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Einsamer Tod

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24.02.2008
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Einsamer Tod

Einsamer Tod

Als der Hausmeister die Tür aufbrach, war der alte Mann schon annährend vier Wochen tot.

Er sei sehr eigenartig und sonderbar gewesen, sagte seine Nachbarin aus dem 3. Stock, als Alfred und ich ankamen.
Habe sich kaum blicken lassen, höchstens mal zum Einkaufen, und habe immer irgendwie nach Knoblauch gerochen. Selten habe sie mit ihm gesprochen.
Nein, es sei ihr nicht komisch vorgekommen, ihn so lange nicht gesehen zu haben. Das sei nun wirklich nichts Außergewöhnliches in diesem Haus, meinte sie, und sie lebe ja nun schon etliche Jahre hier. Man komme, man gehe, man lebe hier, ohne dass es jemanden interessiere.
Nur der Geruch im Flur sei ihr doch etwas eigenartig vorgekommen und der Briefkasten, der mit Reklamesendungen übergequollen sei. Sie habe auch mehrfach geklingelt, geöffnet worden sei aber nie. Deshalb habe sie auch bei der Polizei angerufen.
Sonst könne sie nicht über den alten Herrn klagen, nein, um Gottes Willen nicht. Er sei immer leise gewesen, man habe weder den Fernseher gehört, noch seinen Wellensittich, den er wohl hatte. Er habe ihr im Flur mal von ihm erzählt.
Ja, ja, sie sei immer schon der Meinung gewesen, alte Leute gehörten ins Altenheim.
So um die 80 Jahre müsse er wohl gewesen sein. In diesem Alter seien sie dort richtig aufgehoben und man könne sich um sie kümmern.
Aber hier?
Ob er mal Besuch von Verwandten bekommen habe, wisse sie nicht. Und im Übrigen gehe sie das alles gar nichts an.

Ich hielt dem Polizisten im Flur meinen Presseausweis vor die Nase. Alfred, unser Fotoreporter, blieb mit seiner Kamera im Hintergrund.
„Wir sind von den „Domstädter Nachrichten“.
„Warten Sie hier“, sagte der Polizist und ging in die Wohnung.
Ich blickte Alfred an. Er machte ein Foto von der Tür aus.
„Keine Fotos“, brüllte jemand von drinnen, „wir haben hier schon genug Aufregung!“
Der Polizist kam zurück.
„Kommen Sie mit“, sagte er zu uns und ging vor.
Der Geruch, der aus der Wohnung kam, war streng, sehr streng.
Wir gingen weiter in das Halbdunkel des Flurs.

Natürlich hatte man mich wieder hierher geschickt.
Wahrscheinlich, weil ich erst relativ neu bei der Zeitung war.
„Stark verweste Leiche in der Mainallee 84, 3. Stock. Fahren Sie mal schnell hin, Steinke! Vielleicht ein Kapitalverbrechen. Das gibt bestimmt einen guten Artikel! Und nehmen Sie den Alfred mit!“, hatte mein Chef am Telefon gesagt.
Und das an meinem freien Tag!
Also rein in die Socken, Alfred angerufen und ab ging die Post.
Mal sehen, ob man daraus eine gute Geschichte machen konnte.

„Hier gibt es absolut nichts Interessantes für Sie“, meinte der Mann im grauen Anzug, nachdem er sich vorgestellt hatte.
Es war der Kommissar.
Ich kannte ihn nicht.
„Wohl was ganz Alltägliches, also kein Mord oder so. Der Tod im Lehnstuhl. Schnell und überraschend. Keine Gewalteinwirkung, falls Sie das gedacht haben sollten. Für uns gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Mehr Informationen bekommen Sie dann schriftlich.“
Ich blickte mich im Zimmer um.
Die Fenster waren weit geöffnet.
Der Wellensittich lag regungslos in seinem Käfig auf der Kommode.
Neben einer Aluminiumbahre standen teilnahmslos zwei Männer im weißen Kittel.
Wir gingen automatisch zur Seite, als sie die Bahre anhoben und langsam mit dem Toten nach draußen gingen.

So etwas komme immer wieder vor in der letzten Zeit, sagte der Kommissar.
Kein Grund zur Aufregung. Er selbst wünsche sich manchmal einen solchen Tod. Schnell, ohne Krankheit, überraschend. Nur die Einsamkeit vor dem Tod sei abschreckend. Aber bei der Hektik in der heutigen Zeit werde er wohl an Arbeitsüberlastung sterben.
Dort oben, und er zeigte etwa 45 Grad in die Höhe auf eines der kargen Betonhäuser, dort oben habe im letzten Jahr eine alte Frau sechs Wochen gelegen, ehe man sie gefunden habe.
Ja, ja, was die Architekten sich alles so einfallen lassen würden.

Ich blickte durch die geöffneten Fenster auf die grauen Mauern mit den bunten Balkonen. Eine Reihe rot, eine Reihe gelb, eine Reihe grün, immer versetzt, hier und da Balkonblumen.
Die „Hängenden Gärten“, so nannte man dieses Wohnviertel hier im Volksmund.

Ja, der Tote habe Angehörige gehabt, irgendwo im Sauerland. Einen Sohn und eine Tochter. Sie seien schon benachrichtigt.

„Sie sehen, hier gibt es keine große Story für Sie“, sagte er lächelnd zu mir.
Da war ich anderer Meinung.
Ich zündete mir eine Zigarette an und gab Alfed auch eine von meinen Selbstgedrehten. Der Kommissar hatte nichts einzuwenden.
Der Geruch in der Wohnung wurde erträglicher.
Ich blickte mich weiter im Zimmer um.
Ein Lehnstuhl, ein Fernsehapparat, ein Kopfhörer, ein geöffnetes Briefmarkenalbum, ein Aschenbecher mit Zigarrenkippen, ein Stoß alter Tageszeitungen, ein überfüllter Papierkorb, Wellensittichfutter.
Als Kind hatte ich auch einmal einen Wellensittich, der sogar sprechen konnte. Immer dasselbe zwar, aber immerhin.
Immer dasselbe, immer dasselbe.

„Wie lange hat der Mann denn hier gewohnt?“, fragte ich und blickte nach draußen auf das riesige Werbeplakat mit dem leicht bekleideten Mädchen, das für ein neues Waschmittel warb.
Weißer als weiß!
Und auf die besprayten Garagentore.
„Life is fun“ stand darauf in knalligen Farben.
Fotomotive für Alfred.

Er habe schon eine lange Zeit hier gewohnt, was äußerst ungewöhnlich sei, mindestens 10 Jahre, laut Auskunft des Hausmeisters. Damals habe seine Frau noch gelebt, die sei aber bald darauf gestorben.
Hier im Haus kenne sie natürlich keiner mehr.
Vom Regal aus lachte eine rundliche Frau in Schwarz-Weiß zu mir herüber.

Ob ich wisse, wie lange die Menschen im Durchschnitt hier wohnen blieben?
Nur kurze Zeit.
Die meisten Mieter hielten es hier nicht lange aus, habe ihm der Hausmeister erzählt.
Das sei schon verständlich, wenn man sich so umschaue, oder?

„Und jetzt kommen Sie mit, den Rest machen meine Kollegen“, sagte der Kommissar energisch zu uns und zog mich sanft am Arm aus der Wohnung.
Alfred und ich folgten ihm durch den Hausflur mit den kahlen, wischfest gestrichenen Wänden.

Als ich die Eingangstür neben den verbeulten Briefkästen öffnete, stieß der Kommissar mit einem Mann im braunen Trenchcoat zusammen.
„Wohin wollen Sie denn so schnell, junger Mann?“, fragte der Kommissar und stellte sich kurz vor.
Nervös entschuldigte sich der Mann, fummelte an seiner Krawatte herum und sagte, er sei der Geschäftsführer der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, die diese Häuser verwalte, und er habe soeben erst von dem bedauerlichen Zwischenfall hier gehört.
Er kenne diesen Herrn… Herrn …, ihm falle der Name jetzt in der Aufregung nicht ein, schon lange als einen wirklich zuverlässigen Mieter, der immer pünktlich seine Miete überwiesen habe.
Ja, ja, es sei bedauerlich, sehr bedauerlich.

Der Kommissar sah keine Veranlassung mehr zu bleiben.
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich im Präsidium an“, sagte er und verabschiedete sich.
Alfred fotografierte wieder.
„Sie sind wohl von der Presse?“, wandte der Mann von der Wohnungsbaugesellschaft sich an mich.
„Na ja, Sie sehen eben so aus, ha, ha. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, aber …“
Er zupfte mich am Ärmel und zog mich zur Seite, denn es standen immer noch ein paar Schaulustige herum, obwohl der Leichenwagen schon längst abgefahren war.
Ähnliche Todesfälle gäbe es überall, fuhr er fort, in jeder Stadt, davon könne man oft in der Zeitung lesen. Aber ich solle man keine „große Geschichte“ daraus machen, vor allen Dingen jetzt nicht, wo doch die Wohnungen hier draußen sowieso schon so schlecht zu vermieten seien in der heutigen Zeit. Letztes Jahr habe es hier schon einen ähnlichen Todesfall gegeben.

„Wenn die Leute dann noch dick und fett in der Zeitung lesen, dass … na, Sie verstehen schon, das wäre wirklich nicht im Sinne des Allgemeinwohls, oder?“
Ich drehte ihm wortlos den Rücken zu, winkte Alfred, der fleißig fotografierte, und sagte locker: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Herr …, Herr …, wie war doch gleich Ihr Name?“

Mittags schrieb ich meinen Artikel mit der Überschrift:
„Einsamer Tod in trostloser Vorstadt“.
Ich hatte meine Geschichte.
Schonungslos anklagend war sie, aufrüttelnd, schockierend.

Sie erschien nicht.
Man las am nächsten Morgen nur eine kleine, unscheinbare Meldung auf Seite 8 unten rechts:
„Achtzigjähriger Rentner tot aufgefunden.“


.

 

Ein starkes Stück!

Hallo Xeranda,
ich habe gerade Deine Geschichte gelesen, die mich sehr überzeugte. Es ist überflüssig, irgend etwas in Zitaten hervorzuheben und Kritik zu üben. Sie ist perfekt erzählt. Der gesellschaftskritische Ansatz ist dramaturgisch überzeugend dargeboten. Hervorzuheben sind die klassischen Muster: Moderner Wohnungsbau, Vereinsamung im Alter, Machtlosigkeit des Zeitungsreporters bei der Verwirklichung seiner beruflichen Absichten. Es wäre dem Erzähler zu gönnen gewesen, einen aufrüttelnden Report, von dem er selbst zuftiefst überzeugt ist, auch ganz nach seinem Willen veröffentlicht zu wissen. Neid und Mißgunst machen uns allen zu schaffen und die setzen nicht nur Grenzen sondern machen manchmal jede Bemühung aussichtslos. Nun, für Dich ließen sich Alternativen finden, so daß ich Dich beglückwünschen will; du wirst gelesen und vor allem, es wird verstanden, was du mitzuteilen hattest.

Deine Geschichte wird heute noch nicht die Welt verändern können. Manchem aber die Augen öffnen. Und so verstehe ich sie auch als Warnung, aus der man lernen kann und für sich vielleicht rechtzeitig Vorkehrungen treffen kann. Auch deshalb ein "herzliches Danke Schön!", für eine Geschichte die nicht schön ist, aber überzeugend dargeboten.

joasch

 

Hallo Joasch,
vielen Dank für deinen Beitrag. Ich freue mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Alles, was du geschrieben hast, entpricht auch meiner Intension bei der Geschichte. Die gesellschaftskritischen Elemente sollten genauso rüberkommen.

Liebe Grüße
xeranda

 

Hi Xeranda,

mir gefällt die Geschichte auch, obwohl ich die Häufung der indirekten Rede sehr gewöhungsbedürftig finde. Aber das ist ja Geschmacksache und ich kann schon nachvollziehen, warum du es machst. Durch die Distanz, die so aufgebaut wird, erscheint mir als Leser der Rentner sogar näher.
Ob die Zeitform dabei immer stimmt, weiß ich nicht genau, manchmal hatte ich den Eindruck, du hättest dich vertan, insbesondere bei dem Gespräch mit dem Vertreter der Wohnungsbaugesellschaft (der blöde Name reißt übrigens völlig aus der Atmosphäre, da er für die Ernsthaftigkeit der Geschichte viel zu albern wirkt.)
Einige Details:

Als der Hausmeister die Tür aufbrach, war der alte Mann schon annährend vier Wochen tot, so stellte sich später heraus.
Warum ist es wichtig, dass es sich erst später herausstellte?
Und im Übrigen gehe sie das alles hier gar nichts an.
"hier" würde ich streichen.
„Warten Sie hier“, sagte der Polizist und ging dann in die Wohnung
"dann" ist nur ein Füllsel, auf das du verzichten kannst.
„Kommen Sie mit“, sagte er zu uns und ging vor.
er ging voraus
Der Geruch, der aus der Wohnung kam, war streng, sehr streng
"streng" finde ich ein bisschen nichtssagend. Wenn ich den Leichengeruch, eventuell verfaulte Lebensmittel, bei einem 80 jährigen vielleicht schlechte Belüftung und auch einen gewissen Altersgeruch nehme, habe ich zwar sicher auch einen strengen Geruch, aber irgendwie auch mehr.
Wir gingen weiter in das Halbdunkel des Flurs.
Wenn die Polizei da ist, wird sie den Flur erleuchtet haben.
Natürlich hatte man mich wieder hierher bestellt.
"geschickt", nicht "bestellt", dann hätten die Nachbarn oder die Polizei ihn dorthin beordert.
Woher wusste mein Chef bloß so schnell von solchen Ereignissen?
dafür gibt es Funkscanner ;)
Ich zündete mir eine Zigarette an und gab Alfed auch eine von meinen Selbstgedrehten. Der Kommissar hatte nichts einzuwenden.
Der Geruch in der Wohnung wurde erträglicher.
Ich blickte mich weiter im Zimmer um.
Viermal hintereinander die gleiche klassische SPO Satzstruktur (zu der du allgemein sehr neigst). Etwas Variation wäre da schon gut.
Vom Regal aus lachte mir eine rundliche Frau in Schwarz-Weiß herüber
"mir" streichen oder als "zu mir" anders platzieren (vor herüber)
Die meisten Mieter hielten es hier nicht lange aus, habe ihm der Hausmeister erzählt.
Hier bist du irgendwie mit der indirekten Rede durcheinander gekommen. Wenn ich es richtig verstehe, gibt der Polizist weiter, was der Hausmeister ihm erzählt hat. Dann dürfte es mE "hätte ihm der Hausmeister ..." heißen, um die unterschiedlichen Quellen der indirekten Rede zu verdeutlichen. Außerdem steht die Geschichte in der Vergangenheit, das würde mE den Konjunktiv 2 fordern, während der Polizist im Singular den Konjunktiv 1 verwendet. Aber Konjunktivspezialist ist Friedrichhard, der weiß das bestimmt sicherer.
wie war doch gleich ihr Name
Ihr (Anrede)
mit der Überschrift
Kapiert man bestimmt auch, ohne dass du es schreibst.
Schonungslos anklagend war sie, aufrüttelnd, schockierend.
Wie der Artikel wohl ist, kann man ja über die ganze Geschichte wahrnehmen. Insofern würde ich das weglassen. Wenn der Artikel dann nicht erscheint, wirkt die Ignoranz stärker.

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim,

vielen Dank für deine Anmerkungen zu meiner Geschichte. Die meisten Vorchläge habe ich bereits korrigiert. Mit dem Konjunktiv I und II werde ich mich noch einmal etwas näher auseinandersetzen, bevor ich Veränderungen vornehme.

Liebe Grüße
xeranda

 

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