Endstation
„Endstation, alle aussteigen!“ blaffte die Schaffnerin ins Zugabteil. Da dies außer Ulrich niemand mehr mitbekommen konnte, musste er sich wohl oder übel angesprochen fühlen. Oder besser, angeschrieen. Die Zugbegleiterin versprühte in etwa den Charme einer menstruellen Walküre, ein Eindruck, der durch ihre blaugrauen Augen und den strohblonden Haarwust unter ihrer Mütze noch Nachdruck erhielt. Nun gut, für eine Walküre war bei ihr etwas wenig auf den Rippen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen magersüchtigen Berserker, der bei der Seelenwanderung falsch abgebogen und nun im Körper besagter Schaffnerin gefangen auf ihre letzte Stunde harren musste. Ulrich lugte vorsichtig in den Gang, wobei er mit einem verschmitzten Schmunzeln, einem Keuchhustenanfall und aufkeimender Besorgnis rang. „Wie, Endstation? Der Zug müsste doch noch rund zwei Stunden weiterfahren! Hier, sehen sie, ich hab’s mir in Stuttgart extra notiert...“.
Noch ehe er den Zettel auseinander falten konnte, war die Schaffnerin auch schon angerauscht und entriss ihm das Stück Papier. Argwöhnisch überflogen ihren Augen das Gekrakel, welches einem Germanistikstudent alles andere als würdig war. Aber bei schwerer Grippe und –20° auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof mochte man dies verzeihen. Meinte zumindest Ulrich, im Gegensatz zur Schaffnerin. Sie zerquetschte die Notiz förmlich in ihrer geballten Faust, die sie Ulrich drohend entgegenhielt und keifte: „Das gilt nicht für Feiertage! Können sie nicht richtig lesen?!“. Ulrich wollte noch darauf antworten, als sie losstürmte, den restlichen Bahnabteilen entgegen. Er wäre ohnehin nicht weit gekommen, da ihn ein schmerzhafter Hustenanfall zurück in die Sitzpolster riss. Tränen stiegen im ihn die Augen, für einen kurzen Moment wurde um ihn herum alles schwarz. Er fühlte sich hundeelend; nein, noch schlimmer, zutiefst verzweifelt. Eigentlich hätte er schon längst bei Rike sein sollen, kuschelnd vor dem Fernseher, mit einer schönen heißen Tasse Kaffee und den köstlichen Plätzchen ihrer Großmutter, die noch von Weihnachten übriggeblieben waren. Ja, so sollte seine Sylvesternacht aussehen, genau so. Aber die deutsche Bahn schien da anderer Meinung zu sein.
Das erste, was Ulrich draußen in tiefster Nacht auf dem spärlich beleuchteten Bahnsteig in den Sinn kam, war schweinekalt. Es gab sicherlich Worte mit mehr Poesie für so ein Wetter, aber schweinekalt traf es einfach auf den Punkt. Kaum schlug die Zugtüre hinter ihm zu, da begrub ihn schon ein Schneegetöse unter wirbelnden Flocken. Alles an ihm schrie förmlich nach einem Reisigbesen, einem alten Topf und einer Möhre, um den Kindern dieses gottverlassenen Örtchens eine kleine Freude zu machen. Wobei es in einem gottverlassenen Örtchen ja keine Kinder geben dürfte. Ulrich nieste einige Male, ehe er die Schneedecke abschüttelte und die Brille behelfsmäßig am Schal abwischte. Als er sich noch einmal umwandte, konnte er nur noch Mitansehen, wie der schwerfällige Stahlmoloch entgegen der bisherigen Fahrrichtung in Schneegestöber und Nebel verschwand. Während er dem Zug so hinterher sah, fiel ihm auf, dass er ganz allein auf dem Bahnsteig stand. Niemand sonst war ausgestiegen. Demnach war er der einzige arme Tropf, der nicht imstande war, die Fahrpläne der deutschen Bahn richtig zu lesen. „Und da soll noch einer sagen, ein Germanistikstudium würde sich nicht lohnen“, murrte Ulrich in seinen dicken Schal hinein. Wo er war, vermochte er nicht zu sagen. Das einzige Ortsschild war unter Eis und Schnee begraben, dazu noch zur Hälfte abgebrochen. Irgendetwas mit Hel, vermutlich so ein kümmerliches Hundertseelendorf, ohne Einkaufszentrum oder Kino, aber natürlich mit Bahnhof. Er kannte so etwas zur Genüge, schließlich war er in so einem Nest aufgewachsen. Nur war es ihm deutlich freundlicher in Erinnerung geblieben, als der Ort, an dem er sich gerade befand. Der raue Winter schien dies Fleckchen Erde restlos in Beschlag genommen zu haben. Jenseits des überdachten Bahnsteigs lag der Schnee kniehoch, aberwitzig große Eiszapfen säumten den Rand des Daches und ein eisiger Wind pfiff und sang um Ulrich herum. Manchmal schien die Luft regelrecht zu klirren. Ehe er selbst noch auf der Stelle festfror, stapfte er mitsamt prallgefüllter Reisetasche in Richtung Bahnhäuschen, dass sich Gnädigerweise gleich neben dem Bahnsteig befand, der hier auch der einzige zu sein schien.
Kein Licht schien mehr hinter den Fenstern, auf denen kristallklare Wiesen aus Eisblumen blühten. Ganz gleich den Scheiben des Kästchens, hinter dem sich die Fahrpläne befanden. Recht hilflos kratzte Ulrich mit seinen dicken Fäustlingen an der Scheibe herum: der erhoffte Erfolg blieb aus. Niedergeschlagen lehnte er sich gegen die Scheibe und kramte das Mobiltelefon aus der Innentasche seines Lodenmantels, um Rike anzurufen. Kein Netz. Die Suche nach einer Telefonzelle blieb genauso erfolglos. Die Sucherei konnte er ohnehin nicht lange durchhalten, da ihn immer öfters Hustenanfälle durchschüttelten, von den Kopfschmerzen ganz zu schweigen. Mühsam schleppte er sich und die Reisetasche auf die einzige Bank, die sich unter dem mickrigen Dach des Bahnhäuschens zusammenkauerte. Dort kam er halbwegs zu Atem; genug um sich ein Aspirin einzuwerfen und ein Stoßgebet an den Herrn im Himmel zu richten. Und an Odin gleich hinterher. Konnte ja nicht schaden. So gut es eben ging, mummelte sich Ulrich auf der Bank zusammen. Die Wollmütze über beide Ohren gezogen, im Schal lag das Gesicht und die Fäustlinge in den Manteltaschen vergraben. Es half alles nichts, er zitterte wie Espenlaub. Dabei war ihm nicht allein kalt, denn mit der Grippe auch das Fieber. Ihm brach der Schweiß in Strömen aus. So fror und fieberte er eine ganze Weile, eingekeilt zwischen Lungenbrennen und Kopfweh, in der Hoffnung auf die Wirksamkeit des Bayer Produkts. Da fiel Ulrich auf, das er nicht alleine auf der Bank saß.
Er hatte nicht die Kraft, aufzuschrecken und aus seinem Mund kam auch nur ein wortgewaltloses Husten. Dies schien der fremden Gestalt am anderen Ende der Bank einerlei zu sein. Es, denn ob er oder sie blieb ungeklärt, rührte sich nicht. Schon halb eingeschneit, saß die Gestalt einfach nur da, wie er ein dickes Päckchen aus Mütze, Schal und Mantel. Einzig die mit Schnee bepuderte Reisetasche zeichnete es als Reisenden aus. Einen Reisenden, der schlief. Durch den heulenden Wind hindurch drang ganz leise ein Geräusch. Schnarchen. Das röchelnde Schnarchen eines schwer erkälteten Menschen.
Was ihn, denn so schnarchen konnten nur Männer, gleich in zweierlei Hinsicht zu Ulrichs Leidensgenosse machte. Zum einen krank, zum andern steckte er hier fest. Immerhin, so hoffte Ulrich, schien er noch auf einen Zug zu warten, der sie weiterbringen würde. Irgendwohin, nur fort von hier. Natürlich wollte Ulrich zu Rike, aber erst einmal musste er hier weg. So einen Bahnhof hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Dabei reiste war er wirklich nicht wenig mit der Bahn unterwegs. Schon bevor er Rike vor fast zweieinhalb Jahren auf der Frankfurter Buchmesse kennen gelernt hatte, aber danach erst recht. „Rike“, krächzte Ulrich sehnsüchtig, sank wieder in sich zusammen und fieberte in seinen Träumen den vollen Lippen der Frau entgegen, die für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich war. Nur sie konnte ihn aus dem Krankenbett zu sich locken. Nur Rike. Ulrich schloss die Augen. Aber auch so wurde alles schwarz um ihn herum.
Etwas heulte auf; schrill, laut und mechanisch. Heißer Dampf durchstieß die eiskalte Winterluft, schmolz jungfräuliche Schneeflocken, deren frostiger Kuss niemals die Erde berühren würde. Ulrich schrak auf. Er musste eingeschlafen sein, nur wie lange? Noch immer schien das Morgengrauen unendlich fern, die dunklen Wolken ließen die Klarheit vermissen, die an einer Sylvesternacht herrschen sollte.
Egal, da war ein Zug. Ulrich wurde das erst so richtig klar, als eine der Zugtüren aufschlug und ein Schaffner ausstieg. Der Schaffner war groß, ungewöhnlich groß und dabei so hager, als wäre er ein aufrechtgehender Grashüpfer. Nur war seine Haut nicht grün, sondern gräulich. So ähnlich wie die milchigen Scheiben des Zuges, hinter denen sich nur undeutlich die Schemen der Fahrgäste abzeichneten. Das stählerne Verkehrsmittel begann irgendwo jenseits des Schneegestöbers, walzte sich durch den Lichtkegel des Bahnhofs und verschwand jenseits der nächtlichen Finsternis. Es bestand keinerlei Ähnlichkeit mit den Zügen, die er für gewöhnlich benutzte. Ihm fehlte jede Farbe, stattdessen schien es aus metallischen Grautönen zusammengesetzt. Schweres bleigrau, geschwärztes Eisen und kalter Stahl. Ulrich fröstelte, doch das lag nicht mehr an der Eiseskälte. Dennoch sagte ihm eine innere Stimme, er müsse einsteigen, um weiterzukommen. Wie auf Stichwort blies der Schaffner in seine silberne Pfeife, winkte ihm zu und rief: „Alle einsteigen!“. Ulrich gehorchte, ohne weiter nachzudenken. Er schnappte sich seine Tasche, lief los und sprang durch die erstbeste Öffnung in den Zug. Keine Sekunde zu spät, denn da schlugen auch schon die Türen zu. Erleichtert lehnte er sich an das Metall neben der Türe. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Reise ging endlich für ihn weiter. Aber auch nur für ihn, durchzuckte es seine Gedankenwelt. Sein Banknachbar, sein Leidensgenosse! Was war mit ihm gewesen, hatte auch er den Zug gehört? War auch er noch rechtzeitig eingestiegen? Vergeblich versuchte Ulrich einen Blick zurück zu werfen, da ließen sie den Bahnhof auch schon hinter sich. „Viel Glück“, murmelte Ulrich nachdenklich, seltsam besorgt und mit einer Prise Ironie, über die er sich selbst wunderte.
Die Zugabteile waren ungewöhnlich gut besucht, musste sich Ulrich bald eingestehen. Dabei bestachen sie durch eine spartanische Eleganz, die ihm so zuvor noch nirgends untergekommen war. Die Bänke waren mit schwarzen Lederpolstern bezogen, mit silbernen Nieten festgemacht; der Boden schien getäfelt, ein Muster aus überkreuzten Dielen, nur ob aus Holz, Kunststoff oder etwas anderem, vermochte Ulrich nicht zu sagen. Schon in seinem dritten Abteil angelangt, gab er die Suche nach einem Plätzchen für ihn alleine auf und machte kurzerhand bei einem alten Fräulein halt. Sie sah so aus, wie er sich fühlte, nämlich ziemlich verloren. Die höfliche Frage, ob er sich setzen dürfte, nahm sie nur mit einem kurzen, seligen Kichern zur Kenntnis.
Ulrich genoss fürs erste einfach die weichen Polster und die windstille Umgebung. Wäre es etwas wärmer gewesen, hätte er sich durchaus wohlfühlen können. In aller Ruhe begann er langsam, seine wirren Gedanken zu ordnen. Er befand sich in einem fremden Zug, der werweißwohin fuhr; wahrscheinlich noch viel weiter von deinem Ziel weg, als du eben noch warst, flüsterte sein schlechtes Gewissen. Hoffentlich galt hier sein Fahrschein, denn er führte eigentlich nur Kleingeld mit sich. So was kommt davon, wenn man überstürzt aufbricht, setzte das schlechte Gewissen noch nach. Geistesgegenwärtig fiel ihm ein, er könnte es ja noch mal mit dem Mobiltelefon versuchen. Fluchend musste er feststellen, dass es den Geist aufgegeben hatte. Netz hin oder her, es war nutzlos.
„Entschuldigen sie“, sprach Ulrich zu dem alten Fräulein, „sie haben nicht zufällig ein Handy dabei, dass sie mir kurz leihen könnten?“. Abermals war ein seliges Kichern alles, was sie zustande brachte. Ebenso auf die Frage, wohin sie eigentlich fuhren. Seufzend sah er sich nach jemand gesprächigerem um, aber alle schienen seinen Blicken auszuweichen. Der bärtige Mann in der gegenüberliegenden Nische las eindringlich in einer alten Zeitung, anderswo spielten zwei Frauen in höchster Konzentration Schach und zuguterletzt war da noch ein kleiner Bub, der einfach nur aus dem milchigen Fenster starrte. Der hatte nicht einmal ein seliges Kichern für seine Fragen übrig. Schließlich rief Ulrich ins ganze Zugabteil hinaus, doch auch dies blieb ohne Wirkung und er stand am Rande der Verzweiflung. Da ging die Türe hinter ihm auf und eine bekannte Stimme sprach ein ihm ebenso bekanntes Sprüchlein: „Die Fahrscheine bitte“, sagte der Schaffner. Dabei schenkte er den Fahrgästen ein breites Haifischlächeln. Furchtbar nett, aber durch die langen, schiefen und geblichen Zähne fast schon unerträglich abstoßend.
Der Schaffner ließ sich Zeit damit, die Fahrkarten zu kontrollieren und schenkte Ulrich für seine Nöte zuerst ebenso wenig Gehör wie alle anderen. „Einer nach dem anderen“, so schickte er Ulrich zurück auf seinen Platz. Als er dort endlich ankam, sah sich der Schaffner zu allem Überdruss die Fahrkarte des alten Fräuleins als erste an. Erst jetzt bemerkte Ulrich, wie verrückt das war. Schließlich musste sie schon eine ganze Weile mit dem Zug fahren, er hingegen war eben erst hinzugestiegen. Der Schaffner riss ihn aus seiner Verwunderung, indem er ihm seine ausgemergelte Hand entgegenstreckte. Es war eigentlich vielmehr eine faltige Klaue, dunkel geädert und mit Altersflecken übersät. Zudem glaubte er, etwas vom Meer riechen zu können. Salziges Brackwasser. Er schüttelte den Kopf und zeigte seine Fahrkarte. Ulrich setzte schon an, sich zu entschuldigen, sollte die Karte hier nicht gültig sein, da sagte der Schaffner etwas unerwartetes. Nämlich „Oh“.
„Oh?“, machte Ulrich, „was heiß hier oh?“. Es klang überrascht, dabei nicht einmal unangenehm. Wieder grinste der Schaffner und fuhr fort: „Oh, das sind ja sie, Herr Zimmermann. Haben sie schon erwartet. Nur hier sind sie falsch“. Ja, der Gedanke kam Ulrich auch schon. Aber der Schaffner schien etwas anderes zu meinen, denn er deutete in Richtung der vorderen Zugabteile. „Ihr Platz ist in der 1. Klasse, Herr Zimmermann. Für besondere Neuankömmlinge.“ Ulrich sah ihn verdattert an. Erste Klasse? Besondere Neuankömmlinge? Und woher zum Teufel kannte er seinen Nachnamen! Erneut kam Ulrich erst gar nicht dazu, seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, denn der Schaffner krallte sich kurzerhand seine Sachen und ging voraus. „Ich begleite sie am besten dorthin, nicht das sie sich am Ende noch verirren“. Ulrich lachte knapp und trocken; nur der Schaffner lachte nicht ein bisschen.
Der Zug schien endlos zu sein. Am Bahnhof konnte sich Ulrich wegen mangelnder Beleuchtung nur ausmalen, wie viele Abteile es waren. Doch nun ließen sie schon den zwölften Durchgang hinter sich; es endete in einem weiteren schummrig beleuchteten Zugabteil, so wie das zuvor und das zuvor. Die Bahnausstattung glänzte durch ihre tadellose Gleichförmigkeit. Manchmal glaubte Ulrich sogar, die gleichen Gesichter immer wieder auf den selben Plätzen zu erkennen; aber das musste er sich einbilden. Dennoch glichen sich die Gäste, wenn auch nicht durch ihr Aussehen, zumindest durch ihr Benehmen. Alle schienen versunken. Manche in sich selbst, einige in Bücher oder Zeitungen, andere in Spiele und wieder andere in den trüben Ausblick der vorbeirasenden Landschaft. Gelegentlich hörte er ein Räuspern, manchmal auch leises Kichern. Ulrich glaubte, eine junge Frau ein Lied summen zu hören. Die Töne erstarben, als der Schaffner und Ulrich an ihr vorübergingen. Manche schienen sich sogar abzuwenden.
Gerade, als er sich damit abfand, ziellos durch einen Zug zu wandern, hielt der Schaffner vor ihm abrupt an. Dies führte dazu, dass Ulrich geradewegs in ihn hineinlief. Er wollte sich entschuldigen, aber der meinte nur: „Nichts passiert“. Wahrscheinlich vermochte nichts und niemand diesen seltsamen Mann aus der Ruhe zu bringen, dachte Ulrich. Währenddessen war der Schaffner damit fertig geworden, die Schleuse vor ihnen zu öffnen. Im Gegensatz zu den einfachen Schiebetüren, die sie bisher passierten, war diese doch etwas schwerer und vor allem größer. Mehr wie die Türe eines Panzerschranks. Kreischend begann sich die Mechanik innerhalb der Schleuse in Bewegung zu setzen, um sich im nächsten Augenblick ruckartig zu öffnen. Dampf strahlte aus allen Ritzen und hüllten die beiden in weißen Nebel. Es fühlte sich nicht feucht an, dachte Ulrich. Noch ein ominöses Puzzlestück, welches sich nahtlos in das Mysterium dieses Zuges einfügte. Doch worüber sich Ulrich am meisten wunderte war wohl, wieso es ihn so wenig wunderte. Ihn schien nichts mehr überraschen zu können. Bis sich der Nebel lichtete.
Ulrich schien eine völlig andere Welt zu betreten. Das Zugabteil war nicht so grau und leblos, wie die vorherigen. Es wirkte noch immer nicht lebendig, aber es war dennoch lebhafter in seiner verschnörkelten Eleganz. Weiße Farbtöne herrschten hier, mit silbriggrauen Ornamenten überzogen; bescheidene und dennoch dem Auge wohlgefällige Muster. Er konnte nicht anders und lächelte, was der Schaffner ihm gleichtat und die gelben Beißerchen fletschte. Dies löste in Ulrich wiederum ein Schaudern aus. Dabei musste er zugeben, dass der große, dunkle Schaffner in solch himmlischer Umgebung deutlich freundlicher wirkte, als er es eben noch tat. Andererseits schien er so gar nicht hier herzugehören.
„Noch weniger als ich selbst?“, murmelte Ulrich geistesabwesend. Da geschah etwas unerwartetes: jemand sprach ihn an. „Moin“, machte ein beleibter Herr zu seiner Rechten, der einen ganzen Sitz für sich alleine in Anspruch nahm. Die rosigen, von weißen Stoppeln übersäten Wangen ließen sein breites Lächeln irgendwie komisch erscheinen, fast schon lustig. Freundlich grüßte Ulrich zurück. Auch die anderen Fahrgäste der 1. Klasse hießen ihn mit einem Lächeln in ihren Reihen Willkommen. Ulrich konnte sich nicht erinnern, jemals so gut aufgenommen worden zu sein, wie hier.
Als ihm der Schaffner dann endlich einen Platz zuwies, tat es ihm fast schon leid, mit der Begrüßung aufzuhören. Sein Gepäck wurde über ihm verstaut, da saß Ulrich auch schon auf seinen vier Buchstaben und bedankte sich noch einmal beim Schaffner für seine Mühen. Der winkte nur ab, wie es wohl seine Art war und meinte: „Das war gar nichts, glauben sie mir, Herr Zimmermann. Glauben sie mir“. Mit diesen Worten verschwand der Schaffner auch schon hinter einer Schleuse und ließ Ulrich alleine in der 1. Klasse. Er war gerade dabei, die Landschaft hinter den elfenbeinfarbenen Fenstern zu genießen, da tippte jemand an seine Schulter und fragte: „Ist der Platz noch frei?“.
Die Stimme, sanft und doch bestimmt, gehörte einer nymphenhaften Frau, die allerorts spielend als Mädchen durchgehen mochte. Nur wiedersprachen da ihre großen Augen, dunkel umrändert, die von Schmerzen und Leid erzählten. Ulrich dachte an seinen krebskranken Vater, der im 2. Weltkrieg fürs Vaterland gekämpft und Dinge gesehen und selbst getan hatte, die sich sein Sohn kaum vorzustellen wagte. Auch in seinen Augen war die von Narben verhärtete Seele zu erkennen.
Ulrich ließ sie Platz nehmen, wofür sie sich knapp bedankte. Schweigen stellte sich ein. Dabei war er hin und hergerissen zwischen dem Drang, sie anzustarren und der guten Erziehung, welche dies verbot. So musterte er sie wie ein Schuljunge verstohlen aus den Augenwinkeln, an den Brillenrändern vorbei.
Wäre ihr Blick nicht so finster, hätte sich Ulrich wahrscheinlich zu ihr hingezogen gefühlt. Das Gesicht war hübsch, die Wangenknochen hoch, die Nase schlank, die Lippen voll. Sie verband die Reize einer Frau mit unschuldiger Mädchenhaftigkeit, die Männer um den Verstand bringen konnte. Ihre Kleidung tat ihr übriges. Sie konnte sich nicht so recht entscheiden, ob sie offen legen oder verhüllen wollte. Der hochgeschlagene Rollkragen spottete dem raffinierten Ausschnitt, so wie der freiliegende Bauchnabel den langen Armstulpen. Irgendwie gruftig, kam Ulrich in den Sinn, dabei trug sie nur weiße und silberne Farbtöne. Sogar ihre Haare waren weiß wie Schnee. Nein, nicht wie Schnee, verbesserte er sich in Gedanken. Mehr wie Knochen. Eine knochenweiße Puppe mit schwarzen Augenringen und dunklen Lippen. Lippen, die ihm zulächelten.
Verflucht! Er war auf frischer Tat ertappt. Mehr noch, Ulrich bemerkte erst jetzt, dass aus verstohlenem mustern ein offenes starren geworden war. Tausend fixe Ausreden pfiffen dem Germanistikstudenten durch die Hirnwindungen, ausgeklügelte Entschuldigungen prügelten sich mit charmanten Sprüchen, aber wie so oft im Leben machte der naheliegendste Einfall das Rennen: „Ähem, angenehm, Zimmermann mein Name. Ulrich Zimmermann“. Er streckte ihr den Fäustling entgegen. Sie legte ihre Hand hinein, dabei rutschte die Stulpe etwas zurück und legte darunter verborgene Bandagen frei. Sie waren blutgetränkt. Ulrich erstarrte, als sie ihm direkt in die Augen sah. Ihr Blick war fast so kalt, wie ihre Hand. Die Kälte stach durch das Leder, durch Haut, Fleisch und Knochen. „Schön dich kennen zulernen, Ulrich“, sagte das Mädchen. „Ich bin der Tod.“
Er hätte eigentlich loslachen müssen. Lauthals, am besten hysterisch, gackernd, närrisch. Aber es blieb ihm förmlich im Halse stecken. Dafür war es zu kalt. Ihr Blick war zu kalt. Ihr Blick und ihre Hand. Ein eiskaltes Händchen. Ulrich riss die Hand zurück, als ob er sich verbrannt hatte. Dabei war ja eigentlich das Gegenteil der Fall. Den Fäustling zog er sofort aus, bewegte sicherheitshalber die Finger und untersuchte seine Haut. Nichts. Sie schien wie immer. Etwas blass vielleicht. Blass und bläulich.
„Alles in Ordnung?“ fragte das Mädchen, oder der Tod, oder was auch immer.
„In Ordnung?“ stammelte Ulrich ungläubig. „Ist das ihr ernst? Nichts ist in Ordnung! Schon den ganzen verdammten Tag ist nichts mehr in Ordnung! Erst bezirzt mich meine Freundin, ich solle doch noch aus dem Krankenbett über die Feiertage zu ihr kommen, was ich Vollidiot natürlich tue und mich blindlings auf diese gottverfluchte Bahn verlasse, die mich in irgendeinem Kaff am Arsch der Welt aussetzt, wo mich dann dieser irre Zug aufsammelt! Und nun hock ich hier bei einer Spinnerin, die meint, sie sei der Tod!!“
„Nun, eigentlich bin ich nicht der Tod, mit Betonung auf der Tod, sondern nur der Freitod. Ich fahre manchmal mit. Liegt auf dem Weg zu meiner Arbeit.“
Diesmal lachte Ulrich. Nur klang es leider nicht so ironisch wie geplant, sondern einfach nur hysterisch. „Das ist doch verrückt!!“
„Ach ja? Das war gar nichts, Ulrich. Gar nichts“, sagte das Mädchen. Dabei legte sie einen Finger an ihre schlanke Nase und rieb an der Spitze, ehe sie fortfuhr: „Du sagtest was von Krankenbett. Fühlst du dich denn noch krank?“.
Ulrich wollte es erwidern, etwas wie sterbenskrank. Ja, das wollte er sagen. Aber es entsprach nicht mehr der Wahrheit. Er fühlte sich nicht krank. Nicht einmal mehr erkältet. Sein Hals kratzte nicht mehr, die Nase stand still und das Brennen in seinen Lungen war auch verschwunden. Verwirrt fuhr sich Ulrich übers Gesicht: „Ein Wunder...“.
Das Mädchen lachte, so als ob sie ein Kind auslachen würde. Dabei bildete sich Ulrich eben noch ein, sie wäre jünger. Aber dem war nicht so. Sie sah aus wie ein junges Mädchen, aber da log schon ihr Blick. Nun log alles.
„Kein Wunder, Ulrich. Im Gegenteil, etwas ganz natürliches“. „Ich, i-ich bin...“.
„Tot. Erfroren, um genau zu sein. Jedenfalls vermute ich das. Dir ist noch immer kalt, nicht? Ja, das ist eindeutig die Handschrift des guten alten Erfrierungstods. Ist auch gut möglich, dass du an einer Lungenentzündung gestorben bist“. Sie zuckte mit den Schultern: „Ist ja jetzt eigentlich auch nicht mehr so wichtig“.
„Ich bin tot. Das, das kann doch nicht sein!!“
„Such mal deinen Herzschlag.“
Ulrich fühlte nach. Er fand nichts. Ebenso wenig einen Puls. Wieso er noch atmete, wusste er nicht. Wahrscheinlich aus Gewohnheit.
„Na, überzeugt?“ fragte das junge Mädchen, darum bemüht, nicht zu harsch zu klingen.
„Ja, denke schon“, gab Ulrich zu seinem eigenen Erstaunen zu. Er war kein Mediziner, aber solchen Beweisen konnte er nichts entgegenhalten. Kein Herzschlag, kein Puls, kein Leben. Aber, was war dann? Ulrich sah den Freitod an und fragte dann zögerlich: „Was bin ich jetzt?“. „Tot“, erwiderte sie sachlich.
„Nein, das meine ich nicht. Was bin ich jetzt, was ist jetzt, hier, in diesem Zug. Wohin fährt er, in die Hölle oder in den Himmel? Oder sonst wohin? Wieso überhaupt ein Zug? Ich dachte immer, man sieht einen Tunnel aus Licht oder einen Sensenmann. Ich frage mich einfach, wieso ein Zug?!“.
„Weil du an einem Bahnhof gestorben bist“.
„Oh. Ja, das stimmt“.
„Schön das du es so locker aufnimmst“.
„Habe ich noch eine Wahl?“
„Nein, eigentlich nicht. Nein, hast du nicht.“
„Also?“, hakte er ungeduldig nach, „Wohin fährt der Zug?“.
„Von Nirgendwo nach Nimmermehr“.
„Also fährt er nirgends hin? Ständig im Kreis?“.
„Nein, das habe ich nicht gesagt. Er fährt von Nirgendwo nach Nimmermehr“.
„Wo soll das liegen? Im Himmel oder der Hölle?“.
„Glaubst du, dass du so ein schlechter Mensch warst, um in der Hölle zu schmoren?“.
„Nein, eigentlich nicht“.
„Und warst du für den Himmel tugendhaft genug?“
„Sicherlich ebenso wenig“.
„Na also, damit erübrigt sich die Frage“.
„Ach ja?“.
„Ja. Weißt du, gestorben wurde schon immer. Als noch niemand einen Namen dafür wusste, als noch niemand an ein Danach auch nur dachte und als noch niemand an ein besseres oder schlechteres Danach glaubte. Der Mensch erschafft sich seine eigenen Himmel, aber auch seine eigene Hölle. Indem er glaubt. Aber damit habe ich und die, die so sind wie ich, nichts zu schaffen.“
„Und was seid ihr?“. Der Freitod lächelte: „Wir sind.“
Ulrich musste einen Moment darüber nachdenken, ehe er es begriff. Es fiel ihm leicht. Spielend leicht. Nicht, dass es dadurch mehr Sinn machte, aber das brauchte es nicht mehr. Es war alles so, wie es sein sollte. Die Fahrgäste in der 2. Klasse, alles ruhelose Seelen, die nicht wussten, woher sie kamen, wohin sie fuhren und wo sie eigentlich aussteigen müssen. Aber es schien ihnen egal zu sein. In der Ewigkeit blieb einem nichts anderes übrig, als die Gleichgültigkeit. Sonst verliert man den Verstand. Ulrich war sich sicher, dass er ihn noch immer verlieren konnte.
Er unterhielt sich lange mit Freitod, erzählte ihr sein ganzes Leben, alles, was er jemals tat und alles, was er immer mal tun wollte. Dabei fiel es ihm auf einmal leicht, über Dinge zu lachen, die ihn einst zu Tränen rührten und über Dinge zu weinen, die er früher zum lachen fand. Das Mädchen mit den dunklen Augen hörte ihm aufmerksam zu, unterbrach ihn nur ab und an, wenn er drohte, den Faden zu verlieren. Es machte ihr nichts aus, wenn er weinte oder wenn er lachte. Sie konnte so oder so nicht mitfühlen, nur verstehen. Einmal, er erzählte gerade eine seiner Lieblingsszenen aus dem Film
Der Sinn des Lebens, ergriff sie doch noch das Wort. Sie sagte: „Wir halten“. „Oh? Muss ich schon aussteigen?“, fragte Ulrich mit einem spöttischen Grinsen, leicht angeheitert von alten Erinnerungen. Jenes fiel ihm aus dem Gesicht, als seine Gesprächspartnerin den Kopf schüttelte und meinte: „Nein, aber ich“. Dann stand sie auf, durchschritt die dampfenden Schleier der aufschnappenden Schleuse und war verschwunden.
Der Morgen dämmerte. Bläuliches Licht stach hier und da fadenscheinigen Nadeln gleich durch die trüben Wolkenkissen, um im frischgefallenen Schnee Steckenzubleiben. An solchen Tagen schien die schneebedeckte Erde heller zu leuchten, als es der Himmel jemals tat. Der Winter jedoch ist auch eine zerbrechliche Scheinwelt, auf der jeder noch so kleine Schandfleck ins Auge fällt. So wie rotes Blut.
Mitten durch die Felder pflügen sich Gleise einer kleinen Ortschaft entgegen. Ein verschlafenes Nest, welches für seine Küken nur ein liebloses Dasein oder die Flucht bereithält. Nicht alle flüchten sich in den Zug in Richtung weite Welt. Manche flüchten sich auch darunter. Es war noch dunkel, als Sarah das Licht sah. Sie war die ganze Nacht über auf den Gleisen spazieren gegangen, in schwermütigen Gedanken versunken über ihr Leben. Nicht die einzelnen Unglücke darin machten ihr zu schaffen, sondern ihre Zahllosigkeit. Ihr waren die Tränen an den Wangen festgefroren, als sie den Zug kommen hörte. Bis dahin hatte sie nie an Selbstmord gedacht. Eigentlich fürchtete sie sogar den Tod, wie es jeder vernünftige Mensch tat. Nur war sie an diesem Morgen nicht mehr vernünftig. Sie war müde, so vielem war sie müde. Sarah blieb stehen, blickte dem heranrasenden Licht entgegen, bis es sie blendete. Dann schloss sie die Augen.
Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr, als würde sie das Licht noch immer sehen. Erst nach und nach erkannte sie, das es die aschfahle Haut einer jungen Frau war, die bis zu den Knöcheln im Schnee versunken neben ihr stand. Sie sah hübsch aus, dachte Sarah. Ja, sie fand sogar die dunklen Augen der Fremden schön, furchtbar schön. Gerade weil sie so traurig waren. Tränen rollten über ihre Wangen, Tränen der Traurigkeit und Tränen der Freude. Denn die junge Frau hielt ihr ihre Hand entgegen, half ihr auf und nahm sie bei der Hand. Ihre Fingerknöchel waren so schlank wie die einer Puppe, doch ihr Griff schien Sarah sicher zu sein. Hand in Hand schritten sie die Gleise ab, in Richtung Zug. Sarah fragte sich nicht, ob dies der Zug war, dem sie entgegengekommen war. Nein, sie wusste es besser. Sie wusste, dass sie tot war. Darum stellte sie auch nichts in Frage, darum verwunderte sie nichts mehr. Es war ohne Bedeutung, woher der Zug gekommen war und wohin er sie bringen würde. Noch viel weniger wunderte sie sich über die junge Frau mit den traurigen, dunklen Augen. Die Menschen kannten es unter vielen Namen, die einen schmeichelhaft, die anderen erschreckend, doch sprach man sie meist mit Ehrfurcht aus. Als die Zugtüre aufsprang und Sarah die erste Stufe des eisernen Treppchens bestieg, wandte sie sich noch einmal um und umarmte die junge Frau. Ihre dünnen Arme umfingen sie für einen Moment, der ein Stückchen Ewigkeit sein mochte. Danach sprang Sarah in den Zug und die Türe hinter ihr zu. Kein zweites Mal wandte sie sich um, denn nichts vermochte den verstrichenen Augenblick noch zu übertreffen, nur zu schmälern. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand sie ihren Weg durch die zischenden Schleusen in die 1. Klasse, wo ihr jemand mit Brille und großen Augen dahinter einen Platz anbot. Er fragte nach der jungen Frau, aber Sarah schüttelte nur mit dem Kopf. Der Zug fuhr los und sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber.
Irgendwann, zwischen Nirgendwo und Nimmermehr, in der 1. Klasse eines Geisterzuges, stand ein junges Mädchen auf, um sich ungefragt neben einen jungen Mann zu setzen und den Kopf an seine Schulter zu lehnen. Obwohl es sich kalt anfühlte, fühlte es sich sicher an. Leise sprach sie: „Wenn einem die letzte Stunde in Einsamkeit schlägt, kann man sich einer einzigen Gegenwart sicher sein. Der des Todes“. „Ja, da hast du Recht“, raunte Ulrich in seinen Schal. Dabei dachte er an den verschneiten Bahnhof, an die Bank und seinen Nachbarn. Er verstand, wie recht sie hatte. Um nur noch dem leisen Rattern der Räder zu lauschen und dem schwingenden Stahlgerüst des Zuges nachzufühlen, schloss er die Augen, wie sie es schon lange tat. Nur am Rande seines Bewusstseins hörte er die Schritte des Schaffners, als dieser den Gang durchschritt, gefolgt von einem eben erst zugestiegenen Fahrgast. Polternd brachte der Schaffner das Gepäck unter, als er gefragt wurde, wohin der Zug fahren würde. „Von Nirgendwo nach Nimmermehr“, entgegnete der Schaffner. Ulrich schmunzelte im Dämmerschlaf; er sah das verwunderte Gesicht des Fahrgastes förmlich vor sich, so wie das widerwärtig freundliche Haifischgrinsen des Schaffners.