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- 04.03.2018
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Emil in der Badewanne
An einem fünften Dezember beschloss Emil, die Badewanne nicht mehr zu verlassen. Das lag nicht etwa an der Badewanne. Trotz ihrer vielen Dellen war es eine ausgesprochen schöne Badewanne aus weiß emailliertem Gusseisen, die auf goldfarbenen Löwenfüßen thronte. Und war sie durch das heiße Wasser erst einmal angewärmt, ließ es sich ganz prächtig darin aushalten. Aber wie gesagt, daran lag es nicht.
Es lag einerseits an dem Buch, dessen zerschlissener Buchdeckel aus Leder förmlich an Emils Händen klebte. Seit er es aufgeschlagen und angefangen hatte zu lesen, konnte er es nicht mehr zur Seite legen. Am allermeisten jedoch lag es an dem, was Mama Anna von sich gab, als sie zur Tür reinplatzte.
»Jetzt komm aus der Wanne und putz verdammt nochmal endlich deine dreckigen Stiefel!«
Wenn Mama Anna geahnt hätte, was dieses ›Verdammt nochmal endlich‹ nach sich ziehen würde, hätte sie wohl lieber dreimal kräftig mit den Zähnen geknirscht, als auch nur einen Piep rauszulassen. Aber so ist das mit Worten, die auf Reisen geschickt werden. Manche entfalten Flügel und flattern ziellos durch den Raum, bis sie ungehört verhallen. Andere zünden einen Raketenantrieb sobald sie den Mund verlassen und finden zielsicher das nächstbeste Ohr. Dort schrauben sie sich durch den Gehörgang in die graue Masse dahinter, haken sich fest und setzen ihre Ladung ab.
Gesagt ist gesagt, es gibt keinen Wortkescher, der sie vor dem Ohr einfängt und keinen Supermagneten, mit dem sie sich zurückholen lassen, wenn sie einmal gelandet sind. Das alles wusste Mama Anna theoretisch, aber mit Theorien ist das bekanntlich so eine Sache …
Emil legte das Buch weg und hielt die Luft an, bevor er mit dem Kopf unter Wasser sank. Als er auftauchte, war Mama Anna gegangen. Er dachte ganz fest an den verflixten Stiefel, den er absolut nicht putzen wollte – so fest, bis sein großer Zeh weh tat. Er dachte daran, wie es wäre, den verflixten Stiefel in hohem Bogen aus dem Fenster zu treten, ihm hinterherzuschreien und die Flugbahn zu verfolgen, bis er nicht mehr wäre als ein schwarzer Punkt vor der Sonne. Danach fühlte er sich besser, auch weil es sich so wirklich angefühlt hatte. Emil las weiter.
Goliat, der alte Riesenwels, schubberte über den schlammigen Grund des Orinocos. Heute traute sich kein Wasservogel in seine Nähe und auch kein leichtsinniger Affe ließ sich von einem tiefen Ast über das Wasser hängen. Schade einerseits, dachte Goliat, andererseits hatte er beides erst letzte Woche gefressen. Hunger verspürte er deshalb keinen, nur den üblichen Appetit, denn so ein Piraiba ist für einen Happen zwischendurch immer zu haben.
Kleine Schatten zogen über die Oberfläche. Der Wels reckte den Kopf aus dem Wasser und schmatze einmal laut. Ein Schwarm Papageien zog vorbei, schnell waren es nur noch dunkle Punkte vor dem gleißenden Himmelsrund.
Er tauchte ab und hielt mit gleichmäßigen Schlägen seiner Schwanzflosse gegen die Strömung – die einfachste Art, den Tag ohne große Anstrengung zu verbringen. Goliat beschloss zu warten, bis sich die Nacht über das Wasser legte, denn in der Dunkelheit war es einfacher zu jagen. Bis dahin würde er sich die Stunden mit Dösen vertreiben oder zum Bootssteg schwimmen und nachschauen, ob die Flussfischer Reste ihres Fangs ins braune Wasser warfen.
Kleine bis mittelgroße Fische tummelten sich dort und waren so beschäftigt mit Fressen, dass ihm sicherlich der eine oder andere vors Maul schwamm. Und was sprach gegen einen zufälligen Gelegenheitsschnapp?
Und wenn es damit nichts wurde, ließ sich doch das ein oder andere Gerücht aufschnappen. Irgendwer hatte immer einen Flusspiratenschatz gefunden, einen alten Eisenhut der Spanier oder eine Goldkette der Inkas. Meist war an diesen Gerüchten nichts dran, wenn man dahinter schwamm, meistens – bis auf das eine Mal.
Als er weiter darüber nachdachte, fand er die Aussicht auf neue Gerüchte zunehmend vielversprechender als einen verdösten Tag am schlammigen Grund des Stroms. Auf dem Weg zum Bootssteg dachte er über dieses eine Mal nach, als es wahr gewesen war.
Außer ihm wusste niemand davon, denn den Barsch, der mit seinem Fund prahlte, hatte er kurzerhand verspeist. Es war überraschend einfach gewesen. Mithilfe der Beschreibung des Barschs hatte er tatsächlich etwas gefunden. Eine modrige eisenbeschlagene Holzkiste.
Seitdem war er reich. – Vermutlich. – Vielleicht. – Er wusste es nicht, … weil er die Kiste mit Flossen nicht öffnen konnte.
Jedoch schmeckte das Wasser, das er durch die Kiemen drückte, in der Nähe der Kiste schon sehr nach alten Golddublonen. Nicht dass sich dadurch sein Leben verändert hätte, die Gelegenheiten zum Goldausgeben waren unter Wasser nur theoretisch vorhanden und mit Theorien ist das bekanntlich so eine Sache … Dennoch fühlte er sich als Hüter eines richtigen Schatzes. Und Schatzhüter zu sein war für einen alten Wels auf dem Grund des Orinocos ein erhebendes Gefühl.
Über ihm schlug etwas hart auf den Wasserspiegel. Es sank dicht an seinem Kopf vorbei zum Grund und beendete schlagartig seine Dublonenträume. So schnell wie das Geschoss ins Wasser eintauchte, musste es vom Himmel gefallen sein. Goliats Herz pochte bis zu den Kiemen. Vorsichtig schwamm er näher und schaute sich den Fremdkörper an. Es war ein nicht allzu großer Schnürstiefel aus Leder. Dreckklumpen klebten an seinen Sohlen. Wo zum Hecht kam dieser Stiefel her?
Emil legte das Buch auf den emaillierten Wannenrand. Die Münze auf dem Buchdeckel war dunkel angelaufen. Wenn er genau hinschaute, konnte er einen Totenkopf mit Helm erkennen. Das Buch selbst roch alt und muffig, doch das störte Emil herzlich wenig. Weder Mama Anna noch Fritze wussten, dass er es in dem Versteck unter der Badewanne gefunden hatte. In Oma Idas Haus, das sie erst vor wenigen Wochen bezogen hatten, türmte sich allerlei Krempel, gerade auf dem Dachboden gab es noch Berge alter Dinge zu entdecken. Von ihren früheren Reisen durch die ganze Welt hatte Oma Ida viele Dinge mitgebracht, die sich in allen Ecken des Hauses stapelten. Der alte Schinken in seinen Händen war jedoch der bislang größte Fund. Und das nicht nur wegen der Münze auf dem Einband.
Emil kreuzte die Arme vor der schmalen Brust und tauchte ab. Er spürte selbst ein wenig Dublonenfieber, versuchte sich vorzustellen, wie Goldwasser schmeckte und hatte doch nur Seife auf der Zunge. Diese verflixten Stiefel ließen ihn nicht los! Jetzt las er sogar im Buch darüber. Und das erinnerte ihn an das blöde Stiefelputzen, das er überhaupt nicht mochte.
Unter Wasser übte er ein NEIN!, das mit jeder Wiederholung strenger wurde, bis es selbst Piranhas, sofern welche in der Badewanne gewesen wären, kräftig Angst gemacht hätte.
Unter Wasser streng zu blubbern bringt sicherlich beeindruckende Vorteile im Gespräch mit Fischen. Es hat jedoch auch den gewaltigen Nachteil, dass es noch einmal wiederholt werden muss, wenn die eigene Mutter erneut vor der Badewanne steht. Vor allem, wenn sie nicht allein von dem Stiefel faselt, sondern ihm diesmal sogar den Finger in seine linke Schulter bohrt.
Was Emil in diesem Moment vergaß: Dass ein strenges NEIN! oberhalb des Wasserspiegels noch sehr viel lauter ist, als wenn man unter Wasser Fische anbrüllt, die zudem meistens gar nicht da sind.
Jeder einzelne Buchstabe war eine Minirakete, zwei flogen links, zwei rechts herum in die graue Materie zwischen Mama Annas Ohren. Dort trafen sie mit einem gewaltigen Knall aufeinander. Und dieser Knall zuckte durch gespannte Nervenleitungen durch Mama Annas Arm hinab. An ihrer rechten Hand, die Emils Wange traf, trat der Knall schließlich wieder an die Oberfläche.
So in etwa hatte er sich den Schlag eines Zitteraals vorzustellen, dachte Emil noch. Dann fiel ihm vor Schreck die Kinnlade in den steifen Badeschaum, den er gerade erst mühsam mit dem harten Strahl der Prickelbrause und einer amtlichen Menge türkisen Badesalzes hergestellt hatte.
Was er dann tat, hätte er besser gelassen, denn für manche Taten gelten ähnliche Regeln wie für Worte. Und die heiße Prickelbrause mitten in Mama Annas Gesicht zu halten, war fraglos eine der größten denkbaren Raketen.
Am Bootssteg war heute wenig los. Ein warmer Regen prasselte auf die Planken des Stegs und die Fischer hatten es eilig, ihren Fang an Land zu bringen. Für die wenigen Fische dort fiel kaum etwas ab, sie blieben hungrig und wachsam. Möglicherweise waren sie das auch, weil das Wasser heute besonders warm war, unerklärlicherweise. Zudem war Goliat als Raubfisch nicht alleine.
Ein alter Zitteraal zog seine Runden und wartete auf unvorsichtige Beute, die ihm nahe genug schwamm, um angezittert zu werden. Goliat hielt gebührenden Abstand, weil er wusste, wie wenig Spaß eine Berührung des Aals mit sich bringen würde. Dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, etwas Neues zu hören. Und Zitteraale waren nun mal dafür bekannt, keinen Mist zu erzählen. A: hatten sie das nicht nötig, B: passte das nicht zu ihrem Charakter und C: hatte sowieso jeder Respekt vor ihnen. Und vor diesem Exemplar, das mächtig unter Strom stand, besonders viel.
»Heyho, Voltaire, alte Taschenlampe, alles gut in deinem fauligen Brackwasser?«
»Goliat, du ranziger Gammelfisch, welch … unangenehme Überraschung. Hoffst du wieder auf leichte Beute, damit du deine ollen Silbergräten nicht unnötig strapazierst?«
Natürlich wussten beide, wie ein richtiges Gespräch unter Raubfischen zu laufen hatte. Furchtlos, frech und auf Flossenhöhe, getreu des Kodexes. Und doch durften es beide nicht übertreiben. Doch davon waren sie heute noch ein gutes Stück entfernt. Wie gesagt, Goliat war neugierig.
»Muss nicht, auf die mageren Hungerlappen hier bin ich nicht sonderlich scharf.«
Goliat tat betont gelangweilt. »Aber falls du irgendwas gehört hast …«
Voltaire grinste schief, was sein mächtiges Maul merkwürdig verknautschte, wodurch er nicht unbedingt hübscher wurde. Er wusste A: Welse waren besonders neugierig, B: passte das zu ihrem Charakter und C: Je älter sie wurden, desto schlimmer wurde das.
Voltaire kaute noch ein wenig auf seinen verknautschten Lippen, um Goliat auf die Folter zu spannen. »Tatsächlich habe ich etwas gehört« blubberte er so leise er konnte und spuckte in aller Seelenruhe einige unnötige Luftblasen aus.
»Wir haben einen Eindringling hier – einen unsichtbaren.«
»Heißt was?«
»Jemand schnüffelt in unseren Angelegenheiten herum.«
Goliat schwamm im Kreis und spürte hinein in die Dunkelheit. »Wie kann er das tun, ohne dass wir ihn bemerken?«
»Weiß ich nicht – noch nicht, aber es ist jemand hier und schaut zu. Ein jemand, den wir nicht sehen.«
Emil schlug das Buch zu. Als er beim Weglegen die Münze berührte, spürte er ein Britzeln im Finger. Als würde Voltaire ihm durch das Buch einen leichten Stromstoß verpassen. Sein Herz pochte. Was zum Teufel … Erst der Stiefel und jetzt das. Konnte er gemeint sein? Falls das so war, wie konnte Voltaire von ihm wissen? Eigentlich hätte Emil aus der Wanne steigen und das Buch weglegen sollen, am besten wieder in das Versteck, wo er es gefunden hatte. Und es für immer vergessen.
Doch ein gesagtes Nein bleibt ein Nein, vor allem, wenn es durch eine amtliche Ohrfeige am Verschwinden gehindert wird. So blieb ihm nur, das Buch vorsichtig auf den verdellten Wannenrand zu legen und erneut abzutauchen.
Der Nikolaus machte dieses Jahr einen Bogen um die Badewanne, nicht aber um Emils anderen Stiefel, was Emil erst von seinem jüngeren Bruder Fritze erfuhr, als der laut schmatzend seine Schokolade aufaß. Am nächsten Morgen, noch bevor Mama Anna aufgestanden war, pflanzte er sich rücklehns mit Emils Stiefel in der Hand an den Türrahmen, gerade so außerhalb Emils Reichweite. Der Fritze war zwar oft ein Lackel, aber dafür, wie er Emil am besten piesacken konnte, hatte er ein feines Näschen.
»Wie lange der Emil wohl da drinne bleiben will?«, fragte er die Wand, stierte Löcher in die Luft und grinste.
»Wüsste nicht, was dich das angeht«, antwortete Emil. Er war ziemlich gerädert von der Nacht. Nachdem das Wasser abgelaufen war, hatte das große Zittern begonnen. Und auch wenn er den Bademantel vom Haken geangelt und sich mit Handtüchern zugedeckt hatte, war so eine freistehende Gusswanne nach einer ganzen Nacht darin einfach fürchterlich kalt und verflucht unbequem.
»Da bist du ja, Emilchen …« Der Fritze tat überrascht. »Weißt du, dieses Jahr ist die Schokolade besonders lecker. Wirklich schaaade, dass du die nicht essen willst.«
Emilchen sagte Mama Anna oft, meistens mit einem Ach davor und einem Ausrufezeichen dahinter. Das jedoch, fand Emil, gab dem jüngeren Bruder nicht das Recht, es Mama Anna gleich zu tun.
Es war tatsächlich das erste Mal, dass der Fritze sich das traute. Vermutlich fantasierte Fritze die Badewanne als ovalen Käfig und den Emil darin als exotisches Wesen, das nicht gefüttert werden dürfe. Und in seiner Käfig-Fantasie konnte das darin gefangene Tier ihm nichts anhaben. Natürlich nicht.
Doch genau so, wie manche Affen aufdringliche Besucher mit Futter oder Verdautem bewerfen, gelang es auch Emil, den Fritze durch das Peitschen eines klitschnassen Handtuchzipfels mitten auf die Nase von seinem Irrglauben zu befreien. Und diesmal war es keine Rakete, sondern berechtigte Notwehr, fand Emil.
Fritze allerdings sah das anders und wehrte sich mit einem schrillen wie sinnlosen Geschrei seiner schokoladenverschmierten Schnute, durch das sich beinahe die Flurtapeten von den Wänden abrollten. Beide Hände auf die Nase gepresst sprang er auf und lief durch die Tür.
Die Ohrenschmerzen nahmen ab, als Fritze im Sauseschritt um die Ecke bog. Klopfen an der dritten Tür rechts, das übliche Gepetze bei Mama Anna.
Zurück blieb ein halb gefüllter Stiefel mit Orangenduft, dessen Inhalt ein gesundes Frühstück übrigließ – nun da die Schokolade herausgegessen war. Erstaunlich, fand Emil, wie gut ein Brausekopf mit Brauseschlauch daran als Angel für halbvolle Stiefel dienen konnte.
Als er gerade in einen prallen Orangenschnitz biss, fiel sein Blick auf das Buch. Ein Spritzer Orangensaft war auf dem Buchdeckel gelandet. Er wischte ihn ab. Beim Streichen über die Münze meinte er ein leises Knispeln zu hören. Die Münze hatte einen matten Glanz angenommen und der Totenkopf hatte nicht mehr ganz so tiefe Augenlöcher.
Einbildung, versuchte er sich zu einzureden, was nicht so ganz klappte. Siedend heiß fiel ihm Voltaire ein und sein Verdacht. Aber wie konnte bitteschön er gemeint sein? Unmöglich er. Es musste sich um jemand anders handeln, einen Fischerjungen vielleicht, der übermütig im Orinoco herumstapfte! Ob der wohl Schnürstiefel tragen würde?
Emil fischte noch einige Handtücher aus dem Regal. Eines rollte er zusammen und legte es unter seinen Nacken. Mit den restlichen deckte er sich zu. Dann nahm er das Buch vom Badewannenrand, schlug es auf und las dort weiter, wo er am Abend zuvor aufgehört hatte. Unter seinen Fingern raschelten die groben Seiten.
»Das ist doch nicht das Einzige, was du gehört hast, alter Stromer?«, fragte Goliat.
»Ich habe es nicht gehört, ich nehme es auf mit meinen Sinnen, genauso wie den zarten Duft nach Orangen, der heute Morgen über dem Wasser schwebt. Spüren und hören ist ein Unterschied, sollte selbst ein Schlammtrampel wie du wissen, nicht wahr? Obwohl …, wenn du den ganzen Tag lang mit dem Kopf im Matsch steckst, vielleicht nicht ...«
Goliat wusste, es war an ihm, weiter zu fragen. Niemand im großen Orinoco – samt all seiner Zuflüsse – war so sensibel wie Voltaire, und vor allem so gut informiert.
»Was hast du noch, mein Lieber?«
Die Antwort fiel jedoch anders aus als erwartet.
»Goliat, du dümpelnder Kadaver, glaubst du wirklich, ich gebe meine Geheimnisse preis, ohne die geringste Gegenleistung?« Der Zitteraal schwamm ein Stück weit weg. Goliat folgte mit einem leichten Schlag seiner Schwanzflosse.
»Was könnte ich schon wissen, was du nicht weißt?«, blubberte Goliat.
»Nun, ich erinnere mich an einen gewissen Barsch, der schneller gefressen wurde, als er GOLD sagen konnte und du warst seltsamerweise der Letzte, den er getroffen hat.«
»Ich hatte Hunger und keine Zeit für ein Gespräch.«
Schnell schlug Goliat mit allen Flossen, um Voltaire auszuweichen, der sich umgedreht hatte. Langsam trieb der Zitteraal auf ihn zu, bis seine ausdruckslosen Augen unangenehm dicht vor ihm standen.
»Wenn du mich auf die Flosse nehmen willst, mein Lieber, musst du früher losschwimmen.«
Goliat schluckte. »Okay, kein Grund, so unter Strom zu stehen. Kann schon sein, dass er was gesagt hat, hab's wohl vergessen, das übliche Geschwafel halt.«
»Kann schon sein, kann schon sein, … dein Ernst?« Durch Voltaires Körper zuckte ein blauer Blitz. »Ich sage das nur einmal: Mich für dumm zu verkaufen, lieber Goliat, wäre ein wirklich böser Fehler.«
»Okay, alter Zitterlappen, du hast mich bei den Barteln. Ich sag dir, was er geblubbert hat, solange er noch konnte.«
»Ich bin ganz außerordentlich gespannt.«
»Er hat mir gesagt, dass er mir nie sagen wird, wo sein Schatz liegt.«
»Und deshalb hast du ihn gefressen?«
»Ohne die kleinste Schuppe übrig zu lassen.«
»Ach, Emilchen!«, sagte Mama Anna, als sie ins Bad kam. »Was denkst du dir nur dabei?«
Emil zog es vor, seine Nase weiter tief in das Buch zu stecken, denn seine Wange erinnerte noch den amtlichen Knall, der sich aus der flachen Hand entladen hatte. Deshalb hatte die Wange auch keine Lust, morgenfreundliche Worte zu formen. Und auch seine Zunge war zum Formen ebensolcher Worte von dem sauren Orangensaft noch zu betäubt, beschloss Emil. Das war natürlich Unsinn, denn in Wahrheit litt sie – jedoch nur was Entschuldigungen betraf – unter mittelschwerer Verstocktheit. Und Mama Anna sollte sich bitteschön zuerst entschuldigen.
Abgesehen davon hatte Emil eine Entscheidung getroffen: Die Wanne war sein neues Zuhause! Und er hatte nicht vor, seinen neuen Lebensraum in Frage stellen zu lassen. Eigentlich gab es nicht mehr viel zu sagen. Nicht jetzt.
»Geh einfach!« Emil rieb mit der Handfläche seine Wange, um Mama Anna zu erinnern.
Mit Erfolg, prompt schaute sie zu Boden.
»Ach, Emilchen! Es tut mir leid.« Mama Annas Zunge litt jedenfalls nicht unter Entschuldigungsverstockung und meistens reichte das aus, damit Emils Groll zu heißer Luft verpuffte – diesmal nicht.
»Ich bleibe hier drinnen und es gibt nichts, was du tun kannst, um das zu ändern!«
Für Emil war es nüchtern betrachtet eine Feststellung, was nichts daran änderte, dass es für Mama Anna die nächste Rakete war, auf die sie diesmal nicht mit zuckender Hand, sondern mit einer amtlichen Erregung der Stimmbänder reagierte.
»Oh, wenn du wüsstest! Es gibt eine Menge, was ich tun kann, damit du zur Vernunft kommst. Ich könnte die Feuerwehr …« Dabei blieb es.
Mama Anna drehte sich um und hielt den Knöchel des Zeigefingers an die Lippe. Das tat sie immer, wenn sie eigentlich direkt losheulen wollte. Mithilfe des Knöchels gelang es ihr, damit zu warten, bis sie die Tür zum Flur hinter sich geschlossen hatte.
Emil hasste es, wenn Mama Anna weinte und noch mehr, wenn sie von Vernunft sprach. ›Vernunft ist eine schwere Decke, die Fantasie erstickt‹. So hatte er das von Oma Ida gehört. Vernunft war ein grausiges Wort aus dem Land der Erwachsenen, dessen Grenze ab jetzt am Wannenrand verlief.
»Und ich kann ein Loch in die Wand brechen und mit der Wanne fortschwimmen!«, rief er Mama Annas Rücken hinterher und fand, das klang durchaus überzeugend.
Der Teil mit dem Fortschwimmen war nicht ganz so abwegig, weil am Ende des Gartens ein Gewässer entlangführte – ein kleiner Fluss oder großer Bach. Und der KleFlu-groBa mündete später in einen GroFlu, der noch später als Strom bezeichnet wurde und sehr viel später ins Meer floss. Aber dahin war bis jetzt nur Emils Fingerspitze gereist, wenn auch nur auf einer Karte und alleine. Dabei würde mindestens sein großer Zeh ebenso gern einmal ans Meer. Mit Wellenplatschen und In-den-Sand-stecken und bitteschön allem, was ein Zeh am Meer so tut, wenn er schon mal da ist.
Es galt also, die Entfernung zum KleFlu-groBa in der Badewanne zu überwinden. Er wusste, um es durch das Land der Erwachsenen zum Gewässer zu schaffen, musste er alles geben!
Emil angelte sich Mama Annas Bodylotion und schmierte damit dick das Vorderteil der Wanne ein. Mit dem Rest spritzte er zwei Spuren auf den Boden vor die Löwenfüße Richtung Fenster. Um das Fenster tat es Emil leid, denn das wirkte sehr intakt, auch wenn die Wand drumherum ziemlich mitgenommen ausschaute. Sie war voller Risse und eher notdürftig ausgebessert als grundstabil.
Die Wanne verfügte über einen Duschvorhang, der an einem Reifen unter der Decke hing. Den riss er kurzerhand mit Halterung aus der Decke. Putz fiel herab, gefolgt von einer grauen Staubwolke. Emil grinste schief. Staub würde zukünftig Mama Annas kleinstes Problem sein – ohne Emil, ohne Badewanne, dafür jedoch mit amtlichem Loch in der Wand.
Er steckte das Buch in seinen Bademantel aus dickem Frotteestoff, den er wiederum in ein verhältnismäßig trockenes Strandlaken und den Duschvorhang wickelte. Alle übrigen Handtücher warf er hinaus auf den Boden. Außerdem beschloss Emil, ein nasser Stiefel sei besser als keiner und schlüpfte hinein. Dann war er soweit.
Er ließ Wasser und Badesalz in die Wanne, so heiß und türkis er es eben aushielt, und sorgte dafür, dass die schreckliche Vernunft draußen blieb. Leise Zweifel, die als kalter Luftzug über den Wannenrand hinwegstrichen, wurden sogleich unter Bergen von Seifenschaum erstickt. Damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen.
Emil hielt das Päckchen an seine Brust und drückte so stark die Daumen, bis auch die Fingerspitze glühte, die schon einmal alleine am Meer gewesen war. Er dachte an Goliat und Voltaire und einen Dublonenschatz, der auf dem Grund des Orinocos darauf wartete, von jemand gehoben zu werden, der keine Flossen hatte.
Jemand wie ihm? – Vermutlich? – Vielleicht? – Er wusste es nicht.
Jedoch wusste er sehr genau, was er mit den Dublonen anfangen würde. Jetzt, da feststand, dass er die Wanne nicht mehr verlassen würde, wurden einige kostspielige Umbauten notwendig, die weder er, noch Fritze, noch Mama Anna ohne einen Schatz je würden bezahlen können.
Emil dachte an einen Handtuchzipfel, der auf einer Rotznase landet und einen Zitterschlag, der dasselbe auf einer Wange tut und ließ einen sehr heißen und sehr türkisen Schrei aus seiner Kehle, der vor Entschlossenheit nur so triefte.
Was Emil nicht mitbekam, weil er ganz mit Schreien beschäftigt war: Der Schrei drang durch drei Stofflagen hindurch bis zu dem Buch. Auf dessen Deckel hatte daraufhin eine alte Münze das Glimmen angefangen. Eine Münze mit nicht mehr ganz so leeren Augenhöhlen.
Goliat und Voltaire zuckten zusammen und glubschten einander mit großen Augen an. Der alte Wels setzte an zu einem selten dämlichen ›Hast du das gehört?‹, konnte es jedoch im letzten Moment herunterschlucken. Heraus stahl sich stattdessen ein blaffender, etwas kieksender Unterwasserrülpser, den Voltaire zum Anlass nahm, vor Schreck blau aufzuzucken. Darüber war Goliat sehr froh, denn gemäß dem Codex gab es nur wenig Schlimmeres, als selten dämliche Fragen zu stellen und solch ein Rülpser war ein willkommener wie rettender Ausweg.
Goliat bekam eine Idee davon, was Voltaire meinte, als er von dem unsichtbaren Eindringling sprach. Sein Seitenlinienorgan kribbelte ebenfalls. Noch nie hatte er etwas so Lautes gespürt. Selbst die großen Schiffe stromabwärts verursachten nicht solche Erschütterungen.
Was er außerdem spürte, war eine amtliche Sorge um seinen Schatz und das dringende Bedürfnis, danach zu schauen. Doch vorher musste er Voltaire möglichst unauffällig loswerden. Goliat gab sich also große Mühe, nach dem rettenden Rülpser maximal gelangweilt zu wirken, was nach seiner maximalen Neugier noch vor wenigen Minuten nicht gerade einfach war.
»Ich spür gar nichts, weder einen Orangenduft, noch fühle ich mich beobachtet, da bin ich nicht so versalzen wie du alte Schillerlocke«, gluckerte Goliat und zuckte mit den Flossen. »Und für den lauten Knall gibt es bestimmt eine Erklärung, die du gerade nicht kapierst.«
Auch für den Stiefel, der aus dem Himmel fiel, gab es die nicht, dachte Goliat. Schnell schluckte er den Gedanken hinunter, bevor er ungewollt sein Maul erreichen konnte. Natürlich durfte er Voltaire nichts davon erzählen.
»Ist das so, mein Lieber?«, fragte Voltaire und schürzte die Lippen. Als er sich umdrehte und Goliat in die Augen schaute, zuckten zwei blaue Blitze über seine Seiten.
»Das ist wirklich erstaunlich, machst hier einen auf abgestumpfter Blindfisch. Schlamm färbt ab aufs Hirn, wer hätte das gedacht … Na schön, dann werde ich der Sache mal alleine auf den Grund schwimmen.« Mit langsamem Flossenschlag trieb Voltaire flussabwärts, der vermeintlichen Ursache der Erschütterung entgegen. Ruhig und bestimmt, ohne den Kopf zu drehen und ohne ein weiteres Mal zu zucken.
»Der hat ja komplett Stromausfall«, murmelte Goliat leise, kleine Bläschen perlten aus seinem Maul. Er wunderte sich ein wenig, wie einfach es gewesen war, Voltaire loszuwerden. Er schwamm noch einige Schlangenlinien um die Pfähle des Stegs und scheuchte aus Spaß Schwärme von kleineren Fischen durch die Schatten der Boote. Dann schwamm er in die Flussmitte, buddelte sich in den Bodensatz und hielt still. Mit aller Kraft spürte er hinein in die Tiefe des Wassers. Nichts, kein weiterer Knall, kein neuer Stiefel, kein Voltaire, kein Orangengeschmack, das Wasser war braun und angenehm langweilig.
Gemächlich schwamm Goliat Richtung Ufer. Mit kleinen Flossenschlägen arbeitete er sich flussaufwärts und blieb unauffällig im Schatten der Uferbäume, wo die Strömung schwach blieb. Immer wieder hielt er inne und fühlte mit seinem Seitenlinienorgan in den Fluss hinein. Er spürte nur den trägen Nachmittag, unter dessen heißer Sonne sich der dunkle Fluss bedächtig durch den Urwald wälzte.
Am anderen Ufer folgte ihm ein Schatten, der sich immer dann wegduckte, wenn Goliat die Umgebung absuchte. Der Schatten gehörte zu einem Raubfisch mit amtlicher Erfahrung darin, seiner Beute so erfolgreich wie unauffällig zu folgen.
Solange die Wirkung der Entschlossenheit anhielt, schlitterte die Wanne übers Grün und kam schließlich mit einem riesigen Schwapp zum Stillstand.
Als Emil das restliche Wasser abließ, trieben vereinzelte Seifenblasen über die schillernde Pfütze auf dem Rasen, als würden winzige Käseglocken Schlittschuh laufen.
Natürlich tat es Emil leid um das wannenförmige Loch in der Hauswand, doch ebenso natürlich war es unvermeidbar, weil es anders nun einmal nicht gegangen wäre.
Emil beschloss: Wenn er wiederkam, würde er mit zwei oder drei Dublonen eine amtliche Terrassentüre bezahlen und dort einbauen lassen.
Ebenso leid tat es ihm um den vorderen Wannenrand, dem der Durchbruch eine verdötschte Stupsnase verliehen hatte. Wie Voltaires Schnute, dachte Emil. Er peilte durch die Vertiefung im Dötsch. Zum KleFlu-groBa fehlten noch gute zwanzig Meter und die Wanne bewegte sich trotz Seifenblasenpfütze und heftigem Getrampel aufseiten Emils keinen Mucks weiter.
Durch das Loch in der Wand schaute Mama Anna und hielt sich die Hand vor den Mund. Im Vergleich zu ihrem Fingerknöchel war ihr Handrücken nicht ganz so wirkungsvoll im Aufhalten von Tränen. Deshalb musste sich Emil beeilen, zumal der Fritze mit roter Rotznase unter Mama Anna hervorgaffte und Anstalten unternahm, durch das Loch zu klettern.
»Liebe Löwenfüße, jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, sich in Bewegung zu setzen und mir auf dem Weg zum KleFlu-groBa behilflich zu sein.«
Das war das Äußerste, was seine Lippen imstande waren, an Freundlichkeit zu formulieren, da war Emil sicher. Und ein wenig wurde ihm auch schlecht von dem ungewohnten Gesülze. Doch es hatte Erfolg. Zuerst spürte er nur die Wärme des Pakets an seiner Brust, dann musste er scheunentorgroß gähnen. Als er den Mund wieder schloss, verfiel die Wanne mit einem Ruckeln in den typischen Trab watschelnder Goldpfoten, den Emil noch nicht kannte. Woher denn auch bitteschön?
Dementsprechend überrascht war er, wie schnell die weiße Emailleschüssel über den Rasen zockelte und beeilte sich, den schwarzen Stöpsel zurück an seinen Platz zu drücken. Gerade rechtzeitig. Zum Glück watschelten die Löwenfüße selbst dann weiter, als sich fünf Handbreit wackeliges Wasser unter dem Wannenboden befanden und sorgten durch das fortwährende Treten für enormen Antrieb. Es blieb gerade noch Zeit, dem Lackel namens Fritze eine lange Nase zu zeigen und Mama Anna ein letztes Mal zuzuwinken, schon waren sie hinter den Bäumen verschwunden.
Für einen kurzen Moment wurde Emil sogar schlechter als von dem Gesülze, dann war auch das vorbei.
Im Grunde kann so eine Badewannenfahrt eine lustige Angelegenheit sein für – sagen wir mal – eine Viertelstunde. Selbst an einem verflixten Nikolaustag ohne Schokolade, an dem mit einem Mal alles anders ist. Danach beginnt es, eine neue Wirklichkeit zu werden und diese Wirklichkeit bringt gewisse Herausforderungen mit sich, wie Emil mit den kommenden Viertelstunden feststellte.
Schon in der zweiten Viertelstunde wurde ihm richtig kalt, was niemand ernsthaft erstaunen sollte, der an einem zwar sonnigen aber sechsten Dezember halbnackt in einer selbstpaddelnden Badewanne auf einem KleFlu-groBa dahintreibt.
Emil rubbelte sich mit dem einigermaßen trockenen Strandlaken ab und zog den dicken Frottee-Bademantel über. Zumindest für den linken Fuß hatte er einen – zwar nassen aber immerhin – Stiefel. Dass die Sonne schien, half ein wenig, auch wenn sie kaum mehr wärmte. Und gegen den Hunger half ablenkungsweise das Buch, das eingewickelt in so viel Hülle absolut trocken geblieben war.
Merkwürdig nur, dass der Bademantel an einer Stelle ganz schwarz geworden war. Und komisch, dachte Emil, wirklich sehr komisch, dass die Dublone auf dem Buchdeckel allein durch das Einwickeln in den Bademantel jetzt das Glänzen angefangen hatte. Aus der Tiefe der Löcher erwuchsen dem Totenkopf eine Nase und zwei Pupillen, die vorher nicht dagewesen waren. Oder zumindest hatte er sie nicht funkeln gesehen.
Goliat genoss das klarere Wasser aus dem Zufluss, aus dem je nach Regen ein kleiner Fluss oder ein großer Bach wurde. Abermals ließ er sich auf den Grund sinken und verharrte. Erst als er sicher war, dass ihm niemand folgte, schwamm er in den Seitenlauf hinein.
Knapp über dem Wasser flogen Kormorane und Reiher ihre Bahnen. Ihre Schatten jagten über Schwärme kleiner Fische, die hektisch auseinanderstieben. War es Einbildung oder schmeckte das Wasser schon hier nach Dublonen? Das Ziehen in den Kiemen war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er hier richtig war.
Die Vorfreude war kaum auszuhalten, das Schwimmen gegen den Wasserlauf war alles andere als anstrengend. Im Gegenteil, er fühlte sich so stark zu der Schatzkiste hingezogen, dass er die Bewegung seiner Flossen kaum spürte. Er schoss durch das Wasser wie ein junger Hai, hechtete vorbei an Steinen und Ästen voller Algen, sprang über Hindernisse und klatschte eine Breitseite auf das Gewässer, dass es nur so spritzte.
Goliat zählte die Windungen mit, zweimal rechts, dann links, eine große Schleife und hinein in den glucksenden Bachlauf. Goliat schwamm jetzt vorsichtig. Manches Mal strichen seine Bauchflossen über den Grund. Noch etwas weniger Wasser und er würde nicht weiterschwimmen können.
Gerade nachdem er eine zu trockene Stelle mittels einiger Schwanzschläge hochgeschnellt war, weitete sich der Bachlauf und bildete ein Becken.
Am linken Ufer stand der Baumriese halb im Wasser. In einem Hohlraum unter seinen freiliegenden Wurzeln befand sich etwas, das dort nicht hingehörte. Ein Etwas, das sich vor Ewigkeiten dort verfangen hatte, als der Baum noch jung gewesen war. Dessen Geschmack zuerst den Barsch angelockt und später den Wels mit einem sehr speziellen Stolz erfüllt hatte, von dem er seitdem zehrte.
Voltaire folgte mühelos mit dem nötigen Abstand. Einmal den richtigen Abzweig genommen, hatte er alle Zeit der Welt. Goliat würde ihm nicht wegschwimmen können. Jeder weitere Flossenschlag würde ihn näher zum Dublonenschatz bringen und was dann geschah, blieb abzuwarten. Ein blauer Blitz zuckte über seine Seite als Vorbote dessen, was kommen sollte. Dumpfe Schläge drangen aus den Tiefen des Urwalds über das Wasser.
Emil wurde durch ein rhythmisches Klacken beim Lesen gestört. Es war sein linker Stiefel, der gegen die Wand der Badewanne schlug. Der Grund waren seine Beine, die so heftig zitterten, dass eine friedliche Nachbarschaft zwischen Stiefel und Wand schwierig bis unmöglich wurde.
Er verstand: Die Kälte war ein amtliches Problem. Nicht nur weil er nicht weiterlesen konnte. Er war so mit Zittern beschäftigt, dass er jetzt, wo er den Grund des Klackens kannte, an absolut nichts anderes mehr denken konnte.
Wie gerne wäre er schon dort, wo Papageien Richtung Sonne flogen, bis sie nur noch kleine schwarze Punkte waren. Und wo ein alter Wels nur darauf zu warten schien, dass ihm jemand half, eine sehr alte Kiste mit einem Goldschatz zu öffnen.
Ob Fritzes rote Nase immer noch pochte? Stand Mama Anna noch immer an dem badewannenförmigen Loch in der Mauer und hielt den Handrücken vor den Mund? Vermutlich. – Vielleicht. – Er wusste es nicht …
Die Münze auf dem Buchrücken funkelte wie neu. Mit einem Finger strich Emil darüber, erfühlte die Buchstaben, die er nicht verstand und fuhr über den wunderlich behelmten Totenkopf in der Mitte. Er wirkte seltsam belebt.
Schon erstaunlich, was ein bisschen Wunschsülze bewirken kann, dachte Emil, bevor er seine rechte Hand darauflegte. Die Wärme drang in seine Haut. Emil schloss die Augen und beschloss, es sei an der Zeit, es erneut zu versuchen.
Früher hatte Wünschen nie geholfen, nicht als Papa gegangen war und auch nicht als Oma Ida nicht mehr aufstehen wollte. Doch das war bevor ein verflixter und dreckiger Stiefel in einem uralten Buch vom Himmel gefallen war.
Emil vergaß Fritze, er vergaß Voltaire für einen Moment, teilweise vergaß er sogar Mama Anna und dachte nur noch an Goliat, der um eine Kiste voller Dublonen kreiste, die er alleine nicht öffnen konnte. Weil er verdammt nochmal endlich jemand ohne Flossen brauchte.
Emil schaute auf seine Hand, die auf der Dublone lag, und fasste den festen Entschluss, dieser jemand zu sein. Er atmete ein, so tief er konnte, und spie seinen Wunsch mit einem einzigen Atemzug aus.
»Liebe goldene Löwenfüße, jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, mir bitteschön freundlicherweise mit amtlichem Strampeln auf dem Weg zum Orinoco behilflich zu sein.«
Hatte Emil gedacht, seine Freundlichkeit hätte schon beim ersten Wunsch das Äußerste des Möglichen erreicht, wurde er von seiner Fähigkeit zu triefendem Gesülze selbst überrumpelt. Doch diese Selbstüberrumpelung hatte ihren Preis. Denn zu dem Hungergefühl, dass schon seit einigen Viertelstunden in Emils Magen herumtigerte, gesellte sich nun ein amtlicher Achterbahnmagen. Als würde seine Körpermitte – und zwar nur die Mitte – im Sturzflug ins Kellergeschoss sausen. Das war nur mit Luft anhalten und Augen zuhalten auszuhalten.
Emil war so mit verschiedensten Formen des Haltens beschäftigt, dass ihm zunächst entging, wie die Löwenfüße das Rudern anfingen. Erst als das laute Flappen in ein amtliches Dröhnen überging und die verdötschte Badewannenschnute sich hoch aus dem Wasser erhob, wurde das Aushalten vom Staunen weit geöffneter Augen abgelöst. Schnell packte Emil das Buch in das nicht mehr ganz trockene Strandlaken, wickelte den Duschvorhang darum und klemmte es zwischen die Beine. Dann legte er sich flach gegen den Wannenboden und hielt mit beiden Händen den Rand, um nicht hinauszufallen. Erstaunlich, fand Emil, wie zuverlässig die Vernunft draußen blieb und kalt an seinen Fingern vorbeistrich. Dann verließ ihn die Kraft und er schlief ein.
Als er erwachte, flogen Motorboote am Wannenrand vorbei, die auf dem GroFlu zu stehen schienen. Schneller und schneller schoss die Wanne voran. Bald waren die Ufer nur noch als bunte Streifen zu erkennen, große Schiffe standen wie dunkle schattige Blöcke im Strom.
Emil spinkste hinunter zu den Goldpfoten. Sie bewegten sich so schnell, dass sie durchsichtig geworden waren. An ihrer Stelle befanden sich zwei goldene Spiralnebel. Das Wasser schoss in einer riesigen Fontäne nach hinten. Zugleich breitete sich auf seinem Rücken eine schöne Wärme aus, die daher rührte, dass die verdötschte Stupsnase durch den amtlichen Fahrtwind das Glühen angefangen hatte.
Emil fiel die Kinnlade auf den dicken Frotteestoff des Bademantels. Das Spucken riesiger Wasserfontänen durch unsichtbare Goldpfoten konnte er ebenso wenig kennen, wie das Glühen von halbtoten Münzen und Badewannenvorderkanten. Woher denn auch bitteschön?
Emils großer rechter Zeh wollte unbedingt ans Meer, wo die Fingerspitze schon einmal alleine gewesen war. Als er mit einiger Verrenkung die unbestiefelte Fußspitze ins Wasser hielt, zog er gleich eine amtliche Furche, die den großen Zeh sehr freute, bis er blau anlief.
Ein Grinsen hielt Einzug in Emils Gesicht und verließ es nicht mehr. Nicht als die Streifen links und rechts der Badewanne wie blaue Kometenschweife vorbeizischten. Und auch nicht als nach einer Menge blauer Viertelstunden ein sattes Dunkelgrün die Streifen ablöste. Erst als er einzelne Bäume ausmachen konnte, wurde das Grinsen in Emils Gesicht abgelöst von einem ungläubigen Gaffen, zu dem passend auch seine Zungenspitze aus dem Mund herausflutschte.
Aus dem Dröhnen wurde ein lauteres Flappen, dann ein leiseres. Die Badewanne sank in die Waagerechte zurück. Durch die Hitze war die Verdötschung zu einer amtlichen Spitze verschmolzen, was Emil sogleich feststellte als er sich aufsetzte und umdrehte. Sein Vorrat an Erstaunen war fürs Erste aufgebraucht und so überlegte Emil nur, dass so eine angespitzte Badewanne bestimmt nützlicher sei als eine mit Dötschnase. Vor allem, wenn es noch einmal darum ging, eine Wand zu durchbrechen. Und davon gab es schließlich jede Menge auf der Welt.
Da es mit Staunen für den Moment genug war, zog Emil das Paket zwischen den Beinen hervor und wickelte das Buch aus Vorhang und Strandlaken. Dort wo das Laken die Münze berührt hatte, hatte die Hitze ein großes Loch gefressen, dessen Rand leise vor sich hin glomm.
Die Münze strahlte im Tageslicht, als wollte sie kundtun: Hier gehöre ich hin!
Ein kleines weniges Bisschen fühlte Emil das auch. Jetzt musste er nur noch Goliat finden. Emil zuckte die Schultern, warf das qualmende Tuch ohne Bedauern über Bord und schlug das Buch auf. Über dem Rauch, der in der Luft hing, stieg ein leichter Orangenduft aus dem Buch empor. Hinein mischte sich etwas türkises Badesalz und ein Hauch Mama Anna, der kaum auszuhalten war.
Von verkohlten Tüchern einmal abgesehen war sein Vorrat an Bedauern erstaunlich gut gefüllt. Weniger gut gefüllt war das Loch in seinem Magen und das galt es jetzt sehr dringend zu ändern.
Vor einiger Zeit war eine Dublone durch eine Ritze zwischen den Brettern der schwarzen Holzkiste in den Schlamm gesunken, wo Goliat sie beim Gründeln gefunden hatte. Seitdem saugte er sie bei jedem Besuch aus dem Versteck unter dem Stein. Er behielt sie im Maul, schluckte sie ein wenig in den Rachen hinein, spie sie wieder aus und knabberte mit weichen Lippen an der scharfen Kante. Für den Fisch das Höchste aller geschuppten Träume.
Goliat schwamm zu dem Versteck. Gerade wollte er die Dublone aus dem Schlamm ziehen, da spürte er es wieder, das Ziehen im Seitenlinienorgan. Es war deutlicher als je zuvor. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand folgte ihm und er wusste genau, wer dieser jemand war!
Der alte Wels dachte an den Fluss, der vertrocknete, weil er vor lauter Überschwang seine Quelle vergaß. Das würde ihm nicht geschehen. Er würde nicht vor lauter Dublonenstolz seine Herkunft vergessen. Er war ein Piraiba, ein vorsichtiger und erfolgreicher Jäger. Und er war jederzeit bereit, zu verteidigen, was ihm gehörte.
Goliat drückte sich in den Hohlraum unter den Wurzeln und rollte sich ein um ganz hineinzupassen. Mit den Brustflossen tätschelte er das schwarze Holz seiner Schatzkiste. Alles war an seinem Platz. Der Goldgeschmack war so intensiv, dass es ihm für einen Moment die Luft nahm. Goliat war sicher: Es gab keinen besseren Platz auf der Welt!
»Der Barsch hat dir also nie gesagt, wo der Schatz liegt?« Voltaire stand auf der anderen Seite der Wurzeln im Wasser. Goliat hatte ihn nicht gespürt. Obwohl er damit gerechnet hatte, schrak er zusammen.
»Mein alter Rollbraten, was soll jetzt nur werden? Sag du es mir!« Um seine gespielte Enttäuschung zu unterstreichen, wackelte er mit dem Kopf. Goliat rührte sich nicht von der Stelle. Er lag auf der Schatzkiste und wartete darauf, dass Voltaire seinen Kopf durch die Wurzeln steckte. Doch den Gefallen tat Voltaire ihm nicht. Der Zitteraal wartete auf den richtigen Moment um zuzuschlagen. Blaue Lichtblitze flackerten seine Seiten entlang.
»Mich anzulügen, lieber Goliat, war ein wirklich böser Fehler!«
Emil sah die roten Früchte schon von Weitem. Ihr Gewicht drückte den Ast, an dem sie hingen, herunter bis knapp über das Wasser. Tief genug und doch zu nah am Ufer, denn sie befanden sich in der Mitte des Stroms. Er würde daran vorbeitreiben.
Leider konnte Emil vor lauter Magenknurren nicht freundlich bitten. Zudem lief ihm das Wasser im Mund zusammen, was einen dahingesülzten Wunsch stark verwässert hätte.
Stattdessen zog er seinen linken Stiefel aus und benutzte ihn als Paddel. Das war wenig bis kaum erfolgreich, doch immerhin reichte es so für zwei Hand voll ergrabschter Früchte. Und war erst die haarige Schale abgeknibbelt, wartete innen eine glibschige weiße Kugel, die an einen Augapfel erinnerte.
Beim Schmatzen dachte Emil an Fritze. Der Lackel hätte demonstrativ den Finger in den Hals gesteckt und dazu so laut und eklig gewürgt, dass die Tapeten von den Wänden rollten. Mama Anna hingegen hätte Nase und Stirn ein wenig krausgezogen und ein leises »Ach Emilchen …« geseufzt.
Überflüssig zu erwähnen, dass das nach der Überquerung eines ganzen Weltmeeres ohne Proviant, also speziell und nur in diesem Augenblick, absolut die leckersten aller denkbaren Früchte waren.
Ebenso überflüssig zu sagen, dass ihm der letzte Bissen dennoch im Mund stecken blieb, als er seinen verflixten rechten Stiefel an der Badewanne vorbeitreiben sah. Emil versuchte, nach ihm zu greifen, doch der Arm war ein wenig zu kurz, was ihn nicht davon abhielt, es trotzdem mit erheblichem Schwung erneut zu versuchen.
In der Folge geschah eine Reihe recht ungewöhnlicher Dinge: Neben Emils rechtem Zeh machte ebenso der Rest von Emil samt Bademantel Bekanntschaft mit einem amtlichen GroFlu namens Orinoco. Und: Die Emailleschüssel schwamm umgehend eine langgezogene Kurve, um Emil wieder einzusammeln.
Nachdem Emil klitschnass wieder in die Badewanne geklettert war, streckte er einen Daumen hoch. Nicht, weil er das Klitschnasssein toll fand, sondern weil etwas festzuhalten blieb.
Erstens: die Wanne folgte ihm – eine aufregende Einzelheit! Das eröffnete Möglichkeiten. Er streckte den Zeigefinger dazu.
Zweitens: Eine neue Regel war geboren. Er konnte die Wanne verlassen und folgenlos zurückkehren – von zwei durchnässten und sauberen Stiefeln an den Füßen einmal abgesehen. Die Vernunft draußen konnte ihm jedenfalls nichts anhaben. Er streckte den Mittelfinger neben die anderen beiden.
Drittens: Es war so viel Orinoco in die Wanne geschwappt, dass sich die Buchseiten in einen pampigen Klumpen verwandelt hatten. Nur der lederne Einband mit der Dublone war unbeschädigt. Das schmale Gesicht unter dem Spanierhelm schaute ihn an. Das führte zum Ringfinger und zum wichtigsten Punkt.
Viertens: Egal wie die Geschichte vorher in dem Buch verfasst gewesen war, ab jetzt würde sie anders fortgeschrieben!
Emil zog den Bademantel aus, hängte ihn als blaue Fahne über die nun angespitze ehemalige Dötschnase und wickelte sich in den Duschvorhang. Trotz der Hitze des gleißenden Sonnenrunds fröstelte ihm. Bevor ihm die Augen zufielen, beschloss er mit einem Blick auf seinen kleinen Finger, dass es vorläufig besser kein Fünftens gab.
Anfangs fand Fritze es gut, alleine bei Mama Anna zu sein und wünschte sich, das möge möglichst lange anhalten. Er fasste an seine Nase und meinte, noch den Schlag des Handtuchzipfels zu erinnern. Lebhaft hatte er den Moment vor Augen, an dem Emil mit der Badewanne durch den Garten schlitterte und hinter den Bäumen verschwand. Vor das Loch in der Wand vom Badezimmer hatte Mama Anna dicke grüne Müllsäcke geklebt. Das Tageslicht, das durch die Folie schimmerte, tauchte das ganze Badezimmer in Unterwasserlicht – vor allem da es kein anderes Fenster mehr gab.
Sollte der blöde Emil samt Badewanne dahin verschwinden, wo der Pfeffer wächst und dortbleiben für immer und ewig! Schon bevor er das in seinem Kopf fertig geflucht hatte, hielt ein Grummeln Einzug in seinen Bauch. Ein Grummeln, das sich wie ein Rülpser durch den Hals nach oben rumorte. Und als es oben angekommen war, sagte Fritze leise: Nein, bitte nicht für immer und schon gar nicht für ewig ...
Fritze dachte an die alte verdötschte Badewanne mit den goldenen Löwenfüßen. Er stellte sich vor, wie toll das wäre, mit Emil zusammen darin zu sitzen, solange sie nicht zu weit hinausfuhren und der Ausflug nicht zu lange dauern würde. Wie es Emil wohl gerade erging? Egal wo er war und was er gerade machte, Emil würde zurechtkommen. Denn was Emil einmal beschloss, das war amtlich und galt. Das machte vieles einfacher.
Fritze ahnte: die Beherztheit, die in Emil wohnte, würde ihn nicht mehr verlassen. Und diese Beherztheit würde Emil an Orte führen, die er selbst nie zu Gesicht bekommen würde. Doch ganz im Stillen war Fritze froh, dass er das nicht musste.
Mama Anna hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt bis hin zur Wasserpolizei – ohne Erfolg, Emil blieb verschwunden. Das Einzige, das Mama Anna in Erfahrung bringen konnte, war eine Reihe unerklärlicher Erscheinungen auf dem Strom Richtung Meer. Bootsführer und Kapitäne von Binnenschiffen hatten von großen Wasserfontänen und einem weißen Blitz berichtet, der an ihnen vorbeizischte und zwei goldfarbene Spiralnebel hinter sich herzog.
Es war passiert, sie hatte es kommen sehen und doch nicht verhindern können. In Oma Idas Haus zu ziehen, war ein großer Fehler gewesen, das war im Nachhinein klar. Doch die Versuchung des eigenen Hauses für sie und die Kinder war zu groß gewesen. Mama Anna schüttelte mit dem Kopf. Es war anders gekommen.
Wie ein Virus hatte Emil etwas befallen, dass ihn unerklärliche Dinge tun ließ, wie einst auch Ida. Sie selbst wurde vom Virus verschont, dank ihrer Vernunft, die alles unterdrückte, was mit Absonderlichkeiten aller Art zu tun hatte. Und derlei war in diesem Haus zur Genüge geschehen. Coco loco, wie Oma Ida selbst lachend feststellte, bevor sie wieder für Monate verschwand.
Mama Anna hatte Ida nie in der Badewanne gesehen, weil sie nicht mehr dort wohnte, als alles begann. Doch die Folgen im Badezimmer waren unübersehbar. Das Loch in der Wand zum Garten war von Handwerkern mit einem Fenster und roten Backsteinen ausgemauert worden. Ein Ritual, mit dem Ida die Endgültigkeit des Abschieds besiegeln wollte. Bis zum nächsten Mal. Bei jedem Heimkommen hatte Ida die Wand wieder eingerissen und nach Antritt der nächsten Reise zumauern lassen.
Mama Anna hasste diese Art Verrücktheit, weil sie alles hasste, was keinen praktischen Sinn ergab. Sie hatte es bei Oma Ida gesehen und jetzt auch bei Emil. Hatten die Flausen einmal das Ruder übernommen, war die Vernunft in den Wind geschlagen. Danach begann die Fantasie eine neue Wirklichkeit zu werden und jede neue Wirklichkeit bringt gewisse Herausforderungen mit sich, die es zu meistern gilt. Das wusste Mama Anna theoretisch und doch ist das mit den Theorien bekanntlich eine Sache …
Emil streckte den kleinen Finger in die Luft. Fünftens: Er musste Goliat aufspüren und das würde ohne das Buch ganz und gar nicht einfach. Denn ob das Wünschen nur mit Dublone und ohne Buch funktionierte, war noch nicht raus. Emil wusste nicht, wie genau das mit dem Wünschen funktionierte, woher denn auch bitteschön? Wie oft konnte er das tun? Gab es eine nötige Erholungspause? Musste er hinreichend verzweifelt sein? Vermutlich. – Vielleicht. – Er wusste es nicht!
Emil legte die Reste des Buchs auf den Duschvorhang und trennte die Münze aus dem aufgeweichten Buchdeckel. Flach und funkelnd lag sie auf seinem Handteller, bedeckte ihn zu einem großen Teil. Der ehemalige Totenkopf mit Spanierhelm war nun eindeutig zu einem Gesicht geworden. Einem Gesicht, das er kannte. Es wollte ihm nur absolut nicht einfallen.
Emil war ganz schlecht im Leutemerken. Und wenn er jemand erkannte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wusste, wie der- oder diejenige hieß. Dennoch wusste er: Dieses Gesicht musste er einfach kennen!
Er drehte die Münze um und sah zum ersten Mal auf die Rückseite. Ihn traf beinahe ein Schlag. Dort in die Rückseite war eine Badewanne eingeritzt, eine geschwungene mit Löwenfüßen wie die, in der er gerade saß. Hastig drehte er die Münze zurück zur Vorderseite. Er kannte diesen Glanz in den Augen: Oma Ida! Das war Oma Idas Gesicht, nur in jünger. Deshalb hatte er sie nicht sofort erkannt.
Mit einem Mal ergab alles Sinn. Ihre monatelangen Reisen um die ganze Welt als sie noch jünger war. Der ganze Krempel aus fremden Ländern, den sie mit nach Hause brachte. Die provisorisch vermauerte Wand zum Garten hin. Und auch, dass Mama Anna nicht über Oma Ida reden wollte, weil sie meinte, sie wäre nicht ganz richtig im Kopf! Coco Loco hatte Oma Ida einmal gesagt und den Finger an der Schläfe kreisen lassen. Dann hatte sie laut gelacht und gesagt, dass die Vernunft manchmal wie eine schwere Decke sei, die sämtliche Fantasie erstickt. Und dass ihr Geist lieber atmen würde und er das irgendwann verstehen würde. Dazu hatte sie gezwinkert.
Emil fühlte die Kraft der Dublone, die in seiner Hand britzelte und lächelte. Oma Ida hatte ihm die ganze Zeit geholfen und sie würde es wieder tun, solange er so freundlich bat wie er nur konnte.
»Liebe und sehr verehrte Goldpfoten, jetzt wäre bitteschön wirklich genau der richtige Zeitpunkt mir bei meiner Suche nach Goliat und seinem Schatz behilflich zu sein und ich wäre für jegliche Unterstützung extrem dankbar.«
Eine triefendere Absonderung von Freundlichkeit hatte die Welt noch nie gehört. Das stand für Emil fest. Gleich nach der Feststellung wurde er wegen des riesigen Monstergesülzes und der damit einhergehenden Selbsterschreckung ohnmächtig.
Als er wach wurde, robbten die Goldpfoten schaufelnd durch den Dschungel und schoben die Badewanne unaufhörlich vorwärts. Eine plattgedrückte Schneise blieb zurück, gesäumt von abgerissenen Lianen und Blätterwolken, die herabrieselten. Gerade wunderte sich Emil noch, wie heiß die Münze in seiner Hand geworden war und warum er sich trotzdem nicht verbrannte, da hob die Wanne ab und landete mit einem fetten Monsterplatsch in einem Wasserbecken.
Die Goldpfoten hörten auf zu schlagen und die Wanne sank mit den Füßen auf den flachen Grund. Sie waren am Ziel.
In das Wasser ragte ein wirklich sehr großer Urwaldriese mit gewaltigen Wurzeln hinein. Der Urwaldriese! Und wie Emil wusste, hatte sich im Hohlraum zwischen diesen Wurzeln etwas verfangen, das dort nicht hingehörte. Etwas, dessen Inhalt darauf wartete, von jemand ans Tageslicht gefördert zu werden, der keine Flossen besaß.
Ihm! – Nicht vermutlich! – Nicht vielleicht! – So sicher wie nur was!
Wo zum Hecht nur waren Goliat und Voltaire?
Langsam setzte sich der Schlamm. Goliat starrte auf goldene Pfoten, die erschreckend knapp vor den Wurzeln im Wasser standen. An den Pfoten hing etwas großes Weißes, das nach oben aus dem Wasser ragen musste. Gerade dachte er darüber nach, ob es dicke weiße Pumas mit mutierten Pfoten gab, da platschten zwei Stiefel wie Steine ins Wasser. Schwere Stiefel aus dickem Leder wie der eine, der ihm schon einmal aus heiterem Himmel beinahe auf den Kopf gefallen war. Doch in den Stiefeln steckten diesmal dünne Menschenbeine. Wo zum Hecht war Voltaire, wenn man ihn brauchte?
Emil hielt Oma Idas Dublone ganz fest, denn für das, was er zu sagen hatte, benötigte er jede Unterstützung, die er bekommen konnte.
»Wenn ich mich vorstellen darf ... Emil in der Badewanne.« Emil erschrak über das, was aus seinem Mund drang, denn er redete plötzlich wie ein Fisch. Statt Wörtern kamen Blasen zwischen seinen Lippen hervor und auch wenn er um die Bedeutung wusste, blieb es trotzdem ein Blubbern.
»Ich weiß gemäß des Kodex der Raubfische gibt es nur wenig Schlimmeres, als selten dämliche Fragen zu stellen, aber genau das werde ich jetzt tun.« Ein einziger blubbernder Wasserfall.
Goliat hatte noch nie zuvor einen Menschen reden hören. Alles was aus menschlichen Mündern drang, hatte bisher wie das Knacken trockener Äste geklungen. Doch der Junge mit den schweren Lederstiefeln, der redete so, dass er es hören konnte. Was auch immer ein ›Emil in der Badewanne‹ war.
Emil spürte das Glühen von Oma Idas Dublone in seiner Hand. Es lief gut, er war auf dem richtigen Weg.
»Ich habe in einem Buch, das es leider nicht mehr gibt, gelesen, dass du ein Schatzhüter bist. Der Hüter einer Kiste voller Gold, die du alleine mit deinen Flossen nicht öffnen kannst. Ich weiß nicht, wie die Geschichte in dem Buch weiterging, aber Viertens: Hey, sie wird ab jetzt neu geschrieben!« Emil reckte den Ringfinger hoch. »Mein Vorschlag ist ganz einfach: Ich helfe dir, die Kiste zu öffnen und wenn mir das gelingt, teilen wir das Gold.«
Goliat schwamm aus seinem Versteck, kreiste einmal um die Badewanne und blieb vor Emil stehen. Der Junge vor ihm hatte außer einer Badewanne, zweier schwerer Stiefel und einem meerblauen Bademantel eine beeindruckende Beherztheit. Das leuchtete aus ihm heraus. Ebenso deutlich war, dass er der unsichtbare Eindringling war, die Ursache für das Kribbeln der Seitenlinienorgane. Der Junge bedeutete eine mögliche Gefahr oder eine einmalige Chance! Er musste herausfinden, ob ihm zu trauen war.
»Lass mich deine Münze schmecken«, blubberte Goliat.
Emil bückte sich und hielt dem Wels Oma Idas Münze vors Maul. Goliat saugte sie ein und knabberte daran. Einen Moment zappelte der Wels aufgeregt und schlug mit den Flossen, dann wurde er ruhiger und spuckte die Dublone zurück in Emils Hand.
Wenn etwas, das man sich lange ersehnt hat, mit einem Mal so zum Greifen nahe ist, dass es wahr werden könnte, öffnet sich eine neue Weggabelung. Und entweder bleibt danach alles so wie es ist oder alles wird anders. Er hörte, wie der Wels sich auf Fischsprech räusperte. »Ich nehme deinen Vorschlag an!«
Emils Beherztheit ließ ihn den Anders-Abzweig nehmen, er zögerte keine Sekunde lang.
So eine Kiste voller Gold ist auch unter Wasser verdammt schwer, stellte Emil fest, als er vergeblich versuchte, sie am Griff unter den Wurzeln herauszuziehen. Ohne Goliats Hilfe war da nichts zu machen. Gerade wollte er einen Satz mit Verdammt-nochmal-endlich rausblubbern, da wurde die Münze in seiner Hand ganz heiß. Emil biss sich auf die Zunge, dank Oma Ida war er gewarnt. Freundlich fragte er die Goldpfoten und ebenso freundlich blubbernd den Riesenwels und mit gemeinsamen Schieben und Ziehen gelangte die Kiste ans Tageslicht. Erfreulicherweise ließ sich der Deckel mit einem beherzten Stupser der Wannenvorderkante öffnen und zum Vorschein kam genau das, worauf alle gehofft hatten.
Oben auf den Dublonen lag ein goldener Spanierhelm. Damit schaufelte Emil die Hälfte der Dublonen aus der offenen Kiste in die Badewanne. Vorher hatte er kontrolliert, ob der schwarze Stöpsel fest an Ort und Stelle war.
bedeckten die Goldstücke den Boden mit einem matt glänzenden Mosaik aus Kreisen. Die andere Hälfte beließ er in Goliats deckelloser Schatzkiste und entfernte zusätzlich noch die oberen Bretter, damit der Riesenwels sich für ein amtliches Goldbad darauflegen konnte. Dann schob er den halben Schatz mit Goliats Schubkraft zurück in das Versteck unter den Wurzeln. Als alles Gold am rechten Fleck war, verabschiedeten sich beide gemäß Kodex frech, furchtlos und auf Augenhöhe.
»Mach's gut, Rotznase ... und behalte deine Stiefel in Zukunft bei dir!«
»Du auch, alte Schwimmblase, und wachsam bleiben!«
Ein letztes Hand-gegen-Flosse-Klatschen folgte und ein allerletztes Danke! von Emil. Goliat schwamm zwischen den Wurzeln hindurch und ließ sich gemächlich wie ein Drache auf seinem Gold nieder. Er schubberte auf den Dublonen, dass es nur so goldstaubte. Dublonenfieber war ein sehr angenehmes und ansteckendes Gefühl, stellte Emil fest. Vor allem, wenn die ersehnten Goldstücke einem offen zu Füßen lagen. Sie würden seine Zukunft vergolden.
Zuletzt setzte Emil den Spanierhelm auf und stieg in die Badewanne, wo er im Bug Platz nahm. Als er zum Abschied Goliat zuwinkte, wackelte der Spanierhelm auf seinem Kopf von Ohr zu Ohr, doch Emil beschloss, das sei keine Frage der Größe sondern lediglich eine Frage der Gewöhnung. Und was Emil beschlossen hatte, war bitteschön amtlich und galt.
Gerade wollten sie durch den Urwald aufbrechen, die erste Goldpfote hatte schon Land betreten, da zuckte ein Blitz durch das Metall. Die Wanne glühte kurz auf als hätte jemand einen Sonnenstrahl hineingeworfen. Voltaire! Der Zitteraal wollte das Gold nicht ziehen lassen und hatte der Badewanne einen elektrischen Schlag verpasst. Die Wanne vibrierte und an einigen Stellen platzte die Emaille ab, dann blieb sie still.
Emil wurde von dem Schlag heftig durchgeschüttelt, doch trotz aller Zitterei blieb seine Beherztheit in ihm und sollte ihn nie wieder verlassen. Sobald er ausgezittert hatte, richtete er den Helm auf seinem Kopf gerade und sprang mit beiden Stiefeln voran in das Wasser, als wären sie aus dem Himmel gefallen. In seiner geballten Faust lag Oma Idas Dublone.
Mit blubbernder Fischzunge sagte er: »Ach Voltaire, ich hätte dir ja einige Dublonen gegeben, wenn du nur freundlich gefragt hättest, aber so …« Er schloss die Augen, dachte an Mama Anna und das Loch in der Wand, für das er die Dublonen brauchte. Emil holte tief Luft und ließ einen sehr lauten und sehr wütenden Schrei aus seiner Kehle, der vor Entschlossenheit nur so triefte. Der Urwald hielt beeindruckt von so viel Entschlossenheit für einen Moment die Luft an, kein Vogel war zu hören, das Wasser stand spiegelglatt im Becken. Die Stille wurde gespenstisch.
Emil befürchtete schon, mitten im Urwald mit einer kaputten Badewanne gestrandet zu sein, da rappelten sich die Goldpfoten auf und streckten ihre Goldkrallen. Als er mit einem Bein über dem Wannenrand hing, fing auch Voltaire das Zappeln wieder an. Knapp unter der Oberfläche machte er sich bereit für den nächsten Angriff. Nicht mit Oma Idas Wanne! Blitzschnell drehte sie sich auf der Stelle und schnappte mit den Löwenkrallen nach Voltaire. Bevor der den nächsten Schlag setzen konnte, ergriff ihn die linke Vorderpfote und warf ihn in den Himmel, bis er nicht mehr war als ein winziger schwarzer Punkt vor der Sonne. Passend dazu krächzten einige Papageien, die sich empörten, was ein Fisch in ihren Lüften trieb. Und doch mussten sie neidlos anerkennen, dass Voltaire trotz seiner Flügellosigkeit erstaunlich weit fliegen konnte.
Fortan schipperte Emil in Oma Idas Wanne über alle sieben Weltmeere. In jeden Hafen kamen Menschen, um den Jungen mit dem etwas zu großen goldenen Spanierhelm zu sehen. Fast alle wollten Fotos mit ihm in der Badewanne schießen und Emil tat ihnen den Gefallen. Einige Vorwitzige schielten auf den Boden der Badewanne und versuchten einen Blick auf die Dublonen zu erhaschen – bis eine der Goldpfoten aus dem Wasser stieg und drohend zur Faust wurde. Er wusste, niemand würde sich mit ihm und den Löwenkrallen anlegen.
Viele von ihnen brachten Souvenirs mit, die sie dicht an dicht auf den Emaillerand stellten. Emil ließ es geschehen und lächelte dazu. Beim nächsten wilden Gepaddel würde der Großteil davon weggespült. Den Rest würde er über Bord werfen oder verschenken, denn er nahm nur mit, was er benötigte.
Er lernte, zu allen freundlich zu sein, Geduld zu bewahren und dosiert zu wünschen, damit ihm davon nicht schlecht wurde. Oma Idas Dublone trug er an einer Kette um den Hals. Ihr Gesicht auf der Münze hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Totenkopf. Manches Mal glaubte Emil zu sehen, wie Idas goldene Augen ihm zuzwinkerten. Meistens schob er das auf die Nachwirkungen von Voltaires elektrischem Schlag. Und wenn er das nicht tat, ahnte er wie es wirklich war.
Seine Entschuldigungsverstockung löste sich mit der Zeit auf, wie auch sein Arsenal an Wortraketen und Handtuchzipfelklatschern. Oma Ida sagte häufig, dass die Zeit sich um die Menschen kümmere. Emil begann zu verstehen, was sie damit gemeint haben könnte.
Pünktlich jedes Jahr Heiligabend lief er durch den neu angelegten Gartenkanal in den Badewannenhafen ein. Im Gepäck brachte er eine amtliche Menge Christstollen und so viele Weihnachtsmänner aus Schokolade mit, wie außer ihm und den Dublonen in die Wanne passten. Er fuhr durch das großzügig dimensionierte Doppeltor ins ehemalige Badezimmer, das jetzt ein halber Bootsschuppen war, und legte genau unter dem erneuerten Duschvorhang an. In seinem blauen Bademantel und den nun sauberen und trockenen Schnürstiefeln stieg er aus der Wanne und schwankte heftig auf dem festen Grund, wie es sicherlich alle selbsternannten Badewannenkapitäne tun, sobald sie an Land gehen.
Abgesehen davon brachte die kalte Vernunft Emil jedes Mal zum Frösteln, was er damit ausglich, dass er seine Geschichten mit gut dosierter Fantasie ausschmückte. Jede einzelne davon war eine glänzende Kugel am Weihnachtsbaum in Oma Idas Haus.
Emil verbrachte friedliche und fröhliche Weihnachtstage mit Fritze, aus dem der Lackel größtenteils herausgewachsen war, was nicht nur die Tapeten freute. Und natürlich mit Mama Anna, die sämtliche Verdammt-nochmal-endlichs und Ach-Emilchens! ebenso vergaß wie ihre Fingerknöchel und stattdessen einen rosigen Emilstolz auf den Wangen trug.
Pappsatt, die Münder mit Schokolade, Puderzucker und Bratensoße verschmiert, blinzelten sie einander zu und freuten sich darüber, dass sie für eine gewisse Zeit den Weg zueinander gefunden hatten.
Pünktlich um fünf vor zwölf am Silvesterabend setzte Emil den wackeligen Spanierhelm auf und ließ sich im Licht der bunten Raketen über den KleFlu-groBa in den GroFlu paddeln. Und später, wenn er mit rasenden Goldpfoten an stehenden Motorbooten vorbei in den ersten Morgen eines neuen Jahres düste, dann war er wieder genau dort, wo er hingehörte.