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Ende der Freiheit
Jetzt marschierten sie also wieder, die Gleichmacher und Draufhauer.
Sie sprachen von "Volkszorn" und "Revolution". Es war eine seltsame, dreckige Mischung aus links und rechts, aus Menschen die ein festgezurrtes Weltbild hatten und keinen Widerspruch duldeten. Sie kämpften für "Volk" oder "soziale Gerechtigkeit", gegen "Schmarotzer" oder "Perverse". Sie meinten alle, die nicht ins Schema passten. Wie damals. "Freiheit" war ihnen ein Kraus. In ihrem Weltbild gab es nur Sklaven und Sklavenhalter.
Sie ekelten sich vor allem, was sie nicht verstanden oder was anders war. Sie waren dumpf, glaubten an eine Weltverschwörung und hofften auf neue Zeiten. Er roch alte Zeiten, bei dem was sie sprachen, und fragte wann sie endlich lernen würden aus Stalingrad, Ausschwitz oder dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens. Wohl niemals.
An diesem Abend, das wusste er, war die Demokratie am Ende. Mal wieder. Er hatte nie zuvor einen solchen Tag miterlebt, aber er hatte in Geschichtsbüchern immer wieder darüber gelesen. Heute wäre er hautnah dabei, und es wäre das letzte, was er erleben würde. Er war zu sehr Demokrat, er hatte zuoft Kriminelle vor Gericht verteidigt, als dass er jetzt mit Gnade hätte rechnen können. Er hatte immer für einen menschlichen Staat gekämpft, für einen Staat, der sich nicht des Mordes und der Folter bediente, für einen Staat, der auch Mörder nicht umbrachte. Er hatte verloren. Schon vor drei Jahren waren die "Populären", wie sich selbst nannten, ins Parlament eingezogen. Sie hatten kurzen Prozess gemacht, und die anderen hatten sich ihnen gebeugt, hatten klein Bein gegeben.
Die Wiedereinführung der Todesstrafe hätte niemand der Bildungsbürger für möglich gehalten, aber es war soweit gekommen, und jetzt war die Demokratie ganz am Ende. An diesem Abend würden sie feiern, und sie würden alles zerstören, was so mühsam nach zwei Weltkriegen aufgebaut worden war.
Jeder, der einigermaßen bei Verstand war, hatte sich schon lange zuvor aus dem Staub gemacht, und auch er hatte mit dem Gedanken gespielt, nach Kanada auszuwandern. Aber er hatte immer gekämpft, aber ihm war klar, dass er Teil eines historischen Prozesses war, dass sie noch in 50 Jahren von dieser Machtergreifung reden würden. Er warf einen Blick auf die Zeitung vom heutigen Tag, vom 9. März 2011.
Es war fast genau 6 Jahre zuvor gewesen, als er zum neuen Vorsitzenden der Liberaldemokraten gewählt worden war. Was hatte er in dieser Zeit bewegt? Hatte er für seine Ideale kämpfen können? Hatte er etwas bewegt, bei den Menschen auf der Straße?
Er hatte versagt. Nicht, weil er seine eigenen Ideale verraten hatte, sondern weil er an ihnen festgehalten hatte. Er hatte die Muslime verteidigt, für ihn war Religionsfreiheit nicht nur ein Wort gewesen. Aber der Volkszorn war am Kochen, und die immer größere Armut hatte ihr Übriges getan. Er hatte sich gegen die Todesstrafe gestemmt, und dann doch verloren. Er hatte gegen den Gesetzentwurf zur "Verhinderung abweichenden Sexualpraktiken" gestimmt und verloren. Er hatte gegen die "Zwangsenteignungen der Reichen" gestimmt und eine historische Niederlage im Parlament erlitten.
Das es zuende gehen würde, das hatte er lange geahnt. Er schaltete den Fernseher ein. Auf CNN berichteten sie, die Stürmung des Kanzleramtes sei nur eine Frage der Zeit. "More than three million peoples are on the streets, here in Berlin. It's a frightening atmosphere, you know, Jim. If you ask me, it's only a matter of time."
Sie würden auch kommen, um ihn zu holen. Wenn nicht heute abend, dann morgen früh, wenn nicht morgen, dann übermorgen.
Er war zum "Volksverräter" erklärt worden, weil er an das Ideal der Freiheit geglaubt hatte, weil er sich der dumpfen braun-roten Meute nicht ergeben wollte. Er nahm noch einen Schluck vom Whisky, bevor er sich die Pistole an die Schläfe hielt und abdrückte.