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Eiter
Es gibt wohl kaum eine unsanftere Methode geweckt zu werden als durch einen Erziehungsberechtigten, der mit energischem Schwung die Tür aufstößt, so schnell wie nur irgend` möglich das Zimmer in schmerzhaft grelles Licht taucht, und, ohne dem Nachwuchs auch nur eine Schrecksekunde zu gönnen, unmittelbar in derselben Sekunde die Motzerei anfängt.
„ So jetzt steh aber mal auf, ham schon viertel vor Acht! Hab keine Lust dazu, schon wieder einen Anruf von der Schulleitung zu kriegen, weil der Herr meint, dauernd zu spät kommen zu müssen! Außerdem wolltest du gestern den Rasen mähen, und, hast du`s gemacht? Typisch, war ja klar! Mann, Mann, wenn man euch einmal um einen Gefallen bittet, da wartet man lieber auf die nächste Sonnenfinsternis! Hast du dir eigentlich jemals Gedanken gemacht…“
Nachdem der schnaubende Erzeuger sich abreagiert hat, stemme ich mich mit Mühe aus den Federn, und taumele in Richtung Badezimmer. Der mit seinem scheiß´ Rasen, ob gestern heute oder morgen, scheißt der Hund drauf. Und das bei meinem Schädel, war echt `n bisschen lang gestern. Und dann noch dieser bescheuerte Traum. Jetzt brauch ich jedenfalls erstmal kaltes Wasser.
Aber heute holt mich selbst das eiskalte Wasser aus der Leitung nicht aus dem Halbschlaf. Ist auch egal, denn das erledigt ein paar Sekunden später der Blick in den Spiegel. Ich traue meinen Augen kaum und muss mir erst den Glibber aus den Augenwinkeln reiben, aber nein, er ist immer noch da: Der verschissen noch mal größte Pickel, den ich je gesehen habe. Mehrere gefühlte Meter im Durchmesser, von einem tiefroten Hof umgeben und die ein-drucksvolle Wölbung von einer winzigen Eiterkrone geschmückt, wuchert, nein, prangt er direkt über meinem linken Auge.
Meine Fresse. Darf nicht wahr sein, echt nicht. Verdammt noch mal, warum immer ich? Alles hab ich schon versucht, die komplette chemische Keule, die gegen Akne aufzutreiben ist, aber sie kommen immer wieder.
Ich nehme meine ganze Konzentration zusammen und setze zwei Finger an. Das Ding sieht so reif aus, das platzt bestimmt bei der geringsten Berührung. Einmal kurz drücken und…
Scharfkantige Splitter strahlen bis direkt in meinen Stirnlappen. Aua, Fuck tut das weh!
Okay, zweiter Versuch. Jetzt nimm dich mal zusammen, du Weichei. Also, einfach quetschen und…
Ne. Keine Chance. Der Pfropfen sitzt bombenfest und ohne Morphium wird das nix mit dem Ausquetschen.
So kann ich heute nicht in die Schule gehen. Ne echt nicht, das geht auf gar keinen Fall. Muss das Mutter irgendwie verklickern.
Mutter sitzt im Wohnzimmer, nimmt ihr Frühstück auf der Couch beim Sat1- Frühstücksfernsehen ein und ist da komplett anderer Meinung.
„ Jetzt stell dich mal nicht so an, mein Gott! Als wenn du der einzige Sechzehnjährige auf eurer Schule mit Pickeln wärst!“
- Ja aber Mama guck dir das doch mal an. Mama jetzt guck doch mal!
„ Geht grad nicht Schatz, gleich kommt der Bericht über Victoria Beckhams Darmspiegelung. Hier“, sie wirft mir eine ihre übergroßen Topfdeckelmützen zu, „ Mach schon, dein Vater bringt dich heute zur Schule und er wartet nicht gerne.“ Von draußen ertönt eine Hupe.
Dass er ausgerechnet heute so zuvorkommend sein muss.
In der Schule ist es die Hölle. Die Mütze ist nur ein schwaches Ablenkungsmanöver, denn das gute Stück ist neongrün und türkis gestreift und damit ein echter Hingucker. Hätte das Ding eh zuhause lassen können, denn schon in der ersten Stunde schnauzt mich der alte Prescher an, dass er in seinem Unterricht keine Kopfbedeckungen sehen will. Als ich den Lappen vom Kopf nehme, bemerke ich, wie sein Blick für einen Moment an einem Punkt über meinen Augen hängen bleibt und ganz kurz stockt sein Vortrag. So fassungslos hab ich ihn noch nie gesehen.
Aber die Genugtuung ist nur kurz, denn um mich herum beginnt sich eine Geräuschkulisse aus Getuschel und unterdrücktem Kichern aufzubauen, die für den Rest des Tages nicht mehr verebben wird.
Es wird immer schlimmer. Hab` das Gefühl, ich hätte ne Leuchtreklame mit FREIBIER auf der Stirn. Die meisten geben es bald auf ihre Schaulust kaschieren zu wollen, vielleicht können sie es gar nicht mehr und der Pickel hat hypnotische Kräfte. Noch nicht mal die Lehrer können sich dem entziehen. Kolm, der Physiklehrer, versucht seinen glasigen Blick die meiste Zeit aus dem Fenster zu richten und wenn er es doch einmal nicht vermeiden kann in meine Richtung zu sehen, wird sein Redefluss immer langsamer, einmal verstummt er für ganze zehn Sekunden. Getoppt wird das nur noch in der Vierten von Frau Wall, die zu Beginn der Biostunde verkündet, sie würde spontan statt Unterricht einen Film zeigen wollen, um dann währenddessen zu mir rüber zu schleichen und mich mit sorgenvoller Miene zu fragen, wann ich das letzte mal beim Arzt gewesen wäre, natürlich laut genug, dass es auch ja alle mitkriegen, vielen Dank auch.
In der zweiten großen Pause verziehe ich mich schnurstracks auf die Toiletten und schiebe dabei eine Bugwelle aus hämischem bis schockiertem Gezischel vor mir her, die sich bis in die äußersten Ecken des Schulhofs fortpflanzt. Auf dem Klo überlege ich erst, mich auf dem Scheißhaus einzuschließen und erst wieder raus zukommen wenn es dunkel ist. Aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ich muss es einfach selbst noch mal sehen. Ich geh also zum Spiegel, atme kurz durch und sehe hinein.
Heilige Mutter Gottes.
Das Ding ist, so unmöglich das scheint, noch größer geworden. Die Eiterkrone, heute morgen noch kaum zu erahnen, hat sich geöffnet und ist aufgegangen wie ein Hefeteig, ist erblüht wie die eitrige Version einer Titanwurz. Je länger ich in mein Spiegelbild starre, desto mehr glaube ich ein Pulsieren erkennen zu können. Und vielleicht sind es ja meine Nerven, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die Hautunreinheit mir zuzwinkert.
Jetzt reicht`s. Ich verschwinde von hier, die können mich mal kreuzweise mit ihren unentschuldigten Fehlstunden. Ich warte bis die Pause zu Ende ist und es ruhig wird auf den Gängen. Dann schleiche ich mich so unauffällig wie es geht aus den Toiletten und dem rettenden Ausgang entgegen.
Aber klar, der Super-GAU kommt erst noch. Katharina aus der Parallelklasse, schwarz gewandete Gothic-Göttin, Zuspätkommerin der Herzen und die Mitternachtssonne meiner verruchtesten Träume, kommt mir über den Gang entgegen. Seit Monaten warte ich auf eine Gelegenheit mich allein mit ihr zu unterhalten, aber bei Gott, nicht heute. Nicht jetzt. Verdammt nein.
„Hi Jan…, äh, na auch zu spät?“ Sie gibt sich alle Mühe, mir in die Augen zu sehen und ich bewundere sie dafür.
- Ähm, ja ne, geh grad wieder. Sag aber nicht dem Fendler, dass du mich gesehen hast, okay?
„ Klar, bin ja keine Petze…“ Der Widerstand bricht zusammen und ihr Blick wandert gnadenlos meine Stirn hinauf. „ Also Jan, das… das sieht echt schlimm aus.“ Jedes Wort ein Dolch in meine Herzkammern. Sieh mich nicht an, bitte, sieh mich nicht an.
-Weiß ich. Bin dann ma weg, sehn uns.
Ich dreh mich um, um zu flüchten, aber…
„ He Stanzmann, was kostet denn so`n drittes Auge?“ Urplötzlich taucht Thomas Brauner auf, der grenzdebile Halbaffe, und gesellt sich, immer einen flotten Spruch auf den Lippen, dazu.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Katharinas Mundwinkel einen Moment lang zucken, und
all meine den Tag über aufgestauten Aggressionen richten sich auf Brauner. Der Tank von seiner Vespa und eine 500g-Packung Zucker sind zwei Dinge, die meiner Meinung nach unbedingt zusammengehören.
- Bist`n Scherzkeks, Thomas. Tschö zusammen.
„ Ja Jan, dann gute Besserung, äh, tschau meine ich“ ruft mir Katharina hinterher, dreht sich um und stolpert fast. Jetzt aber raus hier und zwar schleunigst.
Auf dem Weg nach Hause muss ich an einer Ampel halten. Einer der Abbieger starrt mich mit schreckensstarrer Miene an, während er um die Kurve fährt und brettert dann gemächlich, aber mit Nachdruck in eine Reihe parkender Wagen. Als es grün wird, fange ich an zu laufen.
Zuhause angekommen, feuere ich Rucksack und Jacke in die Ecke, verziehe mich ins Badezimmer und schließe die Tür hinter mir zu. Fest entschlossen trete ich ans Waschbecken und blicke in den Spiegel. Inzwischen sieht der Pickel aus, als hätte er sich verhärtet und der Eiter hat sich zu einem zahnbelagartigem Gelb verfärbt.
So, jetzt hab ich aber die Faxen dicke. Irgendwann wird es einfach zuviel. Ich steh nicht noch so einen Tag wie heute durch, damit das klar ist. Und wenn ich morgen mit nem Verband um den Schädel rum renne, diesen Tumor von einer Eiterbeule werde ich jetzt ausmerzen, koste es was es wolle.
Meine Finger schließen sich wie eine Zange um die Ausstülpung und drücken zu.
Drücken…weiter… ignorier den Schmerz… nicht aufgeben…mach weiter… der Schmerz ist nicht existent… befreie dich vom Schmerz… es tut so weh…plötzlich… spüre ich wie etwas verrutscht und dann… knackt es.
Klumpiger Eiter sprenkelt in halbflüssigen Bröckchen den Spiegel.
Unendliche Erleichterung durchflutet mich. Ein dünner Blutfaden rinnt mir über die Stirn und bleibt in der Augenbraue hängen, aber mit so was war wohl zu rechnen.
Gott, wie der Spiegel aussieht. Das mach ich mal besser weg, auf `nen Vortrag von Mutter hab ich jetzt echt keinen Trieb.
Ich will zum Schrank um das Putzzeug zu holen, als ich plötzlich irgendwas im Ohr hab. So ein Zirpen, oder Fiepsen… So leise, das ich nicht weiß, ob ich es wirklich höre oder nicht.
Mein Blick fällt wieder auf den Spiegel und einer der größeren Eiterspritzer fällt mir ins Auge. Der ist irgendwie komisch, aber ich weiß nicht wieso. Ich hole mir die Lupe, die Vater immer beim Nasenhaarschneiden zu Hilfe nimmt.
Ich sehe durch die Lupe und… mitten in der Eiterbrühe bewegt sich etwas, etwas Winziges. Es windet sich wie ein Wurm, strampelt mit winzigen Ärmchen, schlägt mit dem Schwanz, und stößt dünne klägliche Schreie aus mit etwas, das wie ein Schnabel aussieht, das fassungslose Entsetzen eines verstoßenen Ferkels in den vier Knopfaugen. Allmählich verlangsamen sich seine Bewegungen, bis sie schließlich ganz aufhören. Auch die Schreie verstummen.
Ich starre noch lange durch die Lupe, bevor ich unkontrolliert anfange zu zittern. Meine Knie werden auf einmal weich, ich stolpere nach hinten und lass mich auf den Klositz fallen. Ich versuche meinen Atem ruhig zu halten, dafür bekomme ich jetzt Schüttelfrost. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und dabei ertaste ich zufällig etwas auf meinem Rücken… etwas Gewölbtes…