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Eiskalt
Eiskalt
Circa 100 Höhenmeter oberhalb von Neumarkt, Tirol. Es ist 17 Uhr 15. Leichter Schneefall hat eingesetzt.
Als das Handy vibriert und klingelt, ärgert sich Felix Brunner, dass er es nicht abgeschaltet hat. An seinem freien Tag. Hier auf der Langlaufloipe. Er zieht den Störenfried aus der Brusttasche.
„Brunner“, knurrt der Mitfünziger dienstbeflissen ins Mikro.
„Felix, du musst kommen!“, bellt ihn eine Stimme an.
„Wer ist denn das?“, will Brunner wissen.
„Na der Gruber. Du musst kommen!“
Einen Moment lang muss Brunner nachdenken, dann erkennt er die Stimme seines alten Schulfreunds Franz Gruber, der jetzt Bankdirektor in Neumarkt ist:„Wart mal. Was hast du denn, Franzl?“ Brunner rammt seine Skistöcke in den Schnee und schiebt die Skimütze hoch, um besser hören zu können.
„Der ist wahnsinnig geworden!“
„Weißt du, dass ich heut meinen freien Tag habe?“, unterbricht ihn der Langläufer.
Doch der aufgeregte Anrufer fährt unbeirrt fort: „Das hätt ich mir auch meinen Lebtag nicht träumen lassen, dass mich ein Bankkunde bedroht! Aber der Alex ist spinnert worden, vollkommen durchgedreht, will ständig Geld, weckt mich nachts, jetzt ruft mich der Wirt der Postschänke an, dass der Verrückte sich gerad mit seinen Russenfreunden betrinkt…“
„Halt mal; jetzt noch mal von vorn. Diesen Alex, muss ich den kennen?“
„Ah nein, das ist ein Frauenheld, ein Disco-Prinz, eine Nachteule eben. Schöne Frauen, schnelle Autos…“
„Passt“, erwidert Brunner, „kann ich morgen früh bei dir vorbeischauen?“
„Felix“, Franz Grubers beschwörende Stimme kippt ins Weinerliche über, „morgen kannst du mich als Leiche im Schauhaus besuchen. Komm schnell, sag ich dir!“
„Aber schliess dich doch bei dir zuhaus ein, wenn du so gewaltige Angst hast.“
„Du kennst Alex und seine Russenfreunde nicht! Felix, ich bitt dich…“, die Stimme des Bankdirektors verstummt. Brunner hört ein Pochen und Wummern durch das Handy.
„Das ist er, der schlägt mir noch die Tür ein“, flüstert Gruber mit trockener Stimme. „Ich bitt dich, Felix, komm…“
In diesem Moment wird die Stimme seines Freundes übertönt durch ein berstendes Krachen. Dann wird die Leitung unterbrochen.
Am selben Tag. Zwei Stunden früher. Und 1500 Meter höher in den Bergen.
Der Sessellift schwebt lautlos durch die strahlend weiße Landschaft. Die Sonne wärmt sein Gesicht. Die kleinen Fältchen, die sich um Mund und Augen gebildet haben, ändern nichts daran, dass Alex ihr wie ein Teenager vorkommt. In seiner poppigen Skijacke. Braun gebrannt. Der sonnengebleichte Bürstenhaarschnitt. Der ruhige Atem eines durchtrainierten Manns. Ein echter Sunnyboy, denkt Lisa.
Unter ihnen liegen die schneebedeckten Tannen, wie in Zuckerguss eingehüllt, friedlich da.
Lisa zieht den Handschuh aus und legt ihre warme Hand in den Ausschnitt der halb offenen Jacke. Ein Lächeln umspielt Alex’ schmalen Lippen, und er greift ihr sanft von hinten in das volle, blonde Haar. Lisas Hand gleitet unter sein T-Shirt. Ihre schmalen und langen Finger tasten über die behaarte Brust. Sanft beginnt sie, den durchtrainierten Oberkörper zu streicheln. Er atmet tief durch. Ihre Hand rutscht weiter nach unten, und er zuckt.
Der Lift durchfährt ratternd den Bereich einer Stütze.
Ein breites Lächeln malt sich auf ihrem Gesicht ab, weil er reagiert hat.
Er lächelt zurück. Es gefällt ihm. Sie soll ruhig denken, dass er in Stimmung kommt.
Dann schwebt der Lift wieder lautlos im blauen Winterhimmel.
Alex öffnet den Reißverschluss seiner Skijacke ganz und schiebt unauffällig den schweren Gegenstand in der Jackentasche, den sie beinahe berührt hat, seitlich weg. Durch den Flaum des Jackenfutters hindurch fühlt er genau den Abzug und das Rohr der kalten Pistole.
Lisa hat diese Bewegung nicht bemerkt, schiebt sich näher an ihn heran, gräbt ihre Hand in seine weite Hose und legt ihren blonden Schopf an seine starke Brust.
"Es ist Zeit, einen geeigneteren Ort für uns beide zu finden", raunt er ihr zu.
Sie schmiegt sich an ihn und flüstert: "Alex, heut mal keine verrauchte Bar, kein Wodka, kein Igor... nur wir beide, Schatzi."
Er lächelt zufrieden.
Der Skilift erzittert leicht in schwindelnder Höhe.
16 Uhr 59. Einkehrschwung.
Der Schnee fällt lautlos und sanft. Alex hält inne. Er schiebt sich den weichen Schneeflaum aus dem Gesicht. Von hier macht es keinen Sinn mehr, sich auf den Skiern abzustoßen, um weiterzukommen. Die Skischuhe klicken aus der Sicherung. Er greift sich die Skier, öffnet sich die Schuhlaschen. In diesen klobigen Plastikstiefeln bewegt sich Alex wankend wie ein Roboter durch den Neuschnee.
Vor ihm breitet sich der erleuchtete Dorfplatz von Neumarkt aus. Links die alte Postschänke, heute eine hochprozentige Après-Ski-Abfüllstation.
Der quaderförmige Brunnen plätschert auf der Verkehrsinsel der Platzmitte vor sich hin. Längst ist sein Ausfluss verstopft, und das eiskalte Wasser ist an allen vier Seiten übergelaufen. Von seinem schmiedeeisernen Zuleitungsrohr hängen dicke Eiszapfen herab. Der Schnee bildet ein weißes Häubchen auf dem Einfüllstutzen.
Auf der hinteren Seite des Platzes befindet sich rechts die Tiroler Gemeinschaftsbank. Heute geschlossen.
Alex muss an Gruber denken. Auch Lisa wartet. Später. Zuerst Igor. Reinen Tisch machen.
Die Glocke der Dorfkirche auf der hinteren linken Seite schlägt die volle Stunde. Alex wendet sich der Postschänke zu.
Polternd drückt Alex die Schwingtür zur halbdunklen Bar auf. DJ Bobos „Life is live“ rumpelt wabernd aus den Lautsprechern. Falco, der schneidige Barkeeper, der seinen Spitzname von den halblangen, gegeelt nach hinten gekämmten Haaren erhalten hat, schaut auf. Er hält inne und ruft pathetisch: „Hier kommt Alex!“
„Falco, einen Gerührten“, erklärt der Angesprochene zum Grusse.
Klappernd schleppt sich Sunnyboy in seinen schweren Skischuhen zur Theke, an der schon eine Blondine an ihrem Weizenglas nippt.
Ein Lächeln umspielt Alex’ schmalen Lippen, und er greift ihr sanft von hinten in das volle, blonde Haar.
„Hallo, hübsche Frau, kennen wir uns?“
Bevor die Frau antworten kann, reicht Falco den Gerührten und weist auf einen Tisch am anderen Ende des Kneipenraums. Alex folgt dem Fingerzeig. Es ist Igor.
Seufzend macht sich Sunnyboy auf den Weg. Er wippt zur wummernden Disco-Untermalung, nippt am Gerührten und durchquert den Raum.
Er bemerkt die Person nicht, die draussen auf dem Kirchplatz am Fenster der Kneipe steht und ihn beobachtet hat. Alex kommt am Tisch der Russen an.
Igor blickt ihm entgegen.
Handschlag.
Der dicke Sergej sitzt Igor gegenüber. Mit der Spitze seines langen Klappmessers holt er sich das Schwarze unter den Fingernägeln heraus. Er blickt nicht auf, als er Alex seine schwere Pfote hinreicht.
Wieder ein wortloser Handschlag.
Alex bleibt stehen, kippt seinen Gerührten runter. Er schaut dem stummen Sergej ins Gesicht. Wirklich ein ungemütlicher Geselle. Das pickelnarbige Gesicht. Aufgedunsen vom fetten Essen.
Igor ist ein hageres Männchen, er kratzt sich seine Bartstoppeln, raucht nervös seine Davidoff: „Alex, du hinsetzen und ein Glas mit Freund trinken.“
„Lass stecken, Igor“, wehrt der Sunnyboy ab.
Igor scheint seinen Einwand nicht gehört zu haben: „Falco, eine Flasche Smirnoff, du mir Freude machen und rasch servieren.“
Falco läuft zu Hochform auf, und ehe sich Alex versieht, stehen drei Wodkagläser sowie die eisgekühlte Flasche auf dem Kneipentisch.
„Nur einen“, murmelt er, „das Schwein, er schuldet mir noch Geld…“
Igor schenkt ein, die drei stoßen wortlos an. Sergej hat sich mit dem Klappmesser eine Fingerkuppe blutig geschnitten, er flucht leise auf Russisch.
Fragend hebt Igor den Kopf, neigt sich Sunnyboy zu und flüstert: „Stoff?“
Alex schüttelt den Kopf, hebt die Hand zum Gruß und stolpert in seinen Skistiefeln zum Ausgang.
Igor drückt seine Zigarette aus und nickt Sergej zu. Der Dicke klappt das Messer zu und schiebt sich ächzend von der Kneipenbank. Hoffentlich befolgt Sergej, was ich ihm gesagt habe, denkt Igor. Er schnappt sich eine neue Davidoff.
Hinter den Tresen hebt Falco den Telefonhörer ab und wählt eine Nummer.
17 Uhr 15.
Alex hat den Kirchplatz überquert und die Hintertür des Bankgebäudes erreicht. Es gibt nur eine Klingel. Namensschild „Gruber“.
Mechanisch drückt der Mann die Klingel.
Das hohe Läuten hallt im Hausgang.
Kein Laut im Hausinneren.
„Zeig dich, du Kröte!“, murmelt Sunnyboy und drückt ein zweites Mal.
Nichts.
„Mach auf!“, ruft der Wartende und rammt seine Schulter in die hölzerne Haustür. Sie erzittert.
„Zeig dich! Ich weiß, dass du da bist!“, schreit er. Ihm wird heiß. Hier kommt Alex, schwirrt ihm durch den Kopf. Aus seiner Jackentasche holt er das kalte Metall und schlägt gegen die Eingangstür. Holz splittert ab. Im Inneren hallt das schwere Pochen wieder.
Er tritt einen Schritt zurück und stürzt auf die Tür zu. Sie kracht im Gebälk, hält aber dem Eindringling stand. Alex’ linke Schulter schmerzt. Dich Schmeißfliege zerdrück ich, denkt er.
„Zum letzten Mal, mach auf, du Hurensohn!“, brüllt er, schnaubend wie ein losgelassener Stier.
Das Haus bleibt stumm.
Alex tritt drei Schritte zurück, die Pistole im Anschlag. Er entsichert. Er läuft, wirft sich mit aller Kraft in den Rahmen, das Holz birst, gibt nach, das Schloss zerfetzt, Alex fällt, kein Widerstand mehr, der Hausflur ist hart, die Pistole knallt auf die Marmorkacheln, sie entgleitet ihm.
Er grabscht nach ihr. Keinen Augenblick zu früh. Da steht er vor ihm, barfuss, ein Häufchen Elend, Hemd aus der Hose. Er steht gebeugt vor dem Sunnyboy.
Alex richtet sich auf. Seine linke Hand blutet. Doch die rechte führt wieder die Pistole.
„Bitte“, fleht Gruber leise, fast lautlos, „bitte nicht.“ Alex hechtet hoch, schlägt zu. Dann steht er über seinem Opfer.
Der Schrei gellt durch den Hausflur und über den zugeschneiten Kirchplatz.
17 Uhr 40.
Als Brunner den Wagen anhält, ertönt das Martinshorn des Notarztwagens. Felix Brunner greift seine Dienstmarke aus dem Handschuhfach, seufzt und steigt aus. Der Langlauf schon wieder vergessen, die Skier wieder im Kofferraum, so schnell holt einen die Wirklichkeit ein.
Auf dem Dorfplatz hat sich eine Menschentraube gebildet. Da versteht Brunner. Die Menschen stehen vor der Tiroler Gemeinschaftsbank. Das Grausen packt ihn: „Nein, nicht das! Nur das nicht:“
Er läuft los, über den Kirchplatz, seine Turnschuhe rutschen im Neuschnee aus, er rappelt sich auf.
Die Leute stehen dicht gedrängt, recken die Köpfe, murmeln.
„Lassen Sie mich vor, Polizei!“, bahnt sich Brunner rabiat den Weg, schiebt die protestierenden Menschen beiseite.
Da sieht er das Blut. Im ganzen Eingangsflur. Ein Massaker. Der Notarzt ist über das Opfer gebückt.
„Oh mein Gott“, entfährt es Brunner.
„Was wollen Sie?“, dreht sich der Arzt um.
Brunner zeigt seine Dienstmarke. „Brunner, Kriminalpolizei Innsbruck.“
Da gibt der Arzt den Blick frei auf das Opfer: „Eine Messerstecherei!“
Brunner erstarrt. „Aber das ist ja gar nicht Franz Gruber.“
Vor ihm liegt in seinem eigenen Blut ein Skifahrer… Alex… Er röchelt schwach.
„Kommt er durch?“, fragt Brunner.
„Mehrere tiefe Wunden im Rücken“, meint der Arzt. „Da kann man nichts sagen.“
„Wer hat die Messerstecherei gemeldet?“, fragt Brunner in die Runde.
Sein Freund Gruber tritt aus dem Hausflur vor: „Ich war’s, Felix.“
Mit offenem Mund starrt der Kommissar den Totgeglaubten an. Grubers rechte Backe ist rot geschwollen, an einer Stelle aufgeplatzt. Dann findet Brunner die Sprache wieder: „Du hast mir einiges zu erzählen, Franzl!“
Er schiebt ihn von der Menschenmenge weg in die Wohnung hinein. Die Blicke der Gaffer verfolgen sie.
Brunner drückt seinen Freund, im Wohnzimmer angekommen, aufs Sofa. „Was ist los?“, bricht es aus dem Kommissar hervor, „erzähl alles! Ich bin richtig sauer!“
„Jaja, ich versteh schon, aber es ging ganz schnell, Felix“, Gruber macht eine abwehrende Handbewegung.
„Was?“
Gruber räuspert sich: „Er hat mich bedroht, ich hab’s doch am Telefon gesagt. Und dann kam er, hat die Tür aufgebrochen. Ich kam zu spät an der Wohnungstür an, er war schon drinnen…“
Brunner hat Mühe, seine Ungeduld zurückzuhalten: „Und?“
„Ich stand vor ihm, bat ihn, flehte ihn an, er war auf dem Boden, sprang auf und schlug mir ins Gesicht. Es tat höllisch weh, muss wohl sein Revolver gewesen sein, ich fiel hin, sah Sternchen, ich wäre fast ohnmächtig geworden, und gleichzeitig hatte ich so Angst, Angst vor dem Tod…“
Brunner atmet heftig aus, beginnt in Grubers Wohnzimmer auf und ab zu gehen, knetet sich die Unterlippe. „Weiter, Franzl, ich bin hier nicht zum Geschichtenerzählen gekommen.“
„Und dann, mein Gesicht tat so weh, ich zitterte, wollte ihm alles geben… da hörte ich den Schrei… ich mache die Augen auf, da liegt er vor mir, überall Blut, ich denke, das ist mein Blut, aber es ist seins. Er atmet schwer, dann seh ich die Einstiche im Rücken. Während er mich schlug, muss jemand von hinten gekommen sein, hat ihn erstochen.“
„Und die Waffe?“, unterbricht ihn der Kommissar.
„Nichts, kein Messer, gar nichts… doch… da war was, ich dachte, das kann nicht sein…“
„Spann mich nicht auf die Folter, Franzl!“
„Neben ihm auf dem Marmorboden war eine Wasserpfütze, ganz rot von seinem Blut, und ein Eiszapfen schwamm darin.“
Brunner bleibt der Atem weg. Er erstarrt, er hat das Gefühl, immer weniger zu verstehen. Dann gewinnt er seine Fassung wieder.
„Franzl, vielleicht werd ich mit zunehmenden Alter debil, aber du verschweigst mir etwas. Was wollte dieser Mann von dir, bevor er niedergestochen wurde? Warum rufst du mich an, nachdem du dich so lang nicht gemeldet hast? Was hatte der Mann gegen dich in der Hand? War er ein normaler Bankkunde? Oder ein Freund?“
Der Bankchef schluckt. „Ja… nein, da war so eine Geschichte.“
„Du musst mir alles sagen“, faucht ihn sein Freund an. „Sonst verhafte ich dich wegen Beihilfe zu versuchtem Totschlag! Ich nehm mir einen Tag frei, und komme durch deinen Anruf in so eine Wild-West-Geschichte hinein…“
„Schon gut, passt schon“, beruhigt ihn Gruber. „Da war eine Frau…“
„Was? Du hattest was mit seiner Frau?“
„Nein, das war eine… eine bezahlte Frau?“
„Ja seid’s alle miteinand verrückt geworden?“ Brunner stampft auf. „Sagst du mir gerade, dass dieser Typ dir Huren mitbrachte…“
Gruber senkt den Kopf.
Brunner beginnt zu rasen: „Franzl, Franzl, ich weiß wirklich nicht, ob ich noch etwas für dich tun kann… du bist ja ganz tief in die Scheisse geraten!“
Gruber sagt nichts; er stützt sein Gesicht in die zitternden Hände, erträgt die Wutsalve seines Freundes und hat einfach nur das Gefühl, dass die Welt um ihn herum zusammenstürzt.
Brunner atmet heftig, versucht sich zu kontrollieren.
„Wo sind diese Russen, von denen du am Telefon gesprochen hast?“
Gruber antwortet leise: „Wohl in der Postschänke.“
„Wo ist diese Postschänke?“, will Brunner jetzt wissen.
Gruber weist durch sein Wohnzimmerfenster auf das Haus auf der anderen Seite des Dorfplatzes.
Brunner stürmt aus dem Wohnzimmer los wie tollwütiger Hund. Er schiebt sich am Notarzt vorbei, der Alex auf eine Trage gelegt hat, drückt die Menschen am Hauseingang weg, dann atmet er die frische Luft auf dem Dorfplatz tief ein. In diesem Moment kommen zwei Polizeiwagen an, Polizisten springen aus den Wagen, sperren den Tatort ab. Der Kommissar folgt seinem Instinkt und geht in die Postschänke.
17 Uhr 55.
Die Bar ist leer. Die Gäste sind wohl unter den Schaulustigen auf dem Platz.
„Ist da wer?“, ruft Brunner.
Aus dem Hinterraum kommt Falco schlurfend heran.
„Sind Sie der Barkeeper?“ Er zeigt seine Dienstmarke.
„Ja warum?“ Falco schaut Brunner mit glasigem Blick an und beginnt, Biergläser durchzuspülen.
Besoffen oder stoned oder beides, denkt sich Brunner. „Was ist hier passiert?“
„Ach der Alex, ja der war wieder mit seinen Russenfreunden hier, übles Gewächs…“
„Drogen, Frauen?“, hakt der Kommissar nach.
„Nein“, sagt der angetörnte Barkeeper gedehnt. Und seine Antwort klingt in Brunners Ohren wie ein deutliches Ja.
„Aber den Gruber haben Sie gewarnt vor diesem Alex und den Russen?“
Falco nickt schlaff, stellt einige Weizengläser weg.
„Und wo sind jetzt die Russen?“
Falco zuckt mit den Schultern.
„Und der Alex, war der Stammgast hier?“
„Ja sicher, ein guter Stammgast…“
„Hat immer seine Zeche gezahlt…nehm ich an“, kommentiert der Kommissar.
Falco bleibt stumm.
„Nein?“
„Doch, sicher. Aber…“
Brunner hat das Gefühl, dass er bei jeder von ihm gestellten Frage immer weniger von der gegebenen Antwort versteht.
„Was aber?“
Der Barkeeper druckst herum, fängt an, Weizengläser zu polieren. „Naja, eigentlich war es eher seine Freundin, die immer zahlte.“
„Gut, nicht so wichtig. Aber warum warnen Sie den Chef der Tiroler Gemeinschaftsbank, als der Alex hier auftaucht?“
Falco kratzt sich die Stirn und sucht nach einer gescheiten Erklärung: „Alex war ja so einer, einer, der immer direkt zuschlägt…“
„Ein Choleriker? Der direkt zuschlägt“, fragt Brunner nach. In dem Moment befällt ihn ein böser Verdacht...
19 Uhr 15. Universitätskrankenhaus Innsbruck. Notaufnahme.
Man hat Alex eine Sauerstoffmaske auf den Kopf gesetzt.
Aus der Infusionstasche tropft die Salzlösung in sein Blut.
Der Schreiber gleitet leicht kratzend über das Millimeterpapier und zeichnet den Herzrhythmus auf.
Der Besucher steht stumm da. Das Ende eines langen Tags.
Der Besucher ist in Gedanken versunken. Schließlich ein kurzes Kopfnicken.
Dann beugt sich der Besucher, sucht die Steckdose. Das Blinken des Schreibers hört auf.
Die Infusionsnadel wird herausgezogen. Etwas Blut tropft aus dem Einstich.
Die Sauerstoffmaske. Der Besucher entfernt sie.
Alex’ Atem beginnt zu stocken. Der Schwerverletzte röchelt, hustet.
Aus der Infusionswunde tritt weiter Blut aus.
Der Besucher ist eine Frau. Eine blonde Frau. Sie lächelt.
Als sie sich umdreht, steht Brunner im Türrahmen, fixiert sie.
„Sie sind Lisa?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, drückt er den Klingelknopf für die Stationsschwester und brüllt in den Krankenhausgang: „Schnell, ein Notfall!“
Lisa schaut Brunner feindselig an. Er schiebt sie vom Schwerverletzten weg, drückt sie auf den Besucherstuhl, da sprudelt es aus ihr heraus, unkontrolliert: „Ich möchte, dass er verreckt, das Schwein, der geile Bock, ich war nur eine halbe Stunde weg, mich kurz duschen, als ich zur Postschänke kam, hing er schon mit dieser anderen Blondinen in der Bar, kraulte ihr die Haare, wie er es bei allen Frauen tut, dieses Schwein. Das sah ich durchs Fenster, ich war so wütend, diese Sau, hat mich immer nur benutzt… Ich wusste nicht, was ich tun sollte, dann wieder der Wodka mit seinen reichen bekoksten Russenfreunden, schließlich kam er heraus, ich stand mitten auf dem Platz, er sah mich nicht, wandte sich direkt zum Bankgebäude, ich folgte ihm und kam mir so blöd vor, immer laufe ich ihm nach, jedes Mal ist es das Gleiche. Ich stolperte fast über den Dorfbrunnen, dann sah ich die Eiszapfen, ich brach zwei ab und lief los, schneller, immer schneller. Und je schneller ich rannte, wusste ich eine Sache immer klarer: ich bring dich um, du mieses Schwein!“ Sie atmet tief aus, sackt in sich zusammen.
„Kommen Sie!“, meint Brunner und beißt sich auf die Lippen. Lisa lässt sich widerstandslos hinausführen.