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Endstation (Fassung 2)
Am Montag habe ich Herbert zum ersten Mal gesehen. Ich saß ganz hinten und konnte alles überblicken. Unter mir brummte der Motor und vorne stieg Herbert ein. Mit seiner alten Ledertasche in der Hand, zeigte er lächelnd sein Ticket vor und setzte sich neben Roswita. Ganz unscheinbar. Ich beobachtete ihn auch tatsächlich nicht weiter. Jeden Tag steigen auch ein paar Leute ein, die man nie wieder sieht. Ich dachte, Herbert wäre einer von ihnen.
Ich hatte mich geirrt.
Am Dienstag begann Herbert komisch zu werden. Ich sah ihn schon, bevor der Bus hielt. Ein wenig verträumt stand er da im morgendlichen Grau des Herbstes, eine Hand in der Jackentasche vergraben. Zwischen den Anderen fiel er gar nicht auf. Als der Bus vor ihnen hielt, drehten sie sich alle wie Magneten zur Tür des Fahrers. Hinten darf man nicht einsteigen.
Ich saß etwa in der Mitte, eine Reihe hinter Dirk, dem lustigen Dicken der Truppe. Als Herbert einstieg, beschlug seine Brille. Er blieb weit vorne stehen, stellte seine Ledertasche zwischen die Füsse und wischte mit einem Taschentuch die Feuchtigkeit von den Gläsern. Wie ein Maulwurf sah er aus. Blind und hilflos. Aber dann setzte er die Brille wieder auf, schaute sich ein wenig um und sah mich, wie ich ihn beobachtete.
Es zog mir kalt durch die Därme. Ich kam mir eigenartig ertappt vor und wollte schon wegsehen, aber dann passierte es: Herbert lächelte mich an. Nur ganz kurz. Aber ich hatte es gesehen. Schnell wog ich ein paar Reaktionsmöglichkeiten ab. Mit sowas rechnet ja keiner. Herbert hatte mich kalt erwischt. Ich nickte ihm zu und sah dann aus dem Fenster. Weitere Konfrontationen wollte ich an diesem Tag vermeiden. Zum Glück muss Herbert vor mir raus. Ich wusste das Lächeln nicht richtig zu deuten. Heute weiß ich es. Eine bittere Vorschau auf das, was noch kommen sollte.
Kurz bevor ich ausstieg fiel mir auf, dass neben dem Fenster der kleine Hammer fehlt, mit dem man in Notsituationen die Scheibe einschlägt.
In der Nacht zu Mittwoch schlief ich nicht besonders gut. Ich träumte schlecht. Herbert war auch in dem Traum.
Ich fahre jetzt seit sechs Jahren jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit. Zieht man Wochenenden, Urlaubs- und Krankheitstage ab, sind das im Jahr etwa 220 Tage. Fast jeden Tag davon sehe ich sie alle. Wenn ich einsteige, zeige ich Kuno meine Fahrkarte. Er ist sehr dick und riecht nach Rheumasalbe. Roswita hat langes schmutzig-blondes Haar und liest immer Groschenromane. Und Wong ist der dürre Asiate, dessen Alter ich nicht schätzen kann. Für die Blinde habe ich keinen Namen, aber sie arbeitet bestimmt in der Sonderschule, bei der sie immer aussteigt. Ich mag sie, sie hat sehr schöne Hände. Und sinnliche Lippen.
Ich habe noch nie mit einem von ihnen gesprochen. Nur Herberts Namen kenne ich. Weil er ihn mir gesagt hat.
Mittwoch ist Herbert auf die Barrikaden gegangen. Er stand bei der hinteren Tür, kaum fünf Meter von mir entfernt und betrachtete aufmerksam die vorbeiziehende Landschaft. Wenn die Sonne aufgeht, kann man auf den Feldern manchmal ein paar Rehe oder Hasen sehen. Scheinheiliger Dreckskerl! Ich hatte wie gesagt schlecht geschlafen und war deswegen nicht ganz bei der Sache. Bestimmt war das von ihm so geplant.
Erst als seine Haltestelle näherrückte, hab ich ihn wieder ins Visier genommen. Dann hielt der Bus, Kuno drückte den Knopf und während sich die Türen öffneten, drehte sich Herbert ein Stück zu mir und hob die Hand. Eine kleine Geste. Aber ich hatte verstanden. Wie weit wollte er noch gehen? Was wollte dieser Mensch nur von mir? Ich habe doch gar nichts! 59 Quadratmeter mit Südbalkon, na gut. Aber sonst? Kein schickes Auto, keine hübsche Frau, niemanden der "Papa" zu mir sagt.
Zu stehlen oder entführen gab´s also nichts. Ich war völlig ratlos und wurde langsam richtig nervös. Wozu sind Menschen fähig? Die Zeitungen sind voll davon!
Donnerstag war mein letzter Tag im Bus. Ich hatte ein paar Baldrian geschluckt und war extra früh schlafen gegangen. Nochmal sollte er mich nicht vor versammelter Mannschaft bloßstellen. Ich stand hinten bei der Tür und wartete. Und er kam. Zuerst sah es so aus, als wollte er bei Wong stehen bleiben, aber dann sah er mich zwischen all den Köpfen hindurch - und lächelte nochmal. Runde zwei war eröffnet. Ich war bereit.
Er hatte seine Tasche schon zwischen den Füßen abgestellt, aber als er mich sah, hob er sie wieder auf. Der Motor dröhnte leise, als der Bus anfuhr. Herbert bat sich hier und da durch, vorbei an Dirk und Roswita, hangelte sich wie ein Affe von Stange zu Stange, manövrierte seine Tasche geschickt um Kniee und an meiner Blinden vorbei. An der Stange wurde mir die Hand schwitzig und mein Puls pochte. "Was hat der vor, was hat der vor, was hat der vor?!" Meine Nackenhaare richteten sich auf.
Dann stand er vor mir. Ganz dicht. Er beugte sich runter, stellte seine Tasche ab und hielt mir die Hand hin.
»Hallo. Ich bin Herbert.«
Meine Pupillen weiteten sich, mir trat der Schweiß auf die Stirn, der Puls raste in meiner Brust. Entsetzen, wie ich es noch nie im Leben gespürt hatte. Plötzlich ging alles ganz schnell.
Hydraulisch schnaufen die Bremsen, eine Reflektion im Augenwinkel, die Türen gehen auf, zwischen mir und ihm noch immer die Hand. "Raus! Nur raus!!" Ich schubse ein Mädchen zur Seite, stürze mich aus dem Bus und renne; renne nach Hause, so schnell ich kann.
Als ich ankomme kreischen meinen Lungen und mein rechter Fuß pocht vor Schmerz. Ich bin wohl umgeknickt, als ich rauskam. Aber ich hab´s geschafft! Die Tür knallt ins Schloss und ich schliesse zweimal ab.
Heute ist Montag. Meinen Job bin ich wohl los.
Ich habe kein Telefon. Nur ein Handy, dass in meiner Wohnung keinen Empfang hat.
Der Supermarkt ist gleich auf der anderen Straßenseite. Aber ich kann hier nicht weg. Ich sitze im Flur auf einem Klappstuhl und halte Wache. Seit Donnerstag habe ich zweieinhalb Stunden geschlafen. Gestern Nacht habe ich Schritte vor meiner Tür gehört. Er ist da draussen und wartet.
Ich habe nur noch einen Apfel und mein Magen knurrt schon. Aber ich gehe hier nicht raus. Nein. Niemals! Ich komme nicht! Der kriegt mich nicht klein!
»Hörst du mich, Herbert?! Du kriegst mich nicht!!!«
Ende.