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Endstation

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30.12.2009
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Endstation

Zwischen den Haltestellen steht die Zeit still. Gedanken können weite Wege gehen oder in sich gekehrt sich selbst betrachten. In solchen Momenten glimmen Erinnerungen auf, die kleinen Lichtpunkte im Leben, mit zarter Melancholie umwoben. Ich befinde mich im Nachtzug Richtung Norden und lebe meine Vergangenheit, denn damals hatte ich es nicht getan. Alles zieht an mir vorbei, im schwachen Licht. Bis zu jener Begegnung, welche mich damals zunächst blendete. Diese Begegnung mit der Unbekannten, derjenigen, die gelernt hatte zu vertrauen und zu hoffen, die gelernt hatte, dass es Ziele im Leben gibt, die viele haben, ohne es zu wissen und die mich das alles wissen ließ.

Ich erinnere mich, wie ich damals am Brückengeländer lehnte und ins Wasser blickte. Trost suchend, Leben suchend, Hoffnung suchend, im Wasser, welches genauso durch meine Finger zu rinnen vermag wie ich es von meinem Leben nicht anders erfuhr. Meine Blicke hatten sich in diesen Anblick verloren, als ich sie bemerkte, neben mir lehnend und mir gleich das Wasser betrachtend.

"Was denkst du gerade?" fragte die Unbekannte. Einfach so. Ohne Umschweife. Direkt, klar. Ich gehöre zu der Art von Menschen, die solche Eigenschaften nicht fürchten, sondern zu schätzen pflegen. Zudem spürte ich eine Verbindung zwischen ihr und mir, eine eigene Art von Vertrautheit, was ebenfalls dazu beitrug, dass ich ihre Frage beantwortete. "Ich denke daran, dass dieses Jahr bald zu Ende sein wird. Und was ich im nächsten alles anders machen möchte." Ein wenig überraschte es mich selbst, wie ehrlich ich ihr antwortete. Wiederum stellte sie mir eine beinah zu direkte Frage: "Bist du denn mit deinem Leben nicht zufrieden, wenn du etwas ändern willst?" Ich überlegte eine ganze Weile, bevor ich antwortete. "Ich fürchte mich davor, mein Leben nicht zu leben. Ich schaffe es nicht, über meinen Schatten zu springen. Jeden Tag fühle ich mich in meinem Denken, Fühlen und Handeln eingeengt. Oft flüchte ich in Gedanken in eine Welt, die so nicht existiert. Ein beständiges Gefühl der Zerrissenheit plagt mich, ich spüre, dass ich mehr und mehr von der Realität abdrifte. Mich mehr und mehr in meine Gedanken zurückziehe und das Leben an mir vorbeiziehen lasse." Manch einen mag es erstaunen, wie ehrlich ich antwortete, mich selbst erstaunte es zu diesem Zeitpunkt ebenso, da ich noch nie so ehrlich mir selbst gegenüber mein Problem analysiert hatte. Der Unbekannten schien diese Regung der Selbstanalyse zu gefallen. "Wenn du dein Problem erkannt hast, ist das eine große Errungenschaft, die du würdigen solltest. Ich weiß das. Ich spreche aus Erfahrung. Dieses Problem plagte mich selbst lange Zeit, aber ich schaffte es zu überwinden. Ich bin der Meinung, dass du stark genug bist, dieses Problem zu lösen. Du sagtest, dass du im neuen Jahr manches anders machen möchtest. Hast du spezielle Wünsche?" Seit diesem Moment an stellte ich mir endlos viele Fragen, wann immer wir miteinander sprachen. Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich, ob sie wirklich das selbe Schicksal erlitten hatte, ob sie mich wirklich für stark hielt, woher sie diese Gewissheit nahm und zuletzt, welche Wünsche ich hatte. "Ich wünsche mir einfach, dass ich die Kraft habe, meine Ziele zu erreichen." "Die wären?" "Vielerlei." "Zu vieles, um es in angemessene Worte fassen zu können, nicht wahr?" Ich erschrak darüber, dass sie so vieles über mich wusste, ohne mich lange zu kennen, ohne viel mit mir gesprochen zu haben. Sie fuhr fort: "Ich habe schon lange einen Wunsch. Es hat aber lange gedauert, bis ich ihn in mir gefunden hatte. Ich wünsche mir, dass ich mir das Leben so gestalten kann, dass ich glücklich bin. Mein Wunsch besteht aus vielen einzelnen Wünschen, nach deren Erfüllung ich suchen muss. Einen Ort, an dem Friede herrscht, an dem sich die Menschen nicht mit purer Distanz begegnen, den wünsche ich mir, um dort zu leben. Eine Arbeit, die von Leistungsdruck und Hektik Abstand hält, die wünsche ich mir, um an ihr nicht zugrunde zu gehen, was vielen ja leider widerfährt. Stärke, um sich gegen Wünsche und Gefühle stemmen zu können, die nicht echt, die nicht gut und wahr sind, die wünsche ich mir, weil ich mich vor dem Wunsch nach Vermögen, Erfolg, Ruhm und den Gefühlen wie Neid und Hass schützen möchte."

"Ich fürchte, du wirst das, was du suchst, nie finden." entgegnete ich ihr. Sie jedoch schaute mir mit ihrem verklärten, aber dennoch festen Blick in die Augen und antwortete: "Wenn ich etwas suche, finde ich es nicht. Ich erschaffe es mir. Denn alles ist schon da. Wir müssen es nur noch zusammen bringen." "Woher nimmst du diese Gewissheit? Wie kannst du dir so sicher sein, dass die Bestandteile deines Wunsches dort draußen zu finden sind? Und woher nimmst du dein Wissen, dass sie sich so zusammenfügen, wie du möchtest?" So viele Fragen nahmen mich ein, so viele Antworten waren nicht befriedigend, so viele Ansätze führten in die falsche Richtung. Ich wollte eine Antwort, etwas in der Hand halten, womit ich arbeiten kann, ich hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus. Sie schien dies zu spüren und forderte mich zu etwas auf, was mir in diesem Moment unmöglich erschien: "Zügle deinen Wissenstrieb. Es führt zu nichts."

Verwundert wandte ich meinen Blick wieder gen Himmel. In meinem Kopf wiederholten sich diese Phrasen ständig. Mein Wissenstrieb führe zu nichts. Was wollte sie mir damit sagen? Dunkelheit übermannte mich. "Ich merke, dass du mich nicht ablehnst. Lass mich dir meine beiden Sätze von vorhin erklären." unterbrach sie die nachdenkliche Stille. "Es gibt Menschen, die nur dem Glauben schenken, was sie wissen. Sie stehen sich dabei oft selbst im Weg. Viele Menschen üben eine Tätigkeit gar nicht erst aus, weil sie zu wissen meinen, dass sie es nicht könnten. Viele Menschen haben ihren Traumberuf nicht ausgewählt, weil sie zu wissen meinen, dass sie es in dieser Branche nicht weit bringen würden. Aber in diesen Menschen, innen drin, da lebt der Wunsch oft noch weiter. Sie verstecken diesen oft, halten ihn einer Beachtung ihrerseits unwürdig. Sie vertrauen sich nicht mehr. Viele haben das Vertrauen verloren, viele schenken dem Wissen mehr Anerkennung. Und viele bemerken nicht, dass sie sogleich das Vertrauen in die Welt verlieren." Während sie die letzten Worte ihrer Rede sprach, sah sie mich fordernd, bittend und betrübt zugleich an. Sich mir abwendend fuhr sie fort. "Wenn du willst, führe ich dich wieder in die Welt, lasse dich wieder Vertrauen spüren. Aber später wirst du selbst es sein müssen, der dir den Weg zeigt." Nach ihren mächtigen Worten machte sie Anstalten, aufzubrechen und mich zurück zulassen, mit dem Nachklang ihrer Rede, mit dem Gedanken ihrer eigenen Philosophie, mit der Forderung einer, wie mir zunächst schien, Unmöglichkeit und einer Bestimmung, deren Sinn sich mir nicht erschloss. Noch nicht erschloss. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich mit der Zeit alles aufklären würde. Ich musste nur Vertrauen in sie haben. Ich sah ihr nach, folgte der zierlichen Gestalt mit meinem Blick, bis sie sich umschaute und mir damit zu verstehen gab, dass ich sie nun loslassen musste. Ich folgte ihrer stummen Anweisung und hing meinen eigenen Gedanken nach. Ihr Ziel für jenen Tag schien nun erreicht gewesen zu sein, denn als ich Minuten später selbst aufbrach, war sie nirgends mehr anzutreffen. Dennoch hatte ich Vertrauen in die Unbekannte, dass sie am nächsten Tag wieder neben mir ans Brückengeländer gelehnt warten würde. Unerklärlich. Aber ich lernte, dem Vertrauen zu vertrauen. Langsam, bedächtig, nachhaltig. Es schien ihr Ziel gewesen zu sein.

Es folgten viele Treffen, die mir unsagbar viel geholfen haben. Während ich vor der ersten Begegnung mit ihr bei jedem Hindernis, das sich mir in den Weg stellte, einen Wink des Schicksals darin sah, unsicher wurde, meine ganzen Wünsche und Träume infrage stellte und die Trauer wieder leichtes Spiel hatte, mich aufzunehmen in ihre sichere, düstere Welt, wurde mir während unseren Gesprächen klar, dass ich nur Vertrauen in mich haben muss, um solche Situation durch zu stehen, dass es nötig ist, dem Leben zu vertrauen, dass alles einen Sinn hat, meinen Wünschen zu vertrauen, dass sie eine Erfüllung wert sind. Denn ich weiß nun, dass dies der einzige Weg für mich ist, glücklich zu werden, dass sonst das eintreffen würde, wovor ich mich fürchte: Dies Leben nicht gelebt zu haben, wenn alles zu Ende ist.

Nun sitze ich im Zug und sehe die Endstation näher kommen. Meine Vergangenheit drängt sich mir auf, bis zur letzten Sekunde. Eine Stimme teilt mit, dass Endstation sei. Ich steige aus, verabschiede mich von meinem Wunsch nach einem klaren und geraden Weg, von meiner Vergangenheit, ich blicke nach vorn. Der Zug fährt zurück und lässt mich allein, denn er stammt von anderswo. Hier gehöre ich hin, hier war schon immer mein Ziel, obwohl ich es nicht wusste, hier ist das Ziel aller Menschen, obwohl sie es nicht wissen. Denn hier ist das, was man gemeinhin Leben nennt, anders ausgeführt, anders beschrieben, anders zu leben. Es ist die Wahrheit, ohne einzig zu sein. Ein Ort voller Friede, Liebe und einem Ja. Von mir ausgehend, aktiv gestaltbar, lebenstauglich. Auch hier gibt es Klippen und Hügel, Abgründe und Berge. Aber ich bin fähig, sie anzunehmen. Denn sie gehören zur Landschaft, prägen das Bild, sind das nötige Relief.Etwas ohne Struktur kann sich nirgends festhalten ohne abzurutschen. Es würde wie Wasser durch die Finger rinnen, im Angesicht der Monotonie.

Diese Gefahr ist hier nicht vorhanden. Denn hier ist mit alledem Schluss. Es geht nicht mehr zurück. Endstation.

 

Hallo hellschwarz!

Das fängt so schön an! Und dann wirds - verzeih! - Schwafelei. Das klingt so nach Bekenntnis. Nach Beichte. Das kann schön sein! Aber was mir beim Lesen gefehlt hat, war ein Zugang. Du schreibst von "dir". (Vom lyrischen Ich eben). Und das erzählt und erzählt und erzählt ... aber es erreicht mich nicht.

Das fand ich schade, denn ich sehe, dass du durchaus Sätze formulieren kannst.

Hier gehts um Identifikation. Wenn mich die Probleme, die deine Geschichte behandeln, nicht direkt betreffen, dann muss ich etwas dafür aufwenden, um mich hineinzuversetzen. Diese Arbeit muss aber motiviert werden. Und sei es das Versprechen, dass ich aus deinem Text etwas lernen kann.

Der erste Absatz in deinem Text hat (mir) das sogar versprochen.

Zwischen den Haltestellen steht die Zeit still. Gedanken können weite Wege gehen oder in sich gekehrt sich selbst betrachten. In solchen Momenten glimmen Erinnerungen auf, die kleinen Lichtpunkte im Leben, mit zarter Melancholie umwoben. Ich befinde mich im Nachtzug Richtung Norden und lebe meine Vergangenheit, denn damals hatte ich es nicht getan.

Das ist gut!

Aber dann sollte eine "richtige" Geschichte beginnen. Eine, in der sie das Leben lebt. In der der Leser ihr folgen kann. In der sie das Versprechen einlöst, dass du sie im ersten Abschnitt geben lässt.

Aber es kommt dann so:

"Ich fürchte, du wirst das, was du suchst, nie finden." entgegnete ich ihr. Sie jedoch schaute mir mit ihrem verklärten, aber dennoch festen Blick in die Augen und antwortete: "Wenn ich etwas suche, finde ich es nicht. Ich erschaffe es mir. Denn alles ist schon da. Wir müssen es nur noch zusammen bringen."

Und ich denke, okay, da will mir der Autor oder die Autorin einen Gedanken vermitteln und presst ihn halt umständehalber in einen Dialog. Das ist fad! Lass die Person es selber herausfinden. Lass es sie leben! Das bleibt im Gedächtnis.

"Mama sagt, man soll nicht auf die Ofenplatte langen."

Einerseits. Oder:

"Au, verdammt, die Platte war noch an!"

Man kann Gedanken nicht "pur" vermitteln. Man muss immer ein kleines Bisschen "Welt" mitgeben. Wie bei einer Pflanze. Die transportiert man auch mit einem Wurzelballen. :)

Bis bald,

yours

 

Ich danke dir erstmal für die Kritik.

Ich muss zugeben, dass ich, je öfter ich meinen Text gelesen habe, umso unzufriedener mit dem Dialogteil war, ohne einen Grund nennen zu können. Jetzt wurde mir durch deine Kritik bewusst, warum.

Beim Schreiben des Textes war ich auch sehr von dem Motiv eines Helfers, der einen zum eigenen Leben wird, geprägt. Und jetzt ist mir klar geworden, dass der Dialog für so etwas nicht unbedingt immer geeignet ist.

Ein wirklich schöner Vergleich mit der Pflanze, den werde ich mir immer im Hinterkopf behalten. Ich werde fortan versuchen, mein "Wurzelwerk" auszubauen.

 

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