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Ende gut
Jutta Ouwens
Ende gut
Der letzte Laut ihres Lebens war ein kleiner Seufzer.
Das Quäntchen Luft entwich ihren Lungen mit einem Anflug leisen Erstaunens, dann sank ihr Kopf seitlich nach vorn. Eine graue Strähne löste sich noch rasch aus dem Haarknoten und schaukelte kurz vor ihrer Wange, bevor sie zum Stillstand kam und der Tod seine Zeichnung begann.
Die junge Frau saß ihr bewegungslos gegenüber und hob den Blick nicht vom Buch, aus dem sie, wie an jedem Vormittag, vorgelesen hatte. Während ihre Netzhaut noch immer das Wort "Italienreise" abbildete, überschlugen sich ihre Gedanken und kämpften mit dem wild klopfenden Herzen um Gehör.
Großmutter war gerade gestorben, der Tod betrat den Raum.
Kaum wahrnehmbar, veränderte sich die Luft.
Eine Kühle, in der die letzten Lebensäußerungen ihrer Großmutter zerflossen, kroch in jeden Winkel.
Die Stille schmeckte süß.
Den Kopf noch gesenkt, schloss die Enkelin beide Augen, wischte ihre Netzhäute leer und klappte das Buch zu.
Ihr Herz beruhigte sich, die Gedanken sanken auf leichten Grund.
Sie fühlte keine Spur von Angst.
Dem Tod ins Auge sehen, kam ihr in den Sinn und langsam hob sie den Kopf.
Im Ohrensessel gegenüber saß eine Gestalt, die entfernt an ihre Großmutter erinnerte.
Die junge Frau betrachtete sie mit wachsendem Staunen. Das Gesicht spiegelte den Übergang in die Unerreichbarkeit, es schien bereits jetzt in eine Wachsschicht getaucht, die Augen starrten unter halbgeschlossenen Lidern auf den Teppich, als dächte Großmutter voller Befremdung darüber nach, warum sie jahrein jahraus auf ihm herumgelaufen war. Der Mund, zu einem kleinen Oval geöffnet, hatte die sanfte Überraschung des Todes eingefangen.
Beide Hände ruhten auf der Decke, die über ihren Beinen lag.
Wie glänzende kleine Berge standen die Hautfalten hervor, dazwischen bildeten unzählige Runzeln tiefe Täler. Die gewölbten Nägel erinnerten an den Panzer einer Echse.
Zum ersten Mal erschien der goldgefasste Bernsteinring der Enkelin wie ein Schmuckstück.
Sie hatte ihn immer als Teil der Großmutter gesehen, ein Leben lang hatte sie ihn getragen, doch erst jetzt schmückte er sie.
Die junge Frau beugte sich vor, um die ruhenden Hände zu streicheln. Die Kühle bildete vor der Toten einen dichten Schild, der sich bereitwillig durchdringen ließ, und die Enkelin stellte erstaunt fest, dass die Hände noch Wärme abgaben. Tastend zeichnete sie die Kontur der Hand nach, die der ähnelte, die so oft ihren Kopf gestreichelt hatte.
Als ihre Finger das Gesicht berührten, hatte sich die rundliche Wange in ein wächsernes Polster verwandelt, schwer und glatt.
Die Enkelin stand auf und kniete sich hin, direkt unter die Augen der alten Frau. Sie versuchte, diesen seltsam fernen Blick zu erforschen, doch die Tote lehnte jede Erreichbarkeit ab.
Ein heftiger Zorn wallte in der jungen Frau auf. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und fand die Großmutter zum ersten Mal in ihrem Leben arrogant.
Wie sie dasaß! Als habe sie nur noch Verachtung übrig für das tägliche Einerlei, das Hin- und Hergerenne auf dem abgenutzten Teppich. Nur, weil sie jetzt gestorben war, war das alles nicht mehr gut genug für sie!
Voller Empörung sah sie den Tod, der nachsichtig lächelnd hinter dem Ohrensessel stand und sanft den Kopf mit der schwarzen Kapuze schüttelte. Er hatte seine knöcherne Hand schützend auf die Schulter der Großmutter gelegt.
Das Bild verschwamm.
Als die weichtönenden Schläge der Standuhr nach einer Ewigkeit einsetzten, schmeckte die Luft plötzlich nach Staub und Kräutertee, nach Lavendelöl und Frühling.
Die Enkelin sah auf das goldglänzende Pendel und zählte elf Schläge.
Die Maisonne war in das Fenster gewandert und hüllte die Tote in ein letztes Strahlenkleid. Sie ließ es huldvoll geschehen.
Es ist Zeit für den zweiten Kaffee, dachte die junge Frau, legte ihrer Großmutter das Buch auf den Schoß und ging in die Küche.
Im Garten setzte sie sich unter den blühenden Kirschbaum, trank aus der angeschlagenen Steinguttasse und begrüßte die aufsteigenden Tränen.
Sie drehte sich um, sah den grauen Hinterkopf an der Seite des Ohrensessels lehnen und winkte ihm zaghaft.
Die Luft war schwer von Blütenduft und Abgasen, am wolkenlosen Himmel funkelte die Sonne und in der Ferne klingelte eine Straßenbahn.