Einsam im Winterwald
Die Toiletten sind in einem katastrophalen Zustand. Marion stapft durch die Überschwemmung auf dem Fußboden, wobei sie inständig hofft, dass es sich hier nur um Wasser handelt. Schlaffe Klopapierfetzen schwimmen wie einsame Inseln darin herum, der Abfluss des Waschbeckens ist ein schwarzer Abgrund. In ihrer Klokabine geht die Tür nicht zu und so stemmt sie aus ihrer ungraziösen Hocke heraus eine Hand an die Tür. Wenn jetzt jemand unerwartet die Tür aufreißt, wird sie wie ein Pferd in der Box dastehen, ihre dicke Skihose und ihre praktischen warmen Schlüpfer um die Knöchel gewickelt.
Jemand zerrt die Tür der Nachbarkabine auf und sagt: „Voll versifft, aber echt!“
Kleidung raschelt und eine andere Stimme antwortet: „Mann, ich bin total wundgescheuert. Erik ist wie das wilde Tier, der will die ganze Nacht lang!“
„Echt?“, fragt die Erste.
Die Stimmen klingen jung und Marion bemüht sich, peinlich berührt, schnell fertig zu werden.
„Wenn ich ihm sage, dass ich nicht mehr kann, meint er nur, dann soll ich ihm halt einen blasen“, fährt die Stimme ungerührt fort.
„Nee, echt?“, sagt wieder die Erste.
Marion zieht schnell die Klospülung und geht zu dem erbärmlichen Waschbecken. In dem halbblinden Spiegel sieht sie furchterregend und grau aus, ein Eindruck, der durch ihre violette Pudelmütze noch vertieft wird. Die Besitzerinnen der Stimmen kommen aus der Kabine heraus und sind nicht älter als fünfzehn, sofern Marion das schätzen kann. Sie blickt schnell weg, doch die beiden ignorieren sie völlig. Sie ist mindestens doppelt so alt und damit unsichtbar.
„Ich sehe sowas von Scheiße aus“, meint das eine Mädchen, als sie ihr unschuldiges Gesicht im Spiegel betrachtet. Dann schlurfen die zwei mit ihren dicken Stiefeln hinaus, Marion tappt ihnen unschlüssig hinterher. Ein athletischer junger Mann legt draußen den Arm um eins der Mädchen. Erik, der größte Stecher vor dem Herrn? Und wo, bitteschön, ist Stefan?
Auf dem Parkplatz um sie herum wimmelt es von skiwütigem Volk. Männer, die wie zur Everest Besteigung ausstaffiert sind, Frauen mit Ski Schlaghosen im Schlangenmuster. Junge Leute mit riesigen Sonnenbrillen und Snowboards. Zwergenhafte Kinder, die nur aus wasserdichten, aufgeplusterten Anzügen zu bestehen scheinen. Marion selbst trägt einen geborgten Skianzug, zwei Nummern zu groß - von Stefans Schwester, einer Art weiblichem Yeti. Marion hasst Schnee und alles was damit zusammenhängt und bereut jetzt bitterlich, dass sie Stefans Drängen nach einem Skiausflug mit seinen Freunden nachgegeben hat. Er kann Ski fahren, natürlich, er ist ja „auf Brettern groß geworden“, wie seine Mutter nicht versäumt hat, Marion immer wieder zu erzählen. Marion ist in Berlin aufgewachsen, für sie ist Winter nur eine Zeit des Schlafens, Fressens und Lichtmangels.
„Da bist du ja“, sagt auf einmal Stefan, der neben ihr aus dem Nichts aufgetaucht ist.
„Wo sind denn die anderen?“, fragt sie zurück.
„ Da hinten. Jetzt kann’s losgehen! Zehn Kilometer bis zum Wachinger Hof, dann wieder zurück. Herrlich!“ Stefan hat vor Aufregung rote Bäckchen und zum ersten Mal fällt ihr eine unangenehme Ähnlichkeit mit Pinocchio auf.
Er legt ihr den Arm um die Schulter. „Du wirst schon sehen, das macht totalen Spaß!“
Marion ist sich da nicht so sicher.
Eine halbe Stunde später müht sich Marion schwerfällig den Waldweg entlang. Seit Stefan sie in diese entsetzlichen Bleistiefel gezwungen und festgeschnallt hat, ist jegliche Beweglichkeit unterhalb ihrer Knie verloren gegangen. Wozu machen Leute so etwas? Was hat sie hier verloren? Durch die Bäume kann sie einen letzten Blick auf den Abhang werfen. Kühn und gewandt jagen die Skifahrer den Berg hinunter. Weiter hinten fliegen Snowboarder wie Torpedos in die Luft, um halsbrecherische Sprünge zu veranstalten. Das erscheint ihr jetzt wie das kleinere Übel, zumindest gibt es da viele Leute und sie müsste nicht nur mit Stefans nervigen Studienfreunden vorlieb nehmen.
„Geht’s noch?“, ruft diese eingebildete Liane nach hinten, wartet aber keine Antwort ab. Die hat Marion ganz besonders gefressen, in ihrem himmelblauen, todschicken Skianzug. Dafür, dass sie nur eine „alte Studienfreundin“ von Stefan ist, schäkert sie ganz schön mit ihm herum.
Überhaupt sind sie alle affig und überhaupt nicht so lustig, wie sie sich nach Stefans Erzählungen angehört haben. Schon im Auto ging das los, als Liane darauf bestand, diese gurgelnde Musik von Phillip Glass anzuhören. Anna und Bert, das Traumpaar aus Unizeiten, telefonierten ständig mit dem Babysitter und langweilten Marion tödlich mit ihren endlosen Berichten über Klein-Lillys ersten Zahn. Frank, der Klassenkasper riss einen abgeschmackten Witz nach dem anderen. Immer wieder wurden ihr völlig fremde Physikprofessoren zitiert. Großes Gelächter erschallte pausenlos, an dem Marion sich beteiligte, ohne zu wissen, warum. Ja, sie klopfte sogar den Takt aufs Knie, als sie alle plötzlich in Gesang ausbrachen: „Hört ihr die Regenwürmer husten“, das ehemalige Partylied. Ach, was hatten sie doch alle für einen Spaß an der Uni! Für das Taktklopfen schämt sie sich mittlerweile in Grund und Boden.
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Marion schiebt sich trotzig hinter der Gruppe her, wie ein Kind, das nicht mit den Erwachsenen Schritt halten kann. Stefan dreht sich nach ihr um.
‚Na, komm!“, ruft er. „Hier ist es doch noch ganz flach!“
„Ich bin halt nicht so schnell!“, entgegnet sie. Stefan widerspricht nicht, was sie ärgert.
„Schnelle Frauen laufen nur davon!“, witzelt Frank prompt. Marion verspürt den dringenden Wunsch, seine lustige Tirolerfresse mit Schnee zuzuschaufeln, mal sehen, ob er dann immer noch lacht. Sie muss schon wieder. Ist sie jetzt auch noch mit Inkontinenz geschlagen?
„Ich komm dann nach!“, meint sie kraftlos zu Stefan. Er steht unschlüssig herum, aber als Liane von vorn ein „Wow, das müsst ihr sehen!“ ertönen lässt, hastet er hinterher.
Marion wartet, bis sie außer Sichtweite sind. Lässt man beim Pinkeln in den Wald die Skier an, oder nicht? Sie hat keine Ahnung, aber sie weiß, dass sie diese monströsen Stiefel nie wieder alleine festschnallen kann, also bleiben sie an. Es ist auf einmal still um sie herum, malerisch fast, aber sie ist viel zu schlecht gelaunt, um sich an so etwas zu erfreuen. Sie hockt sich hin.
„Raahh!“ Ein schwarzer Vogel schießt plötzlich hinter ihr aus dem Baum und vor Schreck dreht sie ihren Kopf nach hinten und kippt um. Mit voller Wucht kracht ihr rechtes Knie auf eine spitze Wurzel, die sich heimtückisch unter dem Schnee verborgen hat.
„Verdammt!“, schreit sie voller Schmerz auf. Oh Gott, tut das weh! „Stefan!“, ruft sie jammernd.
Mit der rechten Hand rafft sie die Skihose hoch, Schnee rutscht ihr in den Rücken, die idiotischen Skier sind ihr bei jeder Bewegung im Wege.
Endlich steht sie wieder, Tränen der Wut laufen ihr über das Gesicht. Wo sind die anderen, wenn man sie braucht! Sie versucht ein paar Schritte, es tut höllisch weh, aber sie kann laufen. Nie im Leben wird sie es zu diesem Wachinger Hof schaffen. Marion schleppt sich zurück zum Weg, gerade noch kann sie die anderen sehen und ruft: “Stefan! Wartet!“ Liane und Stefan laufen nebeneinander, wie ein altes Ehepaar. Sie reagieren nicht. Sie können sie nicht hören. Sie singen ihr gottverdammtes Regenwurmlied.
Marion blickt ihnen regungslos hinterher. Stefan schaut nicht ein einziges Mal zurück!
„Arschloch!“, brüllt sie laut. Vielleicht hört er ja das.
Kurzentschlossen dreht sie sich um und hinkt in die entgegengesetzte Richtung zurück. Sie wird jetzt zum Parkplatz gehen und jemanden um Hilfe bitten.
An die kleine Weggabelung, vor der sie auf einmal steht, kann sie sich gar nicht erinnern. Kamen sie von rechts oder links? Rechts, so beschließt sie zögernd. Warum musste sie sich in so einen Skifritzen verlieben? Warum nicht in einen Angler, ein Schachgenie! Wahrscheinlich passt Stefan sowieso besser zu Liane, diesem arroganten Schneehuhn. „Und was machst du so beruflich?“, hatte Liane ihr entgegen gezwitschert. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte, abgesehen davon, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Marion jobbt seit Studienabschluss mal hier, mal da. Im Moment in einem Callcenter, wo sie Bestellungen für ein Reformhaus entgegennimmt. Dinkelkekse und Brennnesseltee. Nein, Liane sah es nur als Einleitung, um von ihrer eigenen beeindruckenden Karriere bei einem Pharmakonzern zu schwärmen.
Marion hinkt an einer Gruppe von Bäumen vorbei, die im Kreis stehen und aussehen, als hätten sie sich zu einer ausgelassenen Feier eingefunden. Ist es normal, dass Bäume so im Kreis stehen? Das „Blair Witch Project“ fällt ihr ein und schlagartig wird ihr kalt. Hier waren sie vorhin nicht, dass hätte sie sich gemerkt. Oder? Der Weg hört auf einmal auf. Weiter hinten kann sie einen anderen Weg sehen, ist es der richtige?
„Scheiße!“, sagt sie laut. Und dann gleich noch einmal: „Verdammte Scheiße!“ Sie wird hier im Wald erfrieren, im Frühling wird sie auftauen und von entsetzt kreischenden Spaziergängern gefunden werden. Halb verfault wird man sie nur noch an ihrem geschmacklosen Skianzug identifizieren können. „Ehemalige Callcenter Mitarbeiterin verwest einsam im Winterwald“, wird es in fetter schwarzer Schrift zu lesen sein.
Doch dann hört Marion Stimmen, eine laute Männerstimme, lachende Frauenstimmen. Suchen sie also doch nach ihr? Aber warum lachen sie dann so unbesorgt? Sie geht auf die Stimmen zu, sei’s drum.
Zu spät erkennt sie, wer da auf sie zukommt. Es ist Erik, die Sexmaschine, mit seinem Kumpel und den beiden Lolitas, die sie ohne ein Zeichen des Erkennens anschauen.
„Hallo“, sagt Marion, mit all der Energie, die sie noch aufbringt. „Könnt ihr mir sagen, wo der Parkplatz ist?“
Es stellt sich heraus, dass der Parkplatz nicht einmal wundersame fünf Minuten entfernt ist.
Erik nennt sie „schöne Frau“, während seine linke Hand über der Schulter seiner Freundin hängt und geistesabwesend ihre Brust streichelt. Wahrscheinlich flirtet er mit allem, was einen Puls hat, aber dennoch tut es Marion gut, so nette Worte zu hören. Als sie ihr anbieten, sie mit zurück in die Stadt zu nehmen sagt sie kurzerhand ja. Soll Stefan sie doch suchen, bis er schwarz wird. Die Skier stellt sie ihm ans Auto, zusammen mit den klobigen Stiefeln.
„Jetzt geht’s heim, ins warme Bett!“, sagte Erik auf der Heimfahrt immer wieder und blinzelt seiner Freundin im Rückspiegel zu. Sie sieht nicht unglücklich aus.
Vielleicht ist das ja die Lösung, denkt Marion schläfrig. Ein Mann wie Erik, mit dem Gehirn eines Goldfisches und den Hoden eines Zuchtbullen.
Sie guckt zum Fenster hinaus und sieht, dass an einigen Stellen am Stadtrand der Schnee schon taut. Bald wird Frühling. Es kommt ihr vor, wie ein Triumph.