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- 04.08.2001
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Empfang
Der Himmel strahlt, obwohl er doch vor gerade einer halben Stunde noch dunkel war und mit Wolken verhangen.
Nun aber scheint die Sonne, Schwalben ziehen ihre übermütigen Bahnen über meinen Kopf hinweg, die Luft ist lau und es riecht nach Pflanzen – es ist Frühling.
Zuerst wollte ich hierher laufen, wollte bewusst auf das Autofahren verzichten und die Eindrücke des Weges mit allen Organen einsaugen in mich, verarbeiten und aufbewahren. Später dann, wenn ich dereinst den Augenblick vergessen hätte, würde ich jeden einzelnen Schritt aus der Erinnerung hervorholen, würde mir den Moment vor Augen halten und immer wieder hin- und herwenden; ich könnte sagen: Damals, da war das so und so, am Wegrand standen Blumen, das Wetter klärte auf und die Menschen lächelten mir zu. Aber ich musste mit dem Auto fahren, den Kinderwagen im Kofferraum.
Neben mir, die mächtige Kastanie mit dem imposanten Stamm, steht in voller Blüte und ihr Blätterdach, das direkt unter dem Himmel ausgebreitet scheint, reicht bis über die Straße auf die andere Seite. Der Verkehr fließt träge wie ein Fluss in der Mittagshitze. Ich ertappe mich beim Träumen, es scheint alles so still und friedlich.
Ein Paar hastet an mir vorbei, Mann und Frau. Wobei der Mann doppelt so alt scheint wie seine Begleiterin. Mit ihren jungen Jahren zerrt sie ihren Gefährten hinter sich her und er scheint alles andere als glücklich darüber.
Was seid ihr, denke ich bei mir, während ich den Beiden hinterher schaue. In welcher Beziehung steht ihr zueinander? Mann und Frau, Vater und Tochter? Oder gar Liebhaber und Geliebte? Alles ist möglich.
Und weshalb habt ihr es so furchtbar eilig?, überlege ich weiter. Seid ihr auf der Flucht oder verfolgt ihr gar selbst jemanden?
Was anderes als Bewegung ist das Leben selbst? Steter Fluss, ein ständiges Hin und Her, niemals Stillstand, das zeichnet das Dasein aus.
Eine Bewegung zum Höheren, der ständige Zug nach Mehr, nach größer, schöner. Eine Bewegung, beginnend mit der Geburt, hin zu dem einen einzigen Ziel.
Ein kleiner Junge steht plötzlich vor mir; ich hatte ihn gar nicht bemerkt in meinen Grübeleien. Er steht nur da und starrt mich an, ohne jeden Ausdruck in seinen Augen, ohne Regung, ohne Empfindung. Vielleicht ist eine gewisse Neugier in seinem Blick, diese dann aber nicht fordernd oder aufdringlich.
Einige Momente stehen wir uns so gegenüber, ich vergesse den Verkehr, die Bewegung um mich herum, habe nur das Kind im Blick.
Und dann muss ich an mein eigenes denken und muss lächeln. Der Junge lächelt zurück, fast scheint es, als sei er erleichtert. Er dreht sich um und geht davon.
Ich erwarte beinahe, dass er sich zurückwendet und mir noch einmal zulächelt. Aber das tut er nicht, er biegt um die nächste Ecke und ist verschwunden.
Fast übergangslos fällt mir ein Gedanke von heute morgen ein, als ich aufbrach hierher. Ich hatte mir vorgenommen, die Welt ein bisschen besser zu machen, noch ein wenig besser. Ich war voller Zuversicht, jede Regung war ein Aufbruch, und ich war mir sicher, dass ich Großes leisten konnte. Ich spürte, dass ich dazu gehörte, zu Allem.
Und plötzlich geschieht, weshalb ich hier bin: die schwere Tür des massigen Gebäudes gegenüber wird geöffnet. Mir stockt der Atem und ein ganz klein wenig geben meine Knie nach. Die Tür schwingt nach innen und heraus tritt blinzelnd ein älterer Mann. Du bist es nicht – ihr seid es nicht.
Der Mann ist nachlässig gekleidet und unsicher in seinen Bewegungen. Vorsichtig tritt er heraus.
Jetzt erkenne ich auch, dass er nicht wegen des Lichtes geblinzelt hat – seine Augen sind rotgeweint.
Ein schlechtes Gewissen überkommt mich. Wegen meines privaten Glücks und weil ich den Mann angestarrt habe. Unwillkürlich muss ich den Blick senken.
Aber auch das ist Leben! Der Rückschlag, das Unglück, die niederschmetternde Nachricht. Wie wären wir imstande, das Licht zu schätzen, wenn der Schatten uns unbekannt wäre.
Der Mann humpelt langsam davon und biegt um eben jene Ecke, hinter der gerade der kleine Junge verschwunden ist.
Das Gegenteil von Bewegung – Ruhe, Stagnation, bleischwerer Stillstand. Der Straßenverkehr kämpft sich langsam durch eine zähe Masse voran, quälend, beinahe ohne jedes Fortkommen.
Und dann wieder: Ein Schwarm Vögel spritzt hinter dem Haus hervor. Sie steigen hinauf und ihnen mit dem Blick zu folgen, ist schwierig. Sie sind übermütig in ihrem Tanz, sie jagen hin und her – ein ganzer Schwarm Schwalben und mittendrin, kein bisschen gemieden, eine Taube. Sie fliegen hinweg über meinen Kopf, verschwinden hinter dem Blätterdach, tauchen an ganz anderer Stelle wieder auf und beginnen ihr Spiel von Neuem. Es hat den Anschein, als zeigten sie Theater – nur für mich.
Und plötzlich scheint auch die Straße wieder voller Leben. Der Verkehr fließt, immer mehr Autos gleiten den Damm entlang. Es ist Mittagszeit und ich werde unruhig.
Da öffnet sich – kaum von mir beachtet – die Tür erneut – zaghaft, etwas unbeholfen, als traute sich derjenige, welcher dahinter steht und ins Freie will, nicht ans Tageslicht, als hätte er Scheu, die Welt zu betreten. Dann jedoch, mit einem Ruck, wird die Tür aufgerissen und darin stehst du, mit den Augen blinzelnd. Dieses Mal ist es aber tatsächlich wegen des Lichtes, deine Miene ist glücklich.
Und in deinem Arm hältst du sie – unsere Tochter. Du hältst sie ganz bedeckt, nur das kleine, frische Gesichtchen schaut heraus.
Du steigst vorsichtig die Treppe hinab und endlich löse ich mich aus der Erstarrung und gehe dir entgegen.
Willkommen im Leben, denke ich bei mir als ich die Straße überquere und dich schließlich umarme.
Euch schließlich umarme.