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Endzeit
Ich stöbere durch den Schutt, suche nach den richtigen Brettern und trete aus dem Weg, was sich ganz offensichtlich nicht für einen Schreibtisch eignet. Also vieles. Dieser Haufen hat zwar vielversprechend ausgesehen, nun ist es aber doch ein Heuhaufen, nur der Lattenrost, der oben auflag, hatte halten können, was die bloße Optik versprochen hat. Mit dem Gedanken spielend, nur den zu nehmen und weiterzuziehen, höre ich kurz auf mit meiner Suche, schaue mich um und atme kurz durch. Auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber war mal die Psychologische Fachbuchhandlung gewesen, in die mich meine Mutter früher oft mitgenommen hat, wenn wir etwas Geld übrighatten und uns was gönnen konnten. Es war was Besonderes. Das große Highlight war mein zehnter Geburtstag gewesen, da schenkte sie mir einen Vortrag vom führenden Tarot-Experten Deutschlands, Hajo Banzhaf. Das Buch, das er mir signiert hat, habe ich leider nicht mehr, aber ich erinnere mich noch, wie ich ihm meinen Namen sagte und er meinte, ein Engel mit demselben Namen sei auf der Karte der Liebenden abgebildet. Das hat mich glücklich gemacht. Ich war kein normales Kind. Die Fenster sind nur noch Rahmen, an denen entlang dicker Ruß die Wand hinaufkroch, im Innern nur Schwärze. Dort suche ich gar nicht, ich will das Bild nicht überschreiben von den schönen kleinen Edelsteinen und dem Duft der Räucherstäbchen und den Büchern, von denen jedes von einer anderen, einer besseren Welt für einen selbst handelte.
Ich krame weiter, wuchte zerbrochene Türen und verbogene Metallstangen aus dem Weg. Ich bleibe lieber noch ein bisschen. Immerhin muss ich nirgendwo sein gerade, niemand erwartet mich und es gibt keine Pflichten mehr, die auffordern diese Suche zu unterbrechen. Das genieße ich. Wenn man Kind ist und spielt, ist man sein eigener Herr, man kann tun, was man will und wo man will, man konnte der stärkste Mann der Welt am Rande eines Vulkans sein oder ein Postbote in einer anderen Galaxie, das blieb ganz einem selbst überlassen. Sowas verliert sich im Erwachsenwerden. Gehorche, ist die Überschrift der Erinnerungen an meine Reise durch die Arbeitswelt, oder du wirst abgesägt. Gibt ja tausend andere wie einen selbst, die den gleichen Job machen können. Das ist das Problem, wenn man zum einen durchschnittlich ist, sich also nicht durch irgendein Talent oder Interesse hervorhebt, und dazu noch in eine unterprivilegierte Familie geboren wird. In meinem Fall war es eine Zweckgemeinschaft, meine Mutter und ich; ich hab sie gebraucht, um zu überleben, und sie… hatte wahrscheinlich keine Wahl. So gesehen diente ich wohl keinem Zweck, war wohl eher ein Kreuz, das es zu tragen galt. Aber das hatte sie gut versteckt, das muss ich ihr zu Gute halten. Oder ich war nur zu jung, um das zu merken, was mir dann schlussendlich die Füße unter ihrem Tisch wegzog und zu einem Streit führte, der nichts zwischen uns hinterließ außer Stille, die bis heute anhält. Aber das mit der Buchhandlung, dafür bin ich ihr dankbar. Wenigstens hat sie es damals noch versucht.
Ich hieve einen halben Gartenstuhl zur Seite und finde tatsächlich einen Fußball. Bin ich zwar nie Fan von gewesen, aber was solls. Ich fixiere ihn zwischen meinen beiden Händen, hole mit dem Bein aus und trete zu. Überrascht, wie hoch er fliegt, folge ich ihm mit meinem Blick durch die Luft, wo er ein erstaunlich kleiner Punkt in der grauen Wolkendecke wird; eine leise Stimme in mir singt ein Lied, das ich schon so lange nicht mehr gehört habe, Stolz. Dann höre ich das Auto. Der Ball fällt. Ich ahne es. Und es passiert. Der Schnittpunkt, keine zwanzig Meter von mir entfernt, ein dumpfer Aufprall. Quietschende Reifen, der Wagen hält direkt vor dem ausgebrannten Wohnblock. Wenn ich auf eines gerade überhaupt keine Lust habe, dann ist es Stress in irgendeiner Form. So krame ich weiter, schneide mich dabei an einem rostigen Scharnier und höre, wie eine Wagentür aufgeht und dann zugeschmissen wird.
»Hey, du! Hey, verdammt, ich rede mit dir du Stück Scheiße!« Der Typ schreit fast, ich überlege, wie man kredibel einen Gehörlosen nachahmt und schneide mich nochmal an demselben Scharnier, ohne mit dem sinnlosen Kramen aufzuhören oder den Blick in irgendeine Richtung zu drehen, die weg vom guten Schutt und womöglich noch einen anderen kreuzen könnte.
»Ach komm halt´s Maul, als wär´ da irgendwas passiert.«
Es war eine andere Stimme. Der Schreihals hatte gar nicht mit mir geredet. Ich atmete aus, langsam, fuck.
»Na warte, du kleiner…«
Jetzt sah ich hin, sah, wie der Fahrer mit ungewöhnlich breiten Schultern auf die ehemalige Psychologische Fachbuchhandlung zu geht und einen Typen am Kragen hinter sich herzieht, der zappelt und kehlige Laute von sich gibt. Sie verschwinden im Innern, der Dunkelheit. Keine drei Minuten später kommt einer raus. Der Fahrer, und ich weiß, dass er mich sieht und ich weiß, dass er auf mich zukommt und echt groß ist und ich ihn weiter anstarre. Aber wegsehen kann ich auch nicht. Blut tropft von meiner Hand. Da erkenne ich ihn.
»Basti?«
Da geht er langsamer, die Spannung in seinem Körper lässt nach, ich meine, Vorsicht in seinen Augen zu sehen.
»…Ja?«
Er ist es tatsächlich. Vor einigen Jahren habe ich in einer Karaokebar gejobbt, da hat er dreimal die Woche gesungen, so oft halt auf war. Er war damals schon riesig, aber ein guter Kerl, wirklich, trank keinen Alkohol und weinte trotzdem am Ende von so manchem Lied. Wir hatten uns öfter über ihn lustig gemacht wegen seiner emotionalen Art, manchmal auch auf eine böse Weise, wenn es uns schlecht ging und wir was brauchten, um es rauszulassen, dann ging es immer um seine Frau, die ihn schlägt, was ein offenes Geheimnis gewesen ist.
»Hehey, Basti, Mann, wie… wie geht’s dir denn so, Mann?«
Er atmet immer noch schwer, wischt sich Blut aus dem Mundwinkel und will diesmal mir nicht in die Augen sehen.
»Ach, es geht schon. Es geht schon.«
Er geht einfach weg, ohne den Blick nochmal zu heben. Steigt in sein Auto und fährt los.
Was mich so extrem schockiert hat, war seine Stimme. Wie rau sie war, als er mit dem Typen geredet hat, der nicht mehr aus der Buchhandlung rausgekommen ist. Früher hat er gesungen wie Bono. Heute klang er wie ein Nagel auf einer Tafel. Komische Zeiten, in denen wir leben.