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Einsamer Tod
Einsamer Tod
Als der Hausmeister die Tür aufbrach, war der alte Mann schon annährend vier Wochen tot.
Er sei sehr eigenartig und sonderbar gewesen, sagte seine Nachbarin aus dem 3. Stock, als Alfred und ich ankamen.
Habe sich kaum blicken lassen, höchstens mal zum Einkaufen, und habe immer irgendwie nach Knoblauch gerochen. Selten habe sie mit ihm gesprochen.
Nein, es sei ihr nicht komisch vorgekommen, ihn so lange nicht gesehen zu haben. Das sei nun wirklich nichts Außergewöhnliches in diesem Haus, meinte sie, und sie lebe ja nun schon etliche Jahre hier. Man komme, man gehe, man lebe hier, ohne dass es jemanden interessiere.
Nur der Geruch im Flur sei ihr doch etwas eigenartig vorgekommen und der Briefkasten, der mit Reklamesendungen übergequollen sei. Sie habe auch mehrfach geklingelt, geöffnet worden sei aber nie. Deshalb habe sie auch bei der Polizei angerufen.
Sonst könne sie nicht über den alten Herrn klagen, nein, um Gottes Willen nicht. Er sei immer leise gewesen, man habe weder den Fernseher gehört, noch seinen Wellensittich, den er wohl hatte. Er habe ihr im Flur mal von ihm erzählt.
Ja, ja, sie sei immer schon der Meinung gewesen, alte Leute gehörten ins Altenheim.
So um die 80 Jahre müsse er wohl gewesen sein. In diesem Alter seien sie dort richtig aufgehoben und man könne sich um sie kümmern.
Aber hier?
Ob er mal Besuch von Verwandten bekommen habe, wisse sie nicht. Und im Übrigen gehe sie das alles gar nichts an.
Ich hielt dem Polizisten im Flur meinen Presseausweis vor die Nase. Alfred, unser Fotoreporter, blieb mit seiner Kamera im Hintergrund.
„Wir sind von den „Domstädter Nachrichten“.
„Warten Sie hier“, sagte der Polizist und ging in die Wohnung.
Ich blickte Alfred an. Er machte ein Foto von der Tür aus.
„Keine Fotos“, brüllte jemand von drinnen, „wir haben hier schon genug Aufregung!“
Der Polizist kam zurück.
„Kommen Sie mit“, sagte er zu uns und ging vor.
Der Geruch, der aus der Wohnung kam, war streng, sehr streng.
Wir gingen weiter in das Halbdunkel des Flurs.
Natürlich hatte man mich wieder hierher geschickt.
Wahrscheinlich, weil ich erst relativ neu bei der Zeitung war.
„Stark verweste Leiche in der Mainallee 84, 3. Stock. Fahren Sie mal schnell hin, Steinke! Vielleicht ein Kapitalverbrechen. Das gibt bestimmt einen guten Artikel! Und nehmen Sie den Alfred mit!“, hatte mein Chef am Telefon gesagt.
Und das an meinem freien Tag!
Also rein in die Socken, Alfred angerufen und ab ging die Post.
Mal sehen, ob man daraus eine gute Geschichte machen konnte.
„Hier gibt es absolut nichts Interessantes für Sie“, meinte der Mann im grauen Anzug, nachdem er sich vorgestellt hatte.
Es war der Kommissar.
Ich kannte ihn nicht.
„Wohl was ganz Alltägliches, also kein Mord oder so. Der Tod im Lehnstuhl. Schnell und überraschend. Keine Gewalteinwirkung, falls Sie das gedacht haben sollten. Für uns gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Mehr Informationen bekommen Sie dann schriftlich.“
Ich blickte mich im Zimmer um.
Die Fenster waren weit geöffnet.
Der Wellensittich lag regungslos in seinem Käfig auf der Kommode.
Neben einer Aluminiumbahre standen teilnahmslos zwei Männer im weißen Kittel.
Wir gingen automatisch zur Seite, als sie die Bahre anhoben und langsam mit dem Toten nach draußen gingen.
So etwas komme immer wieder vor in der letzten Zeit, sagte der Kommissar.
Kein Grund zur Aufregung. Er selbst wünsche sich manchmal einen solchen Tod. Schnell, ohne Krankheit, überraschend. Nur die Einsamkeit vor dem Tod sei abschreckend. Aber bei der Hektik in der heutigen Zeit werde er wohl an Arbeitsüberlastung sterben.
Dort oben, und er zeigte etwa 45 Grad in die Höhe auf eines der kargen Betonhäuser, dort oben habe im letzten Jahr eine alte Frau sechs Wochen gelegen, ehe man sie gefunden habe.
Ja, ja, was die Architekten sich alles so einfallen lassen würden.
Ich blickte durch die geöffneten Fenster auf die grauen Mauern mit den bunten Balkonen. Eine Reihe rot, eine Reihe gelb, eine Reihe grün, immer versetzt, hier und da Balkonblumen.
Die „Hängenden Gärten“, so nannte man dieses Wohnviertel hier im Volksmund.
Ja, der Tote habe Angehörige gehabt, irgendwo im Sauerland. Einen Sohn und eine Tochter. Sie seien schon benachrichtigt.
„Sie sehen, hier gibt es keine große Story für Sie“, sagte er lächelnd zu mir.
Da war ich anderer Meinung.
Ich zündete mir eine Zigarette an und gab Alfed auch eine von meinen Selbstgedrehten. Der Kommissar hatte nichts einzuwenden.
Der Geruch in der Wohnung wurde erträglicher.
Ich blickte mich weiter im Zimmer um.
Ein Lehnstuhl, ein Fernsehapparat, ein Kopfhörer, ein geöffnetes Briefmarkenalbum, ein Aschenbecher mit Zigarrenkippen, ein Stoß alter Tageszeitungen, ein überfüllter Papierkorb, Wellensittichfutter.
Als Kind hatte ich auch einmal einen Wellensittich, der sogar sprechen konnte. Immer dasselbe zwar, aber immerhin.
Immer dasselbe, immer dasselbe.
„Wie lange hat der Mann denn hier gewohnt?“, fragte ich und blickte nach draußen auf das riesige Werbeplakat mit dem leicht bekleideten Mädchen, das für ein neues Waschmittel warb.
Weißer als weiß!
Und auf die besprayten Garagentore.
„Life is fun“ stand darauf in knalligen Farben.
Fotomotive für Alfred.
Er habe schon eine lange Zeit hier gewohnt, was äußerst ungewöhnlich sei, mindestens 10 Jahre, laut Auskunft des Hausmeisters. Damals habe seine Frau noch gelebt, die sei aber bald darauf gestorben.
Hier im Haus kenne sie natürlich keiner mehr.
Vom Regal aus lachte eine rundliche Frau in Schwarz-Weiß zu mir herüber.
Ob ich wisse, wie lange die Menschen im Durchschnitt hier wohnen blieben?
Nur kurze Zeit.
Die meisten Mieter hielten es hier nicht lange aus, habe ihm der Hausmeister erzählt.
Das sei schon verständlich, wenn man sich so umschaue, oder?
„Und jetzt kommen Sie mit, den Rest machen meine Kollegen“, sagte der Kommissar energisch zu uns und zog mich sanft am Arm aus der Wohnung.
Alfred und ich folgten ihm durch den Hausflur mit den kahlen, wischfest gestrichenen Wänden.
Als ich die Eingangstür neben den verbeulten Briefkästen öffnete, stieß der Kommissar mit einem Mann im braunen Trenchcoat zusammen.
„Wohin wollen Sie denn so schnell, junger Mann?“, fragte der Kommissar und stellte sich kurz vor.
Nervös entschuldigte sich der Mann, fummelte an seiner Krawatte herum und sagte, er sei der Geschäftsführer der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, die diese Häuser verwalte, und er habe soeben erst von dem bedauerlichen Zwischenfall hier gehört.
Er kenne diesen Herrn… Herrn …, ihm falle der Name jetzt in der Aufregung nicht ein, schon lange als einen wirklich zuverlässigen Mieter, der immer pünktlich seine Miete überwiesen habe.
Ja, ja, es sei bedauerlich, sehr bedauerlich.
Der Kommissar sah keine Veranlassung mehr zu bleiben.
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich im Präsidium an“, sagte er und verabschiedete sich.
Alfred fotografierte wieder.
„Sie sind wohl von der Presse?“, wandte der Mann von der Wohnungsbaugesellschaft sich an mich.
„Na ja, Sie sehen eben so aus, ha, ha. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, aber …“
Er zupfte mich am Ärmel und zog mich zur Seite, denn es standen immer noch ein paar Schaulustige herum, obwohl der Leichenwagen schon längst abgefahren war.
Ähnliche Todesfälle gäbe es überall, fuhr er fort, in jeder Stadt, davon könne man oft in der Zeitung lesen. Aber ich solle man keine „große Geschichte“ daraus machen, vor allen Dingen jetzt nicht, wo doch die Wohnungen hier draußen sowieso schon so schlecht zu vermieten seien in der heutigen Zeit. Letztes Jahr habe es hier schon einen ähnlichen Todesfall gegeben.
„Wenn die Leute dann noch dick und fett in der Zeitung lesen, dass … na, Sie verstehen schon, das wäre wirklich nicht im Sinne des Allgemeinwohls, oder?“
Ich drehte ihm wortlos den Rücken zu, winkte Alfred, der fleißig fotografierte, und sagte locker: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Herr …, Herr …, wie war doch gleich Ihr Name?“
Mittags schrieb ich meinen Artikel mit der Überschrift:
„Einsamer Tod in trostloser Vorstadt“.
Ich hatte meine Geschichte.
Schonungslos anklagend war sie, aufrüttelnd, schockierend.
Sie erschien nicht.
Man las am nächsten Morgen nur eine kleine, unscheinbare Meldung auf Seite 8 unten rechts:
„Achtzigjähriger Rentner tot aufgefunden.“
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