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Elephantenmarsch
Heute morgen ist etwas Seltsames geschehen.
Ich stand vor dem Getränkeautomaten, warf eine zwei Euromünze in den Schlitz, und klimpernd fiel sie durch.
Ich wiederholte den Vorgang mehrmals, rieb die Münze sogar über die Vorderseite des Automatens, obwohl ich genau weiß, dass dies Aberglaube ist.
Dennoch: Sie wurde nicht angenommen, landete jedesmal im Wechselgeldschacht.
Nebenbei las ich wie immer den Satz, der auf dem kleinen Zettel steht, den jemand vor ein paar Monaten angebracht hat.
Münzen langsam einschieben
Ich kenne diese Worte auswendig, erfasse sie jeden Tag mehrmals; beiläufig.
Und schlagartig wurde mir bewusst: Ihren Sinn habe ich bis jetzt nie verstanden.
Eine wichtige Besprechung, ich war spät dran, in Eile, habe mich schneller bewegt als sonst. Unbewusst.
Heute morgen habe ich die Münze nicht langsam eingeschoben, sondern in Hektik durch den Schlitz gedrückt.
Wie kann es sein, dass man das Offensichtlichste übersieht?
Trotz des mir bekannten Zettels, ist seine Botschaft vollständig an mir vorübergegangen. Ich habe gleich an einen Defekt des Automatens gedacht.
Dann versuchte ich es langsam, mit Zeit, die ich nicht hatte ... und es funktionierte.
Den ganzen Tag konnte ich an nichts anderes mehr denken. Während der Besprechung war ich kaum anwesend. In der Kantine wählte ich nicht das Menü aus, das ich eigentlich haben wollte.
Ich vergaß Rita, die Frau an der Telefonzentrale, zu grüßen.
Wie viele Details übersieht man, auch wenn der Blick auf sie gerichtet ist?
Mir kam ein Gedanke.
Die kleine Pflanze auf meinem Schreibtisch, der Tischkalender von 2004, den ich nicht weggeworfen habe, und auf dem Notizen stehen, deren Sinn mir entfallen ist.
Die unterste Schublade des Schreibtisches öffne ich nie, da ich sie nicht benötige. Der zerfledderte Zettelblock, aus gelbem Papier.
Alle diese Dinge sind präsent, und doch wieder nicht.
Die Brautöne der Pflanze sind für mich zur Normalität geworden. Vor heute morgen wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie krank sein könnte. Auf dem Kalender ist unser Hochzeitstag angekreuzt. Ich sehe das X jeden Tag, und habe es bislang dennoch nicht in den neuen Kalendern gesetzt.
Die gelben Zettel ... seit wir das Notizprogramm eingebunden habe, nutze ich sie nicht mehr. Sie gehören zum Inventar, die Sätze auf ihnen - obwohl durch meine eigene Handschrift geprägt - ergeben keinen Sinn. Ich kann sie nicht einordnen. Erst heute ist mir das bewusst geworden. Als wenn es kein Gestern gäbe.
Ich öffne die unterste Schublade und betrachte den Plüschelephanten.
Meine Tochter hat ihn mir geschenkt, damit ich im Büro an sie denken kann, wenn die Arbeit zuviel wird.
Da liegt er, seit langem, unentdeckt und bedeutungslos.
Kann man sich einbilden, ein routiniertes Leben zu führen, und dabei die Routine über die eigentlichen Details stellen, die das Leben ausmachen sollten?
Was weiß ich über mich, meine Frau, meine Tochter?
Vielleicht könnten sie Schatten sein, von denen ich denke, ihren Fall gelernt zu haben, ohne dabei an die Dinge zu denken, die Schatten werfen.
"Kannst du das gleich noch kurz kontrollieren?"
Jasmin reichte mir am Nachmittag einige Bestellungen von Kunden, mit denen es seit längerem Probleme gibt. Ich musste in der Buchhaltung anrufen.
Als sie ging, drehte sie sich kurz zu mir um und lächelte. Das tut sie immer.
Warum eigentlich?
Sie ist sehr breit gebaut, ziemlich dick.
Möglicherweise, ging es mir durch den Kopf, macht sie das, um festzustellen, ob hinter ihrem Rücken über sie gelacht wird.
Diese Erkenntnis traf mich so unverhofft, dass mir fast die Tränen gekommen wären.
Was ich immer für eine nette Art gehalten habe, könnte Angst sein.
Mir kam das nervöse Daumendrehen vom Produktionsleiter in den Sinn. Auch wenn ich bei der Besprechung kaum aufgepasst hatte, so entging mir das nie.
Es ist seine Art. Dieser Mensch ist eben unstetig, und er geht oft auf die Toilette.
Warum eigentlich?
Sandra kommt gerade nach Hause.
"Nabend Schatz", sagt sie.
Sie will schon nach oben, aber ich halte sie sanft am Arm fest.
"Neue Jacke", frage ich.
Sie lacht.
"Die habe ich schon seit Ostern, aber netter Versuch. Irgendwas passiert?"
Ich schüttel den Kopf.
"Nein. Ich schaue bloß. Gut siehst du aus. Ich mag diesen Leberfleck auf deiner Stirn."
"Komplimente solltest du noch lernen."
"Glaub´ mir, ich lerne sie gerade, und das gerade war ein ernst gemeintes."
Sie verschränkt die Arme in den Hüften.
"Hast du mir was zu sagen?"
Jetzt nicke ich.
"Ich habe den Plüschelephanten mitgebracht. Er gehört nicht in die untere Schublade. Weißt du, dieser Leberfleck gefällt mir wirklich, jetzt, wo ich ihn richtig sehe."