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Eloi, Eloi, lema sabachtani?
Vater, welcher Sünde habe ich mich schuldig gemacht, dass du deinen eigenen Sohn derart bestrafst? Womit habe ich deine Ungnade verdient, deinen Zorn herauf beschworen?
In dieser, meiner schwersten Stunde, rufe ich dich verzweifelt, über die Berge und Täler dieser verfluchten Erde. Und dabei ist mir bewusst, dass mein Klagen dich nicht erreichen wird. Du bist kalt, Vater, so kalt. Warst nicht du es der mich lehrte, gütig zu sein? Mein Herz verzehrt sich nach jenen glücklicheren Tagen, als wir uns so nahe standen, wie nur ein Vater sein eigen Fleisch und Blut lieben kann.
Und doch hast du mich verstoßen und in die tiefsten Abgründe menschlicher Höllen verbannt.
Ich versprach dir, ein guter Sohn zu sein und jeden Tag meines Lebens Zeugnis jener Taten abzulegen, die in deinem Namen geschehen sollten. War ich deiner nicht würdig genug? Sprach ich den Suchenden, den Leidenden, den Einsamen nicht genug des Trostes zu, um dein Herz mit Liebe zu füllen? Oh Vater, all der Schmerz den ich nun erdulde ist nachgerade köstlich wie Honig, vergleiche ich ihn mit den Qualen, die mir deine abweisende Haltung zufügt.
Die Pein meines Fleisches lässt dich gleichgültig; erkennst du denn nicht, dass ich mich nach deinem Trost sehne? Sei mir ein Vater und ich werde mit deinem Namen auf meinen blutgetränkten Lippen glücklich sterben.
Siehst du mein Blut, das in die Erde deines Landes sickert? Siehst du, wie gierig der karge Boden es aufsaugt, wie ein Dürstender klares Quellwasser? Ich hoffe, dass die Frucht meines Lebens auf deinem Acker erblühen und dich mit Freude erfüllen wird. Und ich hoffe, dass man sich meiner als jenen Sohn entsinnen wird, der seinem grollenden Vater niemals gram war und ihm in den letzten Augenblicken seines kurzen Lebens für die Momente der Liebe dankte. Jene Liebe, die wir den Menschen bringen wollten.
All diese Mühe darf nicht vergebens sein! Vater, wenn du mich liebst, lass meinen Tod nicht sinnentleert sein. Schenke jenen Trost, die Bitterkeit in ihren Herzen tragen; gib jenen Liebe, die von Hass beseelt sind; sei ihnen jener Vater, der du für mich warst, ehe du mich verstießest.
An diesem unheiligen Ort, den die Hebräer Golgota nennen, soll meine Lebensader durchtrennt werden. Ich beuge mich deinem Wunsch, Vater, auf dass ich jetzt sterbe und den Menschen Frieden bringe. Wie sehr liebe ich dich, und wie sehr fürchte ich dich doch!
Ich fühle meine Kräfte schwinden wie jene eines dir zu Ehren geopferten Lamms. Und seit Stunden stelle ich mir und dir die selbe Frage:
Eloi, Eloi, lema sabachtani?
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?