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Einzig ich

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29.06.2005
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Einzig ich

I.
Manchmal wäre ich gerne ein Bauer mit schwieligen, je und
je auch blutigen Händen, im Besitz eines ganz kleinen, doch
aber ausreichend ernährenden Gehöftes. Oder lieber noch der

stumme, fleißige Knecht eines solchen Bauern. Man müsste
mir bloß Unterkunft, Nahrung, ein wenig Mußezeit und ein
kleines Taschengeld für Bücher, Schreibutensilien, Tabak und
etwas Wein gewähren. Aber vielleicht würden die ersten zwei
Dinge, Buch und Schreibzeug, ja bereits nach einigen Wochen
frischluftiger und appetitanregender Arbeit wegfallen; denn
vielleicht ist mein Interesse an aktiver und passiver Literatur ja
bloß ein Auswuchs meiner derzeitigen Seelenverkrüppelung,
die auf besagtem Bauernhofe gewiss heilen würde, das heißt:
vielleicht...
Da, an diesem fragenden „vielleicht“ sieht man wieder, wie
wir unserem Selbst experimentell und aufs Geratewohl - wie
tiefmittelalterliche Alchimisten - Proben vorlegen müssen, um
zu erfahren, was es eigentlich will. Begehrst du diese Frau, die
dir die göttlichste unter Sonne und Mond zu sein scheint? Da
hast du sie, greif zu! Was, das war es nicht, das deine
Sehnsüchte befriedigen kann? Noch immer quälst du mich?
Möchtest du jenes dort oder dieses hier? Ein A oder ein B? So?
Also ein C? Hier, nimm das C! Auch das ist es nicht? Und
niemals, niemals ist es das richtige; immer quält und sehnt
unser Selbst fort und fort.
Nun, die alte Frau dort auf der Strasse, auf die ich
melancholisch-müde hinabblicke, weiß davon gewiss
nichts. Ihr Selbst, sofern man bei ihr davon sprechen darf,
kennt wahrscheinlich bloß ein A, und da fällt die Wahl,
kann man sagen, nicht allzu schwer. Ob sie glücklich ist? Da
trägt sie ihre uniforme, graue Dauerwelle durch diesen
winzig-winzigen Bruchteil unserer Weltgeschichte, einen Korb
in der Hand und kauft (so wie jeden Morgen, denn ich
beobachte sie bereits seit Wochen) eine Handvoll Brötchen für
sich und ihren Mann. Dann reinigt sie jenen winzig-winzigen,
quadratisch gestalteten Bruchteil irdischen Raumes, den sie ihr
eigen, ihre Wohnung nennt zwei bis drei Stunden lang, hängt
die Gardinen auf und ab, schaltet den Waschautomaten an und
aus, und gegen die elfte Stunde dieses Tages kauft sie die
Ingredienzien ihrer Mittagsmahlzeit ein. Gespräche hier,
Gespräche dort, mit diesem und mit jenem. Nach dem Kochen
und anschließenden Verzehr des Gekochten wird auf dem
bequemen Sofa der einstündige Mittagsschlaf vollzogen.
Danach entsteht bis zum Abend eine kleine, bedrohliche
Lücke, die jedoch eifrig gefüllt wird entweder mit Gesprächen
oder mit Putzen - und dann ist es ja auch schon Zeit schlafen
zu gehen! Die alte Frau klopft sich auf die Schultern: das wäre
wieder einmal gelungen! Und so wie dieser Tag
herumgebracht worden ist, wird einst auch das Leben
herumgebracht worden sein.
Wie ich sie hasse, die automatischen Menschen!
Früher hielt ich meine Misanthropie gerne für den Ausdruck
genialer Anlagen in mir, und wenn ich hasserfüllt in mich
hineinrief: „Ihr Menschen!“, dann adelte mich das. Jetzt aber
weiß ich, dass mein Menschenhass mich selbst mit einschließt:
denn worin unterscheide ich mich denn von dieser Alten? Ich
kenne Schopenhauer und Nietzsche, liebe Hesse, Mann, Kafka
und Hamsun, studierte Freud und Jung; ich dichte mehr oder
weniger eifrig, mehr oder weniger begabt; alles in allem bin
ich durch meine Einsamkeit ein ungewöhnlicher, man könnte
auch sagen origineller Mensch geworden; und? Ist nicht auch
mein innerstes und primäres Anliegen der möglichst heimliche
Mord an der Zeit? Wie ich mich hasse, den Menschen!
-
Jetzt werde ich einen kleinen Spaziergang durch die Wälder
meiner bergischen Heimat unternehmen müssen; sonst ersticke
ich an mir und meinen Gedanken.

II.
Der Spaziergang war angenehm, aber das hält ja
üblicherweise nie lange vor. Sieh, da sitze ich schon wieder
vor dem hässlich weißen Papier; hässlich, weil seine weiße
Leere mich quält und verhöhnt und sagt: „Das, diese weiße
Leere, bist du selbst mein Freund! Und solange du mich weiß
belässt, bleibst auch du weiß und leer, giltst auch du nichts, gar
nichts vor dir und vor der Welt erst recht nicht; solange ich ein
unbeschriebenes Blatt bleibe, bleibst auch du ein
unbeschriebenes Blatt!“ So ritze ich also ängstlich Buchstabe
um Buchstabe in das weiße Nichts, nur um nicht nichts zu tun,
und bin zaghaft glücklich, wenn eine Seite nicht mehr leer,
sondern mit ungewissen Gedanken angefüllt ist. Doch dann
wende ich das Blatt, starre erneut in die Leere und das Elend
beginnt von vorne. Wie wissend war der Grieche, der den
Sisyphos erfand. Manchmal denke ich, dass es doch klüger
und bequemer sei, die Tinte einfach über jedes Blatt zu
vergießen und sich dann, nachdem man etwa zweihundert
Blätter blau gefärbt hat, zu sagen: „Sieh nur! Da hast du aus
dem Handgelenk, innerhalb weniger Minuten, einen
zweihundertseitigen Roman geschaffen! Man muss nur lernen,
ihn zu verstehen! Einmal, eines Tages, wird das jemand
können...“ Aber man ist ja leider mit der Vernunft ausgestattet,
und die verleidet einem den ganzen Stolz.
Das ist die Vernunft! Klug und pedantisch, ähnlich einem
glatt gescheitelten Beamten, deckt sie jeden Missstand, jede
Peinlichkeit und jeden Makel auf, um sich dann, nachdem sie
die Dinge entblößt hat, galant zurückzuziehen und einen
leidend alleine zu lassen. Und ich habe leider eine recht
durchtriebene Vernunft, wahrlich! Die lässt an keinem Baum
ein Blatt, in keinem Apfel einen Kern und an keinem Leben
einen Sinn! Manchmal ist sie auch freundlich geneigt und
wendet sich gönnerhaft an mich: „Sieh einmal, du
Verzweifelter: Betrachte doch einfach mich als den Sinn!
Denk doch einfach, dass das Entblößen und Nacktmachen der
hübsch verkleideten Weltendinge sinnvoll ist!“
In den letzten Tagen frage ich mich im Übrigen immer
nachdenklicher, warum jener griechische Dichter den Sisyphos
sich nicht einfach hat weigern, breitbeinig und stolz vor die
Götter treten lassen, dass er ihnen höhnisch und trotzig in das
Gesicht spucke, um sich anschließend in den Hades zu
stürzen – der Dichter hintendrein. Auch ich könnte mich ja,
eigentlich und grundsätzlich gedacht, weigern und aufhören,
mich dem Schreiben hinzugeben, so hilflos und ergeben, wie
es ansonsten nur ein hart Bestrafter mit einer schweren
Strafarbeit, oder eben jener Sisyphos mit seinem Stein tut.
Aber ich könnte das eben nur prinzipiell gedacht tun. Fern
einem solchen erlösenden Prinzip also bleibe ich vor dem
Papier sitzen und rolle den Stein den Berg hinauf, wissend,
dass er gleich, am Ende der Seite, wieder herabrollen wird.
Vom Papier pflegt der vulgäre Volksmund zu behaupten, dass
es geduldig sei; das kann auch nur aus dem Volksmund
stammen, denn das Volk hat noch nie vor einem anderen
Papier als dem anzukreuzenden Behördenpapier gesessen.
Papier ist nicht geduldig, keineswegs! Es ist sogar überaus
unbarmherzig, geradezu tödlich ungeduldig! Denn wenn es
nicht beschrieben wird, dieses Papier von dem ich hier rede,
über dem der Dichter sitzt, wenn ein Satz zu lange auf sich
warten lässt, dann greifen aus dem glatten, rechteckigen Weiß
grobschlächtige Hände und würgen den Schreiber, vielmehr
den Nicht-Schreiber, und erwürgen ihn bisweilen sogar. Nein,
Papier ist nicht geduldig. Noch so ein Spruch, der mir da
einfällt, ist jener vom silbernen Reden und goldenen
Schweigen - auch das ist eine diametrale Auslegung der
Wirklichkeit. Wenn Schweigen tatsächlich golden wäre, würde
ich mich ihm sogleich hingeben, kein Wort mehr würde aus
meinem Stift fließen. Gewiss habe ich das auch schon
versucht, wie ich ja schon vieles versucht habe. Aber wenn ich
dann schweige, greifen jene bereits erwähnten Hände
erbarmungslos nach mir... das Sprichwort sollte lauten: Reden
ist rostig aussehendes Silber und Gold ist nichts.
-
Es ist wieder soweit, ich spüre ein nervöses Zucken in den
Augenlidern. Ich muss spazieren gehen. Als ob ich nicht
wüsste, das mich die zupackenden und festhaltenden, die
würgenden und schlagenden Hände des Papiers überall, auch
im dichtesten Wald erreichen.

III.
Immer wieder muss man erkennen, einsehen und zugeben,
klein beigeben, den Wahn begreifen und das Licht des
Wissens oder zumindest des sehr innigen Ahnens ertragen.
Warum bin ich eigentlich so ein augenscheinlich
unglücklicher und zweifelbehafteter Mensch? Was ist an mir
eigentlich besonders und anders als an den vielen nicht
unglücklichen Menschen im Strom, der täglich an meinem
Fenster so lebhaft vorüberrauscht? Und warum lassen die zwei
Kinder dort jenes dritte, hinzukommende nicht an ihrem Spiel
teilnehmen, so dass jenes dritte weinend fortläuft? So viele
Fragen, die dialektisch betrachtet doch keine Fragen sind, denn
ich definiere eine Frage als ein solches Ding, dem zumindest
theoretisch ein antwortendes anderes Ding zugeordnet ist.
Doch was geht mich Dialektik an. Ich bin ein Mensch, ein
Gefühl und eine Ahnung, und trotz allem bislang Gesagten
eben kein Denker.
Man muss sich betäuben; ich betäube mich gerne mit Musik,
entweder indem ich sie höre, oder indem ich sie selbst
bewirke. Heute, einem sehr trägen und faulen Heute, begnüge
ich mich mit der passiven Musik, ich höre mir einige
Klavierstücke an, das übliche Programm, das sich bewährt hat:
Beethovens „Mondscheinsonate“, Schuberts „Leise flehen
meine Lieder“ und zum krönenden Abschluss, besonders
lautstark: Wagners „Tristan und Isolde“, Vorspiel des dritten
Aktes... einige Minuten süßer Rausch... einige Minuten war
wieder alles richtig, alles macht Sinn... und dann die Leere,
kaum das die Musik verklungen ist. Warum ist Leben nicht
ewige Musik? Schopenhauer sagt übrigens, dass Musik
transformiertes Leben sei. Ja, es klingt durchaus klug,
dergleichen zu behaupten, und ist auch nachvollziehbar - aber
was ist schon Klugheit und kluges Behaupten und
Nachvollziehen. Kein Fragezeichen setze ich hinter die letzte
Frage, sondern einen beruhigenden Punkt. Ein Fragezeichen
schreit immer „Antwort!“ und ich kenne längst keine Antwort
mehr .

IV.
Kurzum, knapper und deutlicher gesprochen, man wird es
ohnehin schon längst gemerkt haben: ich lebe am Abgrund.
Das Leben, das man, wer oder was immer das auch gewesen
sein mag, mir zur Verwaltung und Leitung anvertraut hat, läuft
mir von Stunde zu Stunde, von Jahr zu Jahr, immer mehr aus
dem Ruder. Mein Leben gleicht dem Leben, das ein
Selbstmörder in den letzten Tagen oder Jahren vor seinem
Selbstmord führt. Der Begriff des Selbstmordes sei hier weiter,
zugleich wörtlicher und enger gefasst, als das gebräuchlich der
Fall ist. „Mord am Selbst“, darum nämlich geht es, und auf
sehr verschiedenen Wegen kann er geschehen. Der einfachste
und gründlichste, leider aber auch den mächtigen Urtrieb am
meisten abschreckende Weg ist die schlichte Entleibung. Von
einem selbstgebastelten Galgen in den Ästen einer alten,
verkrüppelten Eiche würde der Romantiker träumen, um dann
höchstens davon zu schreiben, vom Gift hörte man den
wissenschaftlich Interessierten sprechen, um sich ähnlich dem
Romantiker in der Theorie zu verlieren, oder es am Nachbarn
auszuprobieren, und vom Erschießen würde der Tatkräftige
vor der entscheidenden Fingerkrümmung kurz und kernig, auf
das Nötige reduziert, reden; das ist ja auch das, was man
gemeinhin unter Selbstmord begreift. Etwas ungründlicher,
auch ein wenig schmachvoller und unehrenhafter ist der zweite
Weg zum Selbstmord, nämlich das Zerstreuen des Selbstes in
der Menge anderer Selbstloser, also die Schüttung von
Individuum und Selbst in das undifferenzierte Menschenmeer.
Ein drittes Mittel zur Selbstermordung, das heiligste und
tugendhafteste wohl, sei hier nur am Rande genannt, da es mir
und meinem jämmerlichen Zustande so ganz fern steht: die
asketische Resignation, das Verwelken-Lassen des
leidmachenden Iches. Welchen Weg des Selbstmordes aber
werde ich gehen? Oder anders formuliert, da ich mir Müdem
und Unentschlossenem Kraft und Fähigkeit zu wählen
absprechen muss: welcher Selbstmord wird mir widerfahren?
Nachdem ich vor einigen Stunden diesen letzten Abschnitt
beendet hatte, war mir ganz schrecklich kalt geworden, so dass
ich, um nicht zu erfrieren, eines Mädchens gedachte. Das gibt
mir für Augenblicke immer ein wenig Wärme, auch das
Gefühl, dass ich doch noch ein klein wenig lebendig bin; es
waren die letzten Stunden von jener unmenschlichen,
unerträglichen Sorte, die einen nicht nur die Einsamkeit unter
den Menschen bewusst werden lassen, sondern auch das
Verlassensein selbst vom allerletzten Freund - von der Seele
der Natur; ein Baum flüstert dann nicht mehr trostspendend,
ein See rausch nicht mehr verzaubert, sondern allein noch
akustisch. Als es also auf diese Weise allzu unerträglich mit
meiner Seele geworden war, riss ich gewaltsam jenes Mädchen
vor das innere Auge und dachte mir: dich will ich heute
anschreiben! Ihr Name ist Sophie Sie ist trotz ihrer
Flachbrüstigkeit eine sonderbare Mischung von geistigen und
sinnlichen Reizen und Begabungen (übrigens mag ich die
Flachbrüstigen, sie machen mir etwas weniger Angst). Aber es
kann auch sein, dass ich mir diese verlockende Zwittrigkeit in
meiner Hilflosigkeit bloß einbilde, schließlich kenne ich
Sophie nur dem flüchtigen Ansehen nach und habe noch kein
Wort mit ihr gewechselt. Abgeschickt habe ich den Brief im
Übrigen nicht.

V.
Was ist das nur für ein verwelktes Leben das ich führe!
Offiziell bin ich ein Student, inoffiziell aber bin ich nichts
weiter als ein Land- und Stadtstreicher: ich fahre mit der
U-Bahn durch das Land, dorthin und wieder zurück, wandere
Berge hinauf und hinab und zehre von Brot, das nicht ich,
sondern meine Eltern verdient haben.
Eine Bank ausplündern und dann in den Süden fliehen. Wie
verlockend ist dieser Gedanke! Es muss ja etwas geschehen, so
geht es nicht länger, kann es nicht länger gehen! Morgen,
übermorgen, nie?

VI.
Das war am frühen Morgen, gegen fünf Uhr, dass ich
fröstelnd aus unruhigem Schlaf erwache und mich in einem
einzigen, konzentrierten Augenblick allem jemals
ausgedachten oder wirklichen, ferne gehörten oder ganz nahe
gesehenen und gespürten Elend der Welt und des Lebens, des
eigenen und des allgemeinen gegenübergestellt finde – ja, da
liege ich also in meinem Bett und wundere mich zunächst ganz
einfältig wie ein Bauer, dem von jetzt auf gleich der ganze Hof
zu Asche zerfällt und dem die vielköpfige, geliebte Familie als
ein schwarz dampfender See von kochendem Talg im
Ackerboden versickert. Ich kann all das ja gar nicht begreifen,
mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich erst einmal wie
ein glotzäugiger Bauer zu wundern! Dann aber ergießt sich
dieser plötzliche, eiskalte, wintersonnenhell blendende,
schlicht gesprochen unbegreifliche Strahl, diese Essenz von
tausend ängstlichen, lebensuntauglichen Gefühlen in meinen
Körper und versammelt sich in der Enge eines einzigen
Organes, nicht im Hirn, dem man es gönnen könnte, sondern
im unschuldigen Magen, diesem fleißigen und bescheidenen
Knecht. Ich richte mich unter Krämpfen auf und speie mit
vulkanartiger Macht die Reste des gestern Verzehrten auf die
Bettdecke. Eruption folgt auf Eruption, wird substanzloser,
nicht aber schwächer, und ist zuletzt nur noch ein suchendes
Würgen... ich glaube zu sterben, bleibe aber am leben und
sinke nur wie ein Lebloser zurück in mein Kissen. Mein
Magen ist also leer, das was ihn sich leeren ließ, dieses
Konzentrat, ist allerdings noch da und fährt nun zu wirken fort;
breitet sich sacht und portionsweise in meinem erschöpften
Körper aus, kriecht durch die Adern, lässt die Zehen
verkrampfen, steigt mir zu Kopfe und formiert sich dort zu
einzelnen Bildern und Ängsten, das Unbegreifliche wandelt
sich zu unvollkommenen, in ihren Andeutungen aber sehr
klaren und einleuchtenden Begriffen, das Verschwommene
klärt sich in deutliche Bilder auf, die zunächst meinem
persönlichen Dasein und Erleben fern stehen, anschaulich von
den brutalen Kriegen der Weltgeschichte erzählen und
zerplatzte, überfahrene Hunde-, Katzen- und Igelleiber zeigen,
allmählich meiner Person näher rücken und schließlich
ungefähr dieses Bild malen: ich stehe nackt und halb erfroren
in Sturm und Regen, sehe mich umringt und bedroht von
ungezählten Menschenmassen, grobe Fäuste strecken sich mir
entgegen, kopfspaltende Äxte und kopfbrechende Knüppel
werden geschwungen, Steine und Beleidigungen und Flüche
fliegen, ich Nackter ducke mich, krümme mich zu einem
embryoartigen Knäuel zusammen und werde qualvoll erdrückt
von den auf mich stürmenden Horden... Sie berühren mich ja
nicht wirklich, nicht leibhaftig! Würden sie es doch tun! Es
wäre ja so sehr viel erträglicher, wenn ich es spürbar mit
Fäusten und Knüppeln zu tun hätte, wenn sich die Masse mit
ihren tausend Leibern auf mich stürzen und ich ihr
erdrückendes Gewicht deutlich spüren würde! Wenn ich ganz
deutlich das Bersten meines Brustkorbes, das Knacken meiner
Rippen und das Brechen der Glieder spüren könnte! Um wie
viel wäre mir ein solcher handfester Tod lieber, als ewig
diesen scheinbaren Tod, ewig dieses eingebildete Sterben,
diese immer und immer wieder ausgestandene Angst leiden zu
müssen! So also liege ich panisch in meinem Bett, wie ein
zitternder Embryo außerhalb des bergenden Mutterleibes, der
sich instinktiv in eine notdürftige Bettdecke gewunden hat.
Der Morgen graut, und ich denke: hoffentlich findet man mich
bald, hoffentlich wird ein einsichtiger Arzt mein Bewusstsein
mit starken Mitteln dämpfen... Das wird niemand
begreifen, der es nicht selbst einmal erlebt hat. Außenstehende
werden sagen, dass man sich nicht so gehen lassen sollte,
man wird sagen, dass ich mich da in etwas hineingesteigert
hätte. Dass ich einfach aufstehen, mein Gesicht mit kaltem
Wasser abwaschen und mich dem Tag und dem Leben
stellen sollte.
Der Anfall, den ich einen Seeleninfarkt nennen will, liegt
einige Stunden hinter mir; jetzt, da ich einen so tiefen Blick in
das Nebelheim eines Psychotikers getan habe, kann ich mir
nichts schlimmeres, nichts ohnmächtigeres mehr denken, als
eine dauernde Psychose. Und ich begreife jetzt allmählich,
dass ich etwas tun muss, dass ich handeln, endlich irgendwie
handeln, mich dem Schicksal entgegenstellen und mich
irgendwo festklammern muss, wenn ich nicht endgültig
abstürzen will. Wie gerne würde ich mich in diesen Dingen
einem Freund oder einer Freundin offenbaren! Doch alle
Freunde habe ich längst vergrault und verjagt. Wann sprach
ich das letzte Mal ernsthaft zu einem Menschen? Vor drei, vor
fünf Jahren? Sprach ich denn jemals wirklich ernsthaft und
innig zu einem Menschen? Ich muss alleine damit fertig
werden, muss die Ärmel hochkrempeln und es anpacken – aber
was? Was soll ich anpacken? Es ist doch, als säße ich in einem
mir unbekannt gewordenen Raum auf einem Stuhl und wäre
gefesselt. Interessiert habe ich dem natürlichen Wachstum der
Fesseln zugeschaut, habe sie gar als Schmuck, als
Auszeichnung empfunden, ich habe sie mir zueigen gemacht,
habe mit ihnen experimentiert... und irgendwann die Kontrolle
verloren. Wie befreit man sich? Ein erster Schritt wäre
wohl, sich die Beschaffenheit der Fesseln anzusehen, sich
einmal wirklich mit ihnen zu befassen, bis zu den
schmerzlichsten, alles verwerfenden Augenblicken. Es würde
gelten, nach den Knotenpunkten Ausschau zu halten. Dann
allmählich könnte man dazu übergehen, die Fesseln zu lösen
und sich der Beschaffenheit des unbekannt gewordenen
Raumes zuzuwenden, um Zentimeter für Zentimeter
zurückzugewinnen.
Das Leben, sagt „man“, muss man anpacken. Als ob das
Leben etwas greifbares wäre! Bei manchem mag es durchaus
greifbar und fasslich sein. Was mein Leben angeht, so ist es
ein Gespenst, ein Luft- und Rauch- und Nebelwirbel.
Nein, genug von diesen poetischen Betrachtungen, diesem
bildhaften Sprechen und Denken! Ich habe zwei Arme, das ist
eine Tatsache, die Tatsachen schaffen kann; ich habe hier zwei
stoffliche Hände, die vermöge Muskelkontraktion zupacken
können. Nun denn, auf in die Welt also und zugepackt...

 

Hallo

Also, mir gefällt der Text richtig gut. Habe ich wirklich gerne gelesen.Stimmung kommt gut rüber und man, oder wenigstens ich, kann mich leicht in den Prot hineinversetzen.

Die genaue Motivation für den Kotzkrampf will mir noch nicht so ganz einleuchten und irgendwie fand ich die Passage stimmungsmäßig und vom Gefühl her etwas holprig und nicht immer ganz zusammenhändend, aber an sich habe ich leider nichts Konkretes zu kritisieren.
Außer, dass es vielleicht nicht unbedingt eine Geschichte ist, aber da darf ich eigentlich nichts sagen.

Grüße
EinMensch

 

Hallo,

der erste Teil war sehr schön. Der ganze Text erinnert mich an meine eigenen Gedanken, die oft vor sich hinplätschern, ohne zu etwas zu führen - immer vor dem Hintergrund einer tiefen inneren Verzweiflung. Du schreibst sehr gut. Der Stil erinnert stellenweise an Ernst Jünger. Aber wohin führt uns diese "Geschichte"? Was gibt ihr Sinn, außer dass es schöne Worte sind?

Der Text ist voll von edlen Klischees: Der Bauer hat schwielige Hände, der Knecht ist stumm und fleißig, der Intellektuelle ist seelisch verkrüppelt. Das soll keine Kritik sein. Sie sind sehr wirkungsvoll.

Das Sich-Übergeben auf die Bettdecke fand ich etwas zu dick aufgetragen. Geht es dabei um eine dieser Situationen, wo einen ein demütigendes Leiden heimsucht, und einen ganz nah zu sich selber bringt?

Erheiternd fand ich die Idee eines literarischen Schüttbildes. Mir ist vor einem Jahr dazu folgendes eingefallen: Plots aus der Maschine

Was genau will der Prot. tun, mit seinen stofflichen Händen? Dieser Ausweg scheint mir bezeichnend zu sein für eine Kultur, die süchtig ist nach Aktivitäten. In einer anderen Zeit wäre er ins Kloster gegangen, oder nach Amerika.

Alles in allem halte ich das Thema für wichtig, und die Ausführung für gekonnt, würde aber einen längeren Text dieser Machart nach spätestens dreißig Seiten beiseite legen. :)

Freundliche Grüße,

Fritz

 

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