diesem Studio abgegangen ist."
Aus der Nachbargarderobe hörte sie lautes Stimmengewirr. Ein Mann mittleren Alters, die hohe Stirn hektisch gerötet, eilte mit einigen Namensschildern durch die Tür und fragte Manuela nach ihrem Castingschreiben, auf das er einen schnellen Blick warf und dann den Nebenraum betrat . Die Tür blieb einen Spalt weit offen und Manuela linste neugierig in das kleine Zimmer. Da saß Rainers Familienclan, eifrig mit einem Betreuer ins Gespräch vertieft. Der Mann schien eine Art Animateur zu sein. Mit weit ausschweifenden Armbewegungen versuchte er der staunenden Familiengemeinschaft klar zu machen, wie die Talkshow abzulaufen hatte:
"Das ist doch langweilig, das will niemand hören", rief er lebhaft. "Da war es doch bestimmt heftiger zur Sache gegangen."
Ulrike meldete sich zu Wort: "Ich find es schon interessant, mit was für Themen die Leute ins Studio kommen. Meistens geht es ja um Eifersucht."
"Können Sie etwas zu dem Thema Eifersucht sagen?"
"Oh ja, das trifft leider auch auf mich zu!" beteuerte Ulrike. "Die Sache ist zwar schon ein halbes Jahr vorbei, schmerzt aber immer noch. Mein aktueller Exfreund hat mich seit über zwei Jahren mit einer Radiojournalistin betrogen, so einem blonden Gift. Inzwischen ist diese Frau sogar Nachrichtensprecherin, im Fernsehen, wohlgemerkt. Sie spricht bei einem Regionalsender und ist deswegen noch nicht so in der Öffentlichkeit bekannt. Aber sie verdient es bekannt zu werden, denn sie ist die würdige Nachfolgerin von Partyluder Ariane Sommer! Vor der Kamera ist sie das kühle, blonde Nordlicht, aber in der Night-Szene ist sie die große Schlampe. Fast unbekleidet, mit glänzenden Augen und verschmierten Make-up erscheint sie auf verschiedenen Club-Fotos im Internet. Selbstverständlich setzt sie meinem Ex-Freund "Hörner auf". Aber der Troddel merkt das nicht einmal."
"Hey, das ist ja interessant!", rief der Studio-Animateur. "Wenn Sie Interesse haben, ich lade Sie gerne zu der Runde: "Mein Ex hat mich mit einem Promi betrogen" ein."
Ulrike beugte sich mit glänzenden Augen über seinen Terminkalender. Ob Rainers Cousine sich für diese Talkshow entschloss, bekam Manuela nicht mehr mit, denn sie wurde zur Maske gebeten. Während die Maskenbilder mit Puderquasten in ihrem Gesicht herumfuhrwerkten, dachte sie, dass sie sich bei Ulrike getäuscht hatte. Manuelas erster Eindruck von ihr war der einer patenten Frau gewesen, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Sie fand es enttäuschend, dass sie sich auf so eine Schmuddeltalkshow einließ. Mochte die Rundfunksprecherin auch eine dumme Pute sein, aber sie verdiente es trotzdem nicht, so vor der Öffentlichkeit bloßgestellt zu werden.
Der Make-up-Künstler befahl Manuela die Augen zu schließen, als er den dunklen Lidstrich am Oberlid vollendete. Sie spürte den feuchten, kühlen Druck des Stiftes und hatte nur einen Wunsch, endlich von hier weg zu kommen.
"Erkennen Sie sich noch?" Um Anerkennung heischend sah sie der Maskenbilder an. Manuela schaute auf ein Gesicht, das ihr vollkommen fremd war.
"Nun kommen Sie, sagen Sie den Leuten was sie auf dem Herzen haben, lassen Sie alles aus sich raus!" rief der Aufnahmeleiter.
Die Tür ging auf und Manuela wurde ins Studio geführt. Vergeblich versuchte sie ihre zitternden Knie unter Kontrolle zu bringen. Grelle Scheinwerfer blendeten sie. Aus weiter Ferne hörte sie Damaris aufrufen: "Die Schwangere aus dem Zug!"
"Hallo, hier bin ich. Die Manuela", stellte sie sich vor und wunderte sich, dass ihre Stimme nicht versagte. "Ich möchte hier ein noch unbekanntes Familienmitglied vorstellen, und zwar – trara - den Sohn meines Exfreundes Rainer. Ich werde ihn Dennis nennen."
Sie schaute in Gesichter, die teilweise voll ungläubigen Staunens oder Entsetzen entstellt waren. Rainers Freundin brach zusammen und schluchzte laut.
Manuela sah die Studiotür - ihr Fluchtpunkt und Ausweg und rannte, Mikrokabel hinter sich herschleifend, aus dem Aufnahmebunker. Draußen empfing sie Dunkelheit und frische Herbstluft. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und eine Frauenstimme sagte zu ihr:
"Keine Sorge, das ist schon okay. Nein, ich habe mich auch nicht von diesen Fuzzies einwickeln lassen, "schmutzige Wäsche zu waschen" und dabei meinen eigenen Ruf zu ruinieren. Für kein Geld der Welt! Komm jetzt Sissi, wir gehen Eisessen. Gehen Sie, gehst du auch mit? Ach ich bin übrigens die Ulli."