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Elaine
Sie sieht in den Spiegel. Was sie sieht, ist nicht das, was der Realität entspricht. Zumindest sagen das alle. Elaine kann sich nicht vorstellen, dass sie recht haben könnten. Wie soll es denn möglich sein, dass sie etwas sieht, was da nicht war? Natürlich hat sie jede Menge Bauchspeck. Da ist doch überall viel zu viel.
Als sie vierzehn gewesen war, hatte sie Domenico kennen gelernt. Er wurde ihr erster Freund, und sie glaubte, ohne ihn nicht mehr leben zu können. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich eingebildet hatte, er sei ihr Mann fürs Leben. Elaine war schon immer frühreif gewesen, und so hatte es keine ihrer damaligen Freundinnen gewundert, als sie verkündete, jetzt die Pille nehmen zu wollen. Heute schmunzelt sie, wenn sie daran zurückdenkt.
Elaine war in ihrem Wesen damals unkompliziert und locker gewesen - einfach so hatte sie ihre Mutter angesprochen und gemeint, sie wolle Sex haben, endlich erwachsen sein. Ihre Mutter war geschockt und wusste nicht, was sie tun sollte. Elaine entfernte sich mehr und mehr von ihr und wurde zu schnell zu selbstständig. Nach der Schule kam sie nicht mehr nach Hause, blieb manchmal nächtelang fort. Es war ihr selbst nicht klar, warum sie das tat, warum sie ausgerechnet gegen ihre Mutter rebellierte. Vielleicht gehörte das einfach dazu zum Dasein eines Teenagers. Zweimal rief die Mutter die Polizei, beide Male tauchte Elaine wieder auf. Helfen konnte die Polizei bei den Problemen, die sie hatte, jedoch nicht. Domenico fand sie zu kindlich, nicht hübsch; drohte ihr damit, sich zu trennen. Sie erinnerte sich genau, wie er ihr einmal auf der Couch in seiner Bruchbude mitgeteilt hatte, sie sei langweilig, nachdem sie beim Sex nicht gekommen war. Sie sei einfach keine Frau. Einfach keine Frau. Elaine glaubte, sie sei zu dick. Heute weiß sie, dass sie Domenicos rücksichtslose Kommentare falsch interpretiert hatte. Aber damals war sie dazu viel zu unerfahren gewesen. Sie hatte einfach nichts mehr gegessen. Es war ihr egal, alles war ihr egal. In sich spürte sie nur Leere, schon länger, das war ihr gar nicht aufgefallen. Sie merkte es erst, als sich auch ihr Magen nicht mehr füllte.
Es änderte sich nichts. Niemand bemerkte eine Veränderung. Zwei Monate später wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Ihre Mutter hatte den Notarzt gerufen, als Elaine morgens vor der Schule einfach so umgekippt war. Sie machte sich Vorwürfe, wusste aber nicht, was sie hätte tun sollen oder nun tun sollte. Sie wusste nur, dass die beiden es alleine nicht mehr schaffen würden. Das hatte sie Elaine mehrfach gesagt.
Nach einem halben Jahr wurde diese aus dem Krankenhaus entlassen. Die stationäre Behandlung hatte sie rundum versorgt, mit Therapien, Mitleid, Anteilnahme - und Essen. Doch die Leere blieb, auch mit vollem Magen.
Sie hatte einen Rückfall, schon kurz nach der Entlassung. Sie wurde wieder dünner und dünner, doch mittlerweile lebte sie in einer Wohngemeinschaft, sodass es zunächst niemandem auffiel. Sie wollte mit niemandem etwas zu tun haben, ließ niemanden an sich heran. Sie schränkte sich in allem ein, nicht nur in ihrem Essverhalten. Elaine verbot sich, ein Vollbad zu machen, tief einzuatmen, wenn es draußen gut roch. Sie verbot sich auch, Lippenpflege oder Handcreme zu verwenden. Genaugenommen versagte sie sich all die Dinge, die sie als Genuss empfunden hatte. Sie meinte, sich quälen zu müssen, nichts Gutes verdient zu haben. Beim Aufstehen wurde ihr immer schwarz vor Augen, ständig fühlte sie sich schwach, war schlecht gelaunt. Doch sie versuchte nicht, etwas zu ändern. Denn durch all die neuen Probleme und Dinge, die mit ihr geschahen, all den Kummer und die Wut über sich selbst, spürte sie wenigstens diese Leere nicht mehr so sehr. Elaine bemühte sich sogar, den Schmerz in ihrem Körper so gut festzuhalten, wie sie konnte, wollte all das aufsaugen, was sie fühlte. Denn immerhin fühlte sie jetzt wieder etwas - irgendetwas ... Sie war sehr oft kurz davor, zusammenzubrechen. Es geschah letztendlich, als sie eine Straße überqueren wollte. Sie hielt sich mit beiden Armen an einer Ampel fest, um nicht vornüber zu kippen, doch es gelang ihr nicht, sie rutschte ab, fiel und war bewusstlos.
Im Krankenhaus wachte sie wieder auf. Sollte alles wieder von vorn beginnen? Wieder die stundenlangen Therapiesitzungen, die ihr letztenendes doch nur zeigten, dass sie nicht war wie alle anderen? Zunächst kam es anders, als sie damals gedacht hätte. Da sie sich weigerte, zu essen, kam Elaine an den Tropf. Man sagte ihr, sie wiege nur 34 Kilo. Elaine lächelte in sich hinein. Dann ist eine Hälfte davon mal zehn meine Körpergröße - klingt doch eigentlich gut, dachte sie. Dass es viel zu wenig sein könnte, auf die Idee kam sie gar nicht. Als ihr Gewicht etwas stabiler war, musste sie wieder in die Sitzungen, zur Ergotherapie, zur Ernährungsberatung. Auf Station lernte sie Hannes kennen. Er arbeitete hier. Ihre erste Begegnung mit ihm war, als sie missmutig einen Muffin malträtierte, den man ihr als Zwischenmahlzeit hatte aufzwängen wollen. Sie hatte es aus dem Papierförmchen gelöst und war gerade dabei, es zwischen ihren dünnen Fingerchen zu zerquetschen, sodass die Schokoladenstückchen daran klebten, als sie Hannes anrempelte. Elaine war trotzig; sie wollte sich nicht entschuldigen - wofür auch? Er lächelte sie an und hatte sie sofort in sein Herz geschlossen. Ihm war es egal, wie Elaine im Moment aussah. Er verliebte sich in sie und sie sich in ihn, schneller als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie fühlte sich nicht mehr leer. Sie war erfüllt mit Gefühlen, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich nicht mehr schwerfällig und plump wie zuvor, sie kam sich befreit vor und vor allem leicht, und das hatte nichts mir ihrem Körpergewicht zutun. Nie hätte sie gedacht, so etwas Schönes je wieder fühlen zu können, und dann auch noch zu diesem Zeitpunkt. Jetzt wollte Elaine das Krankenhaus gar nicht wieder verlassen.
Doch vier Monate und zwei Wochen später war es dennoch soweit: Sie wurde entlassen und sollte ab jetzt nur noch ambulant betreut werden - zweimal die Woche. Sie konnte bei Hannes einziehen. Er hatte sie wie beiläufig eine Woche vor ihrer Entlassung einfach gefragt und sie hatte zugesagt, ohne zu wissen, dass es tatsächlich bald soweit war und wirklich passieren würde. Der Umzug - falls man es überhaupt so nennen konnte - erfolgte binnen weniger Stunden. Die Sachen, die Elaine besaß, holten Hannes und sie aus der Wohnung ihrer Mutter ab - nachdem Elaine die WG verlassen musste, hatte die Mutter die Sachen zurückgeholt - und schafften sie in seine. Es waren nur ein kleiner Schrank und eine Lampe. Kleidung besaß Elaine kaum mehr - es hatte nichts mehr gepasst und war alles entsorgt worden. Im Krankenhaus musste sie die Sachen, die sie hatte, nicht so häufig wechseln. Trotzdem hatte sie ihren Teil des Kleiderschrankes, den Hannes in seinem Wohnzimmer hatte, mit den Sachen, die sie hatte, gefüllt. Sie war stolz gewesen und froh.
Das ist nun zwei Wochen her. Elaine sieht noch einmal in den Spiegel. Versucht, ein Stück ihres Bauches zwischen zwei Finger zu bekommen, es gelingt ihr nicht.
"Du bist nicht ich.", sagt sie zu sich. "Ich bin Elaine. Du bist meine Vergangenheit." Sie geht in die Küche, nimmt sich ein Brötchen und einen Teller, stellt beides auf den Tisch und setzt sich.