Endstation
Es gibt heutzutage kaum noch etwas, dass einem Freude bereitet. Vogelgrippe, Terrorismus, an Hochverrat grenzende Steuern. Der morgendliche Berufsverkehr bildet da nicht unbedingt eine Ausnahme. Seit etwa drei Jahren fahre ich morgens mit dem Bus zur Arbeit. Das spart Geld und Nerven. Zumindest dachte ich das. Bis vor zwei Wochen…
Ich bekomme im Jahr 28 Tage Urlaub. Die Wochenenden bilden etwa 100 Tage. Dazu kommen, wenn man Glück hat, fünf bis sechs Feiertage. Vielleicht bin ich noch eine Woche krank. Das bedeutet, dass ich an etwa 225 Tagen im Jahr morgens im Bus sitze. Wie alle Anderen auch. Das ist nämlich grade der Punkt: Jeden Tag sieht man dieselben Leute. Ich weiß, wer wo einsteigt. Wer sich mit wem unterhält (obwohl Unterhaltungen insgesamt sehr selten sind) und bei manchen auch, wo er oder sie arbeitet. Das erscheint absurd, da ich in den drei Jahren noch nie mit einem dieser Menschen gesprochen habe. Sämtliche Informationen habe ich aus Beobachtungen erhascht, oder aus zufälligen Unterhaltungen aufgeschnappt. Und die eine oder andere Information errate ich einfach.
Kennen Sie das, wenn sie einen fremden Menschen auf der Straße sehen, und denken: „Der oder die sieht aus, wie jemand, der … heißt.“ So ging es mir auch mit Roswita. Sie steigt an derselben Haltestelle ein, wie ich. Mitte vierzig, lange, schmutzig-blonde Locken, flaches Gesicht. Immer wenn ich sie sehe (also fast jeden Morgen) denke ich: „Hallo, Roswita.“ Sie muss ganz einfach so heißen.
Am schockierendsten ist allerdings Herbert. Er sieht nicht nur wie ein „Herbert“ aus, bei ihm weiß ich tatsächlich, dass er so heißt. Warum ich das weiß? Nun, er hat es mir gesagt.
Herbert ist auch der Grund, warum es mich knapp zwei Wochen viele, viele Nerven gekostet hat, morgens in den Bus zu steigen. Er ist neu in der „Stammcrew“, müssen Sie wissen. Und wie es eben so ist – „der Neue“ wird erstmal komisch angeguckt. Sei es auf Arbeit, in einer Schulklasse, oder eben morgens im Bus. Dem Neuen gegenüber ist man solange skeptisch, bis man sich an ihn gewöhnt hat. Geht mir zumindest so.
Herbert steigt immer zwei Haltestellen nach mir ein, muss also auch stehen, so wie ich. Er trägt eine lindgrüne Jacke (es ist Spät-Herbst), Jeans, dunkelblaue Wollhandschuhe und eine Brille, die beschlägt, wenn er einsteigt. Außerdem hat er immer eine dezente schwarze Aktentasche bei sich, die einen sonderbaren Kontrast zu Herberts ja sonst eher legerem Outfit bildet.
Als er vor zwei Wochen zum ersten Mal reinkam, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass er von jetzt an öfter auftauchen würde. Schließlich befördert der Bus jeden Tag auch eine gewisse Menge von Leuten, die nur alle paar Wochen, oder sogar nur einmal mitfahren und dann nie wieder gesehen werden. Aber Herbert kam jeden Tag wieder. Zwei Tage später, vorletzten Mittwoch, hatte ich mich damit abgefunden, dass wir ein neues Mitglied in unserer Runde hatten.
Alles lief wie immer. Ich malte mir aus, was die junge Frau in dem roten Mantel (sie sieht nicht wie jemand aus, der soundso heißt, daher habe ich ihr keinen Namen gegeben) wohl gestern gemacht hat; fragte mich, wie die Frau des nach Rheumasalbe riechenden Busfahrers heißen mag, und stellte beim Aussteigen zufällig fest, dass Roswita ein neues Buch liest.
Aber am Donnerstag begann Herbert komisch zu werden. Ich stand im hinteren Teil, in der Nähe der Tür und sah ihn einsteigen. Da vor neun Uhr morgens und nach acht Uhr abends nur beim Fahrer eingestiegen werden darf, konnte Herbert kaum weiter von mir entfernt sein. Er zeigte seine Fahrkarte, ging an der Frau im roten Mantel und dem Russen vorbei (beide zur Stammcrew gehörend) und stellte sich in den mittleren Teil. Daran ist nichts Verwerfliches. Aber nach ein paar Sekunden erblickte Herbert, über all die Köpfe hinweg, die zwischen uns lagen, mich. Ich hatte ihn natürlich beobachtet – er war ja der Neue. Aber sein Blick traf mich so unvorbereitet, dass ich noch nicht einmal wegschauen konnte. Es dauerte insgesamt vielleicht zwei Sekunden, kam mir aber wie eine Ewigkeit vor. Und dann passierte es. Aus der reglosen Erstarrung heraus, lächelte er. Einfach so. Ich war so schockiert, dass ich fast meine Stange losgelassen hätte, als der Bus im selben Moment wieder anfuhr. Warum hatte er das getan? Machte er sich über mich lustig? Andere hatte er noch nicht belästigt. Zumindest soweit ich es gesehen habe. Den Rest des Donnerstags verbrachte ich damit, mir den Kopf zu zerbrechen, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte. Heute weiß ich es: Eine zynische Geste, die mich auf das vorbereiten sollte, was noch kam.
In der Nacht auf Freitag schlief ich nicht sonderlich gut.
Freitag war ich noch immer so irritiert, dass ich ihn nicht beobachten konnte.
Aber am nächsten Montag war ich wieder voll auf der Höhe. Unser erster Augenkontakt seit Donnerstag; der zweite Augenkontakt überhaupt. Ich hatte Glück und ergatterte einen Sitzplatz ganz hinten im Bus, konnte also alles überschauen. Herbert stieg ein, stellte sich an dieselbe Stelle, wie Donnerstag, ließ den Blick etwas schweifen und sah mich. Es sollte vermutlich wie ein Zufall aussehen. Gekonnt inszeniert. Er lächelte mich wieder an. Nach einem kurzen Schreck, war ich ganz ich selbst. Diesmal konnte er mich nicht überraschen. Ich war hier schon seit drei Jahren. Er erst seit sieben Tagen. Von dem lasse ich mich doch nicht runterputzen! Und voller Tatendrang, diesen Kerl in die Schranken zu weisen, schoss ich zurück. Es war kein Sturmangriff, aber ein deutliches Zeichen. Ich nickte ihm zu. Minimal. Kaum vernehmbar. Aber er hat es gesehen. Natürlich. Das ist einer von denen, der so tut, als könnte er kein Wässerchen trüben. Nicht mit mir! Nach meinem Kopfnicken, wandte er den Blick ab. Sein breites Grinsen erstarb zu einem Lächeln. Den Rest des Tages verbrachte ich einem triumphierenden Hochgefühl. Und dann kam Dienstag.
Vermutlich war der Donnerstag für seine erste Aktion von ihm taktisch gewählt. Er wusste, dass ich mich übers Wochenende davon erholen musste und Montag umso energischer sein würde. Dann schenkt er mir den kleinen Sieg und baut mich noch weiter auf. Dieser hinterhältige Mistkerl. Dienstag bin ich ihm voll ins Messer gelaufen. Eiskalt erwischt.
Herbert steigt ein, sucht mich, findet mich, grinst blöd, wie immer, und dann, bevor ich nicken kann, hebt er die Rechte, öffnet die Hand und winkt mir zu! Keine große Geste. Nur ein bisschen die Hand bewegt. Trotz dieser Unverschämtheit bringe ich ein Nicken zustande. Aber es erscheint mir, wie mit einem Luftgewehr auf einen Güterzug zu schießen. Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen.
In der Nacht zu Mittwoch habe ich schlecht geträumt. Herbert ist in mein Haus eingebrochen, hat mich ans Bett gefesselt und mir nach und nach alle Gliedmaßen abgeschnitten. Ich bin schweißgebadet aufgewacht und habe mich, nachdem ich mich wieder etwas beruhigt und mir einen Tee gekocht hatte, gefragt, was der von mir wollen könnte. Ich habe doch nichts. Keine Frau, kein Geld, nur 79 m² in Stadtnähe. Ich wusste es nicht. Und weiß es bis heute nicht.
Mittwoch war mein letzter Tag im Bus.
Ich stand wieder hinten, direkt vor der Tür; er in der Mitte - und ließ den Blick unauffällig schweifen. Er sah mich, lächelte, nickte. Und dann ließ Herbert seinen Haltegriff los, hob die Tasche auf, die zwischen seinen Kunstlederschuhen stand, und kam auf mich zu. Hangelte sich, wie ein Affe von Stange zu Stange (der Bus war inzwischen weitergefahren), fragte hier und da, ob er mal durch dürfte und manövrierte seine Tasche um die Leute herum. Und dann war er da. Stellte die Tasche zwischen mich und sich auf den Boden, hielt sich mit der Linken fest und reichte mir grinsend die Rechte. „Hallo, ich bin Herbert.“, hat er gesagt. Meine Augen weiteten sich, Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Ich spürte regelrecht, wie meine Schilddrüse Hormone ausspie. Fluchtreflex! Ich konnte nichts sagen. Herbert sah mich erwartungsvoll an, tat so, als könnte er meine Panik nicht sehen. Seine Hand schwebte noch zwischen uns. Nächste Haltestelle. Die Hydraulik des Busses schnaubt. Bremsen quietschen leise. Die Tür öffnet sich, ich stürze hinaus, renne nach Hause, ohne mich ein einziges Mal umzusehen. Komme an, zittere immer noch, schließe mich ein.
Ich habe die Wohnung seitdem nicht mehr verlassen. Heute ist Montag. Meinen Job bin ich vermutlich los. Die letzte Dosenkonserve habe ich gestern gegessen. Mein Magen knurrt schon. Leider habe ich kein Telefon – nur ein Handy, das in meiner Wohnung keinen Empfang hat. Einen Apfel habe ich noch. Seit Mittwoch früh habe ich insgesamt sieben Stunden geschlafen. Ich halte Wache im Flur, auf einem Klappstuhl. Heute Nacht habe ich Schritte vor der Tür gehört. Der Supermarkt ist gleich über die Straße, aber ich komme nicht raus! Der kriegt mich nicht klein! „Hörst du mich, Herbert?! – Du schaffst mich nicht!!!“
Ende.
S.K.