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Einmal mit alles
Kurz nach Zwölf, es herrscht Hochbetrieb in HAYDAR´s DÖNER-PARADIES: Die Luft ist schwanger von Bratfett, Männerschweiß und Fliegen. An der Decke dreht sich träge ein alter Ventilator, doch im Laden befindet sich schon längst keine Mikrobe Frischluft mehr, die seine fettigen Propeller einfangen und verteilen könnten. Irgendwo dudelt ein unsichtbares Radio orientalische Klänge, begleitet von wehleidigem Jammer-Singsang, der obligatorische Glücksspielautomat blinkt mehr müde als herausfordernd, und oben in der Raumecke, durch den Dunst kaum zu erkennen, hängt ein altmodischer Fernseher, der ein türkisches Programm ausstrahlt. Zu sehen gibt es eine Herzschmerz-Soap in schrillen Farben; Menschen weinend und verzweifelnd, aneinander geklammert oder wild gestikulierend. Obwohl ich kein Wort verstehe, weiß ich, daß es um so existenzielle Themen wie Liebe und Hass, Glaube und Vertrauen geht. Die Darsteller sind geschminkt und gekleidet wie in den 70er Jahren, die Bildqualität ist sogar noch schlechter.
Der Laden ist gerammelt voll: Etwa ein Dutzend Menschen drängeln sich vor der Theke, hinter der Haydar mit seinen beiden Kollegen wie besessen Fleisch von den Spießen säbelt, Brote aufschneidet, Soßen und Salate hinein schaufelt, zwischendurch Getränke ausschenkt, den Samowar im Auge behält, die alte Registrierkasse bedient und immer wieder irgendetwas Unverständliches nach hinten in die offene Küche schreit, wo das Halbprofil einer uralten, kopftuchverhängten Frau zu sehen ist, die gebückt über einem Hackbrett steht und riesige, blutige Fleischklumpen in Stücke schneidet.
Ein Trupp von dreckstarrenden Bauarbeitern hat sich in den Laden gequetscht, ferner ein UPS-Fahrer, zwei Punks, ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren, zwei knapp volljährige Mädchen, wahrscheinlich noch Schülerinnen, ein altersloser Asiate mit Brandwunden am Hals und ich, der ich als letzter gekommen bin. Uns gegenüber wirbeln Haydar und seine Mannen: Gewandet in Schürzen und ehemals weiße T-Shirts, auf denen der Name des Geschäfts prangt, den man aber unter all den Fett- und Soßenspritzern nur mehr ahnen als lesen kann. Sie sind ein eingespieltes Team: Obwohl der schmale Streifen zwischen Theke und Spießen kaum Platz bietet, wirbeln sie dahinter mit beinahe maschineller Präzision, ohne daß sie einander den Weg versperren oder sich gegenseitig die Ellenbogen in die Bäuche rammen. Zwischendurch werden knappe Kommandos und kurze Instruktionen gemurmelt; wie ein Guerilla-Trupp hinter feindlichen Linien arbeiten sie, ihr Auftrag ist der zufriedene Kunde.
„Ein´ Döner!“
„Für mich auch!“
„Auch ein´ Döner“
„Ich nehm´ne Pizza!“
„Einmal Döner!“ - Die Bauarbeiter interessieren sich nicht für die lange Reihe weiterer türkischer Gerichte, die auf einer verschmierten Tafel neben den zwei Spießen angepriesen werden. Überhaupt erlebe ich selten, daß sich in diesem Laden irgendwer für etwas anderes als Döner oder Pizza entscheidet. Ob Haydar das frustriert? Sein Leben sinnentleert erscheinen läßt? Vielleicht brütet er nächtelang über neuen Kreationen, virtuosen Mittagstischen, beispiellosen Zusammenstellungen von erlesensten Köstlichkeiten - und dann: Immer nur Döner, Döner, Döner...
„Mit alles?“ wendet sich Haydars erster Kollege an einen der Bauarbeiter, das aufgeschnittene und bereits mit Soße bestrichene Brot in der Hand, die Zange griffbereit über Tomaten, Gurken, Zwiebeln und all dem anderen Grünzeug schwebend.
„Nee, ich will keine Zwiebeln“, kommt die Antwort.
Zwei andere melden sich ungefragt zu Wort:
„Für mich ohne scharfe Soße, aber extra viel Tomaten!“
„Und ich nehm´ Pute, nich´von dem normalen Spieß.“ Wie viele dieser Geschäfte bietet auch HAYDAR´s DÖNER-PARADIES neben dem herkömmlichen Rindfleisch einen Spieß mit Pute, der sich immer größerer Beliebtheit erfreut. Offensichtlich jedoch nicht bei dem UPS-Mann. Der gibt, weil er sich fälschlicherweise angesprochen glaubt, zu verstehen:
„Ich will keine Pute. Lieber normal. Und keine Gurken. Oder – doch mit Gurken, aber nicht so viele.“
Während Haydars Kollegen, die wir in Unwissenheit ihrer wirklichen Namen einfach Kenan und Gökhan nennen wollen, sich mit fliehenden Händen um die Erfüllung der ausgesprochenen Wünsche kümmern, beugt sich der Chef persönlich über den Tresenrand zu dem Jungen herunter, den er offenbar bereits kennt:
„Na, kleiner Mann? Wie immer?“
„Nein, heute soll ich...“ Der Bengel zerrt umständlich einen zerknüllten Zettel aus der Hosentasche, glättet ihn halbherzig und liest dann stockend vor: „... drei Döner, eine Pizza und einen Pösek haben.“
„Börek meinst Du - kein Problem!“, zeigt sich Haydar optimistisch, während er in die gekühlte und trotzdem irgendwie modrig feuchte Auslage greift, um den Börek und die Pizza ans Tageslicht zu befördern.
„Den Pösek mit Hack... einen Döner ohne Tzatziki... einen nur mit scharfer Soße und Fleisch... und einen mit alles“, fügt der Junge hinzu, wobei er so stockend vom Papier abliest, als sei er erst gestern eingeschult worden. Haydar kommt etwas in Stocken, wiederholt die Bestellung murmelnd in seinen voluminösen Schnurrbart, als hätte er darin ein kleines Diktiergerät verborgen, und gibt dann, während er die Pizza ausbreitet und den Börek in die Mikrowelle schiebt, eine knappe Instruktion an Gökhan, der daraufhin statt zwei Broten vier auftrennt.
Punk Nr.1 gibt seine Bestellung, und ich ahne bereits, was er will, bevor er es ausspricht:
„Einen vegetarischen Döner.“ Bingo! Wieso ernähren sich diese Freaks immer so korrekt - als wenn es kapitalistisch und im Sinne des Systems wäre, ein paar Stücke Fleisch zu essen?! Ich beschließe, wenn ich an der Reihe bin, extra viel Fleisch zu verlangen, wenn möglich direkt von dem blutigen Klumpen aus der Küche.
„Was darf´s sein?“ wendet sich Kenan jetzt mit jovialem Lächeln an die beiden Mädchen, obwohl er noch wirbelt, mit Soßenkelle, Brot und Messer jongliert und weit davon entfernt scheint, seine bisherigen Bestellungen abgearbeitet zu haben.
„Wir nehmen beide Döner“, bestellt die eine für beide. Ich spüre förmlich, wie Haydar innerlich zusammen zuckt und sich verzweifelt fragt: Wieso nicht das köstliche Nudelgericht von der Karte – oder die in Rosenblätter gerollten Hackfleischbällchen?
„Meinen aber nicht so scharf“, ergänzt die zweite mit so kraftloser Mäuschenstimme, daß mir klar wird, weshalb ihre Freundin die Bestellung aufgegeben hat.
Einer der Bauarbeiter verfolgt Gökhans Handgriffe und schaltet sich ärgerlich ein:
„Ohne scharfe Soße, hatte ich gesacht...“
Gökhan entschuldigt sich, puhlt leise schimpfend das bereits im Brot befindliche Gemüse heraus und kratzt mit der Soßenkelle das feurige Rot herunter.
„Und ich wollte keine Zwiebeln“, erinnert ein anderer Bauarbeiter Haydar an seinen Extrawunsch, doch der ist gar nicht mit dem zwiebellosen Döner beschäftigt, sondern mit dem tzatzikifreien für den leseschwachen Jungen. Trotzdem nimmt er den Einwurf nickend zur Kenntnis.
Obwohl ihn niemand beachtet oder gar aufgefordert hat, seine Bestellung abzugeben, beginnt plötzlich der Asiate in kaum verständlichem Kauderwelsch zu brabbeln, dabei zeigt er abwechselnd in die Auslage und auf die Arbeitsfläche zwischen den Spießen. Ich glaube einzelne Silben zu verstehen, kann mir aber nicht zusammenreimen, was er wirklich will. Den Männern hinterm Tresen geht es offenbar nicht anders. Haydar schenkt trotzdem auch ihm ein beruhigendes Nicken und vertieft sich dann wieder in die unübersichtliche Sammelbestellung.
Punk Nr.2 überrascht mich:
„Für mich´n ganz normalen Döner.“ Mit Fleisch?? Ich glaube mich verhört zu haben – und auch der andere kratzt sich so skeptisch den Irokesen, als hätte sein Kumpel bekannt gegeben: Morgen beginne ich eine Ausbildung in der Bank.
Kenan füllt schon wieder einen Döner und wendet sich mit dem offenen Brot an die ganze Handwerkerschaft; niemandem ist klar, wen er dabei genau meint:
„Ohne Tomaten?“ Zur Antwort schüttelt einer den Kopf, während ein zweiter nickt.
In diesem Augenblick öffnet sich mit ohrenbetäubendem Klimbim die Eingangstür, und zwei weitere Menschen quetschen sich in den engen Laden: Junge, adrett gekleidete Männer mit feuchtnass gebändigten Frisuren, der eine im offenen Jacket, der andere mit Hemd und Pullunder. Solche Kunden trifft man an diesem Ort selten, vielleicht haben sie sich verirrt. Ob es sich vielleicht sogar um ausländische Touristen handelt, die nur nach dem Weg fragen wollen, bleibt vorerst offen, da keiner der DÖNER-Männer Zeit findet, sich um sie zu kümmern.
Der Asiate, der sich ein paar Momente beruhigt hatte, fängt jetzt wieder mit den Armen zu wedeln an. Will er Haydar eine Feng Shui-Beratung anbieten? Ihm aus der Hand lesen? Alles ist möglich. Vielleicht hat er einfach nur Hunger.
„Die Pizza ohne Peperoni“, fordert ein Bauarbeiter, obwohl Haydar gerade die Pizza für den Jungen belegt.
„Peperoni sind alle“, antwortet der Chef trotzdem, während er mit der Zange auf einen leeren Plastikbehälter in der Auslage weist.
„Na, denn is´ja gut“, zeigt sich der Bauarbeiter zufrieden und freut sich auf die Pizza, die gar nicht seine ist.
Gökhan bestreicht zwei Brote mit beiden verfügbaren Soßen: Weiß und rot. Der UPS-Mann sieht sich sofort genötigt, mißtrauisch zu fragen:
„Für wen sind die denn jetzt?“
Der Angesprochene blickt unsicher über den Tresen – das weiß er jetzt anscheinend selbst nicht mehr so genau. Sein Chef, an das Mädchen mit der Flüsterstimme gewandt, hilft ihm jedoch mit einem geschickten Ablenkmanöver geistesgegenwärtig aus der Verlegenheit:
„Für Dich extra scharf?“ - Die Angesprochene schüttelt statt einer Antwort heftig den Kopf und rollt mit den Augen, als hätte sie bereits einen Bissen des extra scharfen Döners im Hals stecken. Haydar beginnt allmählich zu bemerken, daß heute einiges aus dem Ruder läuft, seine Bewegungen werden für ein paar Augenblicke hektischer, seine Lippen bilden zusammengekniffen nur noch einen schmalen Strich unter dem Schnauzer.
„Zum hier Essen oder Mitnehmen?“ fragt Kenan die Bauarbeitergruppe.
„Zum hier Essen“, kommt die spontane Antwort.
„Nee, laß den Scheiß doch mitnehmen“, widerspricht ein zweiter. Es entsteht eine kurze Diskussion, dann ist einstimmig entschieden:
„Zum Mitnehmen.“ Einer von ihnen drängelt sich zum Kühlschrank und fischt eine Armvoll Bierdosen heraus, die er schwungvoll auf den Tresen knallt. „Die kommen dazu.“
Kenan zieht mehrere Streifen Alufolie von der Rolle und breitet sie auf der Arbeitsfläche hinter dem Tresen aus. Dabei läuft ihm eine Bahn roter Soße aus dem verpackungsfertigen Döner über die Hand den behaarten Unterarm herunter. Er bemerkt es zunächst nicht, erst als er die prall gefüllte Brottasche einrollt, wischt er sich die Soße mit einer flüchtigen Bewegung in die Schürze.
„Ob ich eine Bestellung aufgeben dürfte?“ fragt der einer der beiden geschniegelten Jünglinge so gestelzt, als würde er im 5-Sterne-Restaurant den Jahrgang des servierten Weines erfahren wollen. Dabei hält er sichtlich angeekelt deutlichen Abstand zu dem Bauarbeiter vor ihm und dessen vor Dreck starrender Montur. Ich überlege, ob ich lautstark protestieren soll; schließlich warte ich schon viel länger, entschließe mich aber dagegen. Ich habe keine Eile, und es liegt mir auch nicht, vor einer so großen Gruppe dermaßen auf mein Recht zu pochen.
„Kein Problem, Kollege! Was wollt Ihr haben?“ zeigt sich Gökhan trotz der Pizza in seiner Hand bereit für neue Wünsche. Daß sein Gegenüber pikiert zusammen zuckt, als er derart vertraulich gedutzt wird, bemerkt Gökhan nicht. Der Jüngling setzt gerade zu einer Antwort an, als ihm einer der Bauarbeiter unwirsch ins Wort fällt:
„Ich wollte Pute - habe ich doch extra gesacht!“ Dabei weist er mit einem dicken, schwarzen Zeigefinger auf den Spieß mit dem Putenfleisch. Kenan zuckt zunächst zusammen, doch dann gibt er sich souverän und zeigt auf den UPS-Mann:
„Ist für den.“
Der UPS-Mann schüttelt heftig den Kopf:
„Aber ich wollte keine Gurken!“
„Hast Du aber gesagt!“
„Hab´ich nicht!“
„Hast Du wohl; erst wollt´ste keine und dann doch“, mischt sich der fleischessende Punk in die Auseinandersetzung und erntet dafür von Kenan einen dankbaren und vom UPS-Mann einen feindlichen Blick.
„Ach, ist mir doch egal! Mach, wie Du willst“, winkt er schließlich mit unerwarteter Gleichgültigkeit ab und rammt beide Hände tief in die Hosentaschen, wo er sie wahrscheinlich heimlich zu Fäusten ballt.
„So...“ Haydar rollt seinerseits gerade den Döner für das Flüstermädchen in Alufolie, wobei er geschickt und mit der Übung von täglich fünfhundert Dönern eine Serviette faltet und in die silberne Umhüllung fügt. Abschließend zeichnet er mit einem großen Filzstift ein rotes Kreuz auf das Paket. „Kreuz ist für extra scharf, ja?“
Das Mädchen reißt die Augen auf und sieht irritiert zu ihrer Freundin. Haydar, mittlerweile wieder mit gewohnter Sicherheit, entblößt die blendend weißen Zähne zu einem Raubtiergrinsen und beruhigt sie augenzwinkernd:
„War nur Witz!“ - Das Mädchen verzieht gequält das Gesicht, was jedoch eher nach Zahnschmerzen, als nach Lächeln aussieht.
Während Gökhan mit dem zweiten Punk und einem Bauarbeiter in eine neue Diskussion über Tomaten oder nicht Tomaten, Fleisch oder nicht Fleisch gerät, entdeckt Haydar endlich auch mich und sieht mich fragend an:
„Einen Döner bitte“, gebe ich meine Bestellung ab, während der Junge vor mir ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tritt und sehnsüchtig auf den Börek starrt, der sich oben in der Mikrowelle dreht und noch zur letzten Vervollständigung seines Einkaufs fehlt. Der Asiate knurrt verstimmt und funkelt mich böse an, weil ich nun vor ihm bedient werden soll.
„Mit alles?“ will Haydar wissen. Ich überlege; mir liegt auf den Lippen, zu bemerken, daß ich zusätzlich zur roten Soße gerne noch etwas Chili-Pulver hätte, dafür keine Tomaten und nur ein paar Zwiebeln – und das Brot nicht so stark geröstet, aber nach kurzem Abwägen antworte ich:
„Ja, mit alles.“
Oktober 2006