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Engel oder Dämonen
September 2005: Nach den vorgezogenen Bundestagswahlen erhält eine konservativ-bürgerliche Regierung die Mehrheit. In einer ersten Stellungnahme werden harte Einschnitte ins soziale System bekannt gegeben. Des Weiteren soll der Kündigungsschutz gelockert werden, um mehr Beschäftigung zu schaffen sowie die Mehrwertsteuer auf 18% ansteigen, um den Staatshaushalt zu sanieren.
9 November 2005: Die Arbeitslosenzahl übersteigt wieder 5 Millionen.
1 Dezember 2005: Die Mehrwertsteuer wird nochmals angehoben und beträgt nun 20%, der reduzierte Satz wird auf 10% erhöht. Gewerkschaften, Unternehmen sowie der Handel bezeichnen die Mehrwertsteuererhöhung als tödliches Gift für die Konjunktur.
30 Januar 2006: Die Arbeitslosenzahl erreicht 5,5 Millionen Menschen. Um die Massenarbeitslosigkeit finanzieren zu können, steigt die Arbeitslosenversicherung auf 8%, dass Arbeitslosengeld wird gekürzt. Gewerkschaften und soziale Verbände protestieren.
7 März 2006: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik übersteigt die Arbeitslosenzahl die Marke von 6 Millionen. Die Bundesregierung verabschiedet einen Sofortplan zur Sicherung des sozialen Wohles, geplant sind weitere Einschnitte in das soziale Netz. Es kommt zu spontanen Protestaktionen.
23 März 2006: Die Proteste sind nicht mehr spontan sondern geplant. An manchen Tagen sind mehr als eine Million Menschen auf der Straße. Die Bundesregierung beschließt eine Verschärfung des Versammlungsrechts. Die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen wird nun mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
28 März 2006: „Die Schlacht von Kreuzberg“ Unter diesem Namen geht das blutige Ende einer Osterdemonstration in die Geschichtsbücher ein. Mehrere 100.000 Demonstranten versammelten sich in Kreuzberg um einen Protestzug in Richtung Reichstag zu starten. Die Polizeieinheiten, welche den Zug stoppen sollten, schlossen sich ihm an, um gegen die eigenen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Herbeigerufene Einheiten der Bundeswehr konnten den Zug verlangsamen. Unbestätigten Berichten zufolge gab der Bundesinnenminister selbst den Befehl mit scharfer Munition in die Menge zu feuern. Ein Teil der Bundeswehreinheiten kam dem Befehl nach, während andere Truppenteile sowie die Polizeieinheiten zurückschossen. Am Ende des Tages erlagen 5974 Menschen ihren Verletzungen, mehrere 10.000 Verwundete mussten behandelt werden.
29 März 2006: Bundesweit demonstrieren die Menschen gegen die Bundesregierung. Große Teile der Polizei und der Armee unterstützen die Demonstranten. International wird das Vorgehen der Bundeswehr am vergangen Tag als Menschenverachtend kritisiert.
30 März 2006: Die Bundesregierung flieht aus dem Land. Ein Militärtribunal ergreift die Macht und stellt die Ordnung wieder her. Als erste Amtshandlung bitte sie die UNO um den Entsatz einer Übergangsregierung, bis Neuwahlen durchgeführt werden können.
1 Juli 2006: Nach einem erbitterten Wahlkampf steht die Partei der christlichen Nächstenliebe als Sieger fest. Mit einer Traumquote von 74,38% und einer Alptraumwahlbeteiligung von 10,98% eine Wahl der Extrema. Die Partei der christlichen Nächstenliebe verspricht soziale Gerechtigkeit, Steuersenkungen und mehr Arbeitsplätze.
Langsam breitete er die Zeitung vor sich aus, die Schlagzeile nahm fast das gesamte obere Viertel der Titelseite ein:
Dies sind die Ergebnisse
War es wirklich erst ein Jahr her? Marco fand dies merkwürdig, er konnte sich kaum noch an ein Leben ohne die Regierung der christlichen Nächstenliebe erinnern. Doch wirklich, dass Datum auf der Zeitung zeigt eindeutig den 14. Juli 2007. Heute vor einem Jahr nahm die Partei der christlichen Nächstenliebe ihre Arbeit auf.
Der Artikel strotze nur so vor Wohltaten und Verbesserungen für die Bevölkerung. Einen Rückgang der Kriminalitätsrate um mehr als 80%, Senkung der Lohnnebenkosten, die konsequente Umsetzung der 10 Gebote, Steuersenkungen für Arbeitnehmer und eine kaum noch messbare Arbeitslosenquote. Marco wunderte sich nicht, dass von den ganzen negativen Entscheidungen der Regierung nichts geschrieben wurde. Kein Wort über die Abschaffung des Grundgesetzes und Einführung der Bibel als oberste Instanz, der Wiedereinführung der Todesstrafe oder der Schließung der Grenzen. Im Gegenteil, die vor kurzem begonnenen Arbeiten für den Grenzwall wurden als „notwendige Schutzmaßnahme gegen fundamentalistische Terroristen“ gelobt. Am Ende des Artikels lobt der Stellvertreter Gottes auf Erden den Kurs der deutschen Regierung und fordert die Regierungen anderer Staaten auf, sich ebenfalls Gottes Geboten hinzugeben. Aber was erwartet man auch von einer Zeitung, welche sich das „Sprachrohr Gottes“ nennt? Auch wenn dies die offizielle Zeitung für Deutschland ist.
Ein kurzer Blick zur Uhr, es ist kurz vor 10 Uhr. Um 11:15 hat Marco einen Termin bei der Vermittlungsagentur für Arbeit. Es ist schon komisch, die Arbeitslosenquote soll kaum noch messbar sein, aber viele von Marco's Bekannten haben keine Arbeit, er selbst ist erst seit kurzem erwerbslos. Der Weg dürfte nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, es bleibt genügend Zeit, noch die Nachrichten zu hören. Und zwar die richtigen Nachrichten und nicht die Vorgaben der Regierung, welche die staatlichen Medien verbreiten. Natürlich ist der Empfang solcher Programme verboten, Marco hält sich da an das 11 Gebot: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Sein Empfänger ist ein einer Kommode versteckt, unter jeder Menge Kleinkram. Auf der Kommode liegt sein Kündigungsgrund, seine Arbeit der letzen vier Jahre. Ein Buch in einem unscheinbaren blauen Einband, auf dem in grünen Buchstaben
oder
wie wir uns selbst betrügen
steht. Bücher mit solchen Themen sind in einem Gottesstaat nicht erwünscht. Das Exemplar ist das einzige, das jemals gedruckt wurde. Marco schlägt wieder mal die erste Seite auf und liest die Widmung: Für Barbara, die höchst bezaubernde Frau aus dem Sprachkurs. Ich hatte nie den Mut dich anzusprechen. Genug Gedanken an Vergangenes verschwendet, denkt Marco, Zeit für die das Jetzt. Er holt sein Radio heraus und schaltet es ein.
„Es ist 10 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit. Hier ist BBC Deutschland mit den Nachrichten.
Berlin: Heute tritt das von den Kritikern so genannte Unsafer-Sex-Gesetz in Kraft. Danach ist die Herstellung, der Verkauf und die Verwendung von Mitteln zur Empfängnisverhütungsmitteln verboten. Zuwiderhandlungen werden mit dem Tod bestraft. Der Papst begrüßt das Gesetz als „Schutz für das besonders schützenswerte ungeborene Leben“. Nachdem vor einem Monat bereits außerehelicher Geschlechtsverkehr bei Todesstrafe verboten wurde, erhöht sich die Anzahl der Verbrechen, welche mit dem Tod bestraft werden auf 35.
Konstanz: In der letzen Nacht enterten mehr als 300 Flüchtlinge aus Baden-Würtemberg die Fähre Kreuzlingen und flohen über den Bodensee in die Schweiz. Die deutsche Grenzwacht nahm die Verfolgung auf und beschoss die Fähre. Einheiten der Schweizer Grenzer kamen den Flüchtlingen zur Hilfe und erwiderten das Feuer. Die Fähre konnte im Hafen von Kreuzlingen anlegen, wo einige Leichtverletzte medizinisch versorgt wurden. Über Verluste bei der deutschen Grenzwacht liegen keine Informationen vor.
New York: Die UNO-Vollversammlung berät über einen Plan zur Bekämpfung von diktatorischen und unterdrückerischen Regimen zum Schutz der Bevölkerung. Eine Möglichkeit ist der Einsatz von Spezialeinheiten, um die Führer der Regime festzunehmen. Zur Zeit stuft die UNO 21 Regierungen als menschenrechtsverletzend ein, darunter Nord-Korea, Kongo und Deutschland. Welche Kriterien für einen Einsatz erfüllt werden müssen, ist jedoch noch nicht klar.
Das Wetter: Im Verlaufe der Nacht ziehen Wolken über Mitteleuropa und bringen...“
Marco schaltet sein Radio aus und verstaut es wieder in der Kommode. Vielleicht hätte er doch wählen gehen sollen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht wäre es noch schlimmer geworden, wer weiß es schon? Nur über die Vergangenheit nachzudenken, bringt ihn nicht weiter, Marco fängt an seine Unterlagen zusammenzupacken.
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„Marco! Hey, Alter. Was treibst du hier in der Gegend?“ Rachid, einer von Marco's Freuden kam ihm auf der Straße entgegen.
„Rachid, du alter Kameltreiber aus Marokko. Sag bloß du hast mal wieder Freigang“. Lachend umarmten sich die beiden.
„Also, wie geht's dir?“ will Rachid wissen.
„Schlecht, ich bin ayrbeitslos und brauche bald nen neuen Job. Und du? Hast du inzwischen was Neues gefunden?“
„Nein, ich denke als Christ bekommst du schneller einen Job als ein Moslem. Ich wollte konvertieren, bin aber grade durch den Christentest gefallen.“
„Was für ein Teil? Christentest? Davon höre ich zum ersten Mal.“
„Wenn du von einer anderen Religion zum Christentum übertreten willst, musst du einen Test machen, der zeigen soll, wie gut du dich in deinem neuen Glauben auskennst. Die 10 Gebote in die drei Gebote und die sieben Gebote aufzuteilen war ja kein Problem, nur die in den Originaltext zu übersetzen, davon hab ich doch keine Ahnung.“
„Verdammt Rachid, dass tut mir leid für dich. Du, ich muss los zu meinem Termin, aber wir telefonieren heute noch, ok?“
„Alles klar Alter, viel Glück.“
„Danke, dir auch.“
Christentest, was es nicht alles gibt. Was kommt als nächstes? Eine Falsche-Kirchensteuer für die Nichtchristen? Marco schüttelt den Kopf und geht weiter auf seinem Weg.
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Einige Minuten zu früh trifft Marco bei der Vermittlungsagentur für Arbeit ein. Die Gänge quellen über vor Menschen. Lange Warteschlangen haben sich vor den Informationsschaltern gebildet. Da Marco einen Termin hat, sucht er das Büro seines Sachbearbeiters. Er klopft an die Tür und tritt ein. Nach einer kurzen Begrüßung ruft der Sachbearbeiter Marco's Akte auf, blickt kurz hinein und sagt:
„Tja, dass sieht schlecht aus. Auf dem Arbeitsmarkt für Nichtchristen ist absolut nichts frei. Ich glaube auch nicht, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändern wird.“
„Was heißt hier Nichtchrist? Schauen Sie noch mal in ihre Akte, ich bin evangelisch!“
„Sie sagen es ja selbst: Evangelisch! Das ist eine Sekte die sich vom Christentum abgespalten hat und die Lehre Jesu Christi pervertiert. Sie könnten genauso gut Mutter Erde anbeten und nun raus mit ihnen!“
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Mehr als nur leicht verwirrt geht Marco zu seiner Wohnung zurück. Seit wann sind Protestanten keine Christen mehr? Die Kirchenspaltung ist mehrere 100 Jahre her und danach kräht heute eigentlich kein Hahn mehr. Weiter vorne auf der Straße kommt es zu einem Tumult, Männer in weißen Mäntel stoßen die Passanten beiseite und jagen eine junge Frau Anfang 20. Es sind Inquisitoren, gnadenlose Jäger derjenigen, welche sich mit den Mächten des Bösen verbünden und die Ordnung des Landes stören. Kaum jemand überlebt ein Verhör von ihnen, ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber Ungläubigen ist grenzenlos und auch die Christen fürchten sie. Ihr heutiges Opfer scheint Glück zu haben, flink umkurvt sie die wenigen Passanten, welche auf der Straße sind. Noch wenige Meter und sie erreicht die Straßenecke, zwei Blocks weiter liegt ein kleiner Wald, in dem sie sich vielleicht verstecken kann. Marco wünscht ihr im Stillen viel Glück. Die Inquisitoren scheinen einzusehen, dass sie keinen Erfolg haben und ziehen ihre Waffen, feuern hinter der Flüchtigen her. Ein brennender Schmerz breitet sich an der linken Hüftseite von Marco aus, eine der Kugeln hat ihn erwischt. Er presst eine Hand auf die Wunde, um den Blutstrom ein wenig zu blockieren, dennoch geht er in die Knie. Die Inquisitoren laufen an ihm vorbei, nur einer bleibt stehen.
„Welcher Religion gehören Sie an, Bürger?“ möchte dieser Wissen.
„Ich bin evangelisch getauft.“
„Suchen Sie einen Arzt auf.“ Der Inquisitor dreht sich um und folgt seinen Kollegen.
Auf der anderen Straßenseite kann Marco das Schild von einer Arztpraxis oder einem Rechtsanwalt entdecken, er schleppt sich näher heran um es zu lesen. Er scheint ausnahmsweise mal Glück zu haben, es handelt sich wirklich um eine Arztpraxis von einem gewissen Jan Rosenstein und die Praxis hat zur Zeit Sprechstunde.
Marco wankte die Stufen ins Haus und lehnt sich an dem Empfangstresen. Eine Arzthelferin blickt besorgt auf.
„Guten Morgen, kann ich Ihnen helfen?“
„Ja,“ presst Marco hervor, „ich bin verletzt und brauche Hilfe.“
„Wir dürfen in dieser Praxis nur jüdische Patienten behandeln, sonst verliert der Doktor seine Zulassung. Sind Sie Jude?“
„Nein, aber ich wurde grade vor ihrer Tür angeschossen und brauche Hilfe. Es ist ein Notfall.“
„Wir dürfen keine Ausnahmen machen, tut mir leid. Bitte gehen Sie jetzt.“
Wieder draußen angekommen wird Marco schwarz vor Augen, der Blutverlust macht sich bemerkbar, er schwankt und fällt hin. Als er die Augen wieder öffnet blickt er auf ein paar schwarzer Stiefel und blaue Hosen. Ein Streifenpolizist ragt vor ihm in die Höhe.
„Helfen Sie mir“, stammelt Marco, „bitte, ich wurde angeschossen und die da drinnen dürfen nur Juden behandeln.“
Der Polizist geht in die Knie und blickt Marco ins Gesicht.
„Keine Sorge, dass wird schon wieder. Ich rufe Ihnen einen Rettungswagen, warum wurde dies nicht schon längst gemacht?“
„Ich ... bin ... evangelisch ... die ... wollen ... mich ... nicht...“
Der Polizist steht wieder auf, dass freundliche Lächeln, welches eben auf seinen Zügen lag, ist weg. Der Beamte zieht seinen Taser und zielt auf Marco.
„In diesem Fall muss ich Sie bitten, sofort aufzustehen und einen für Sie zulässigen Arzt aufzusuchen. Herumlungern ist nicht gestattet.“
„Ich ..... kann ..... nicht. ..... Bitte ..... helfen ...... Sie ..... mir. .... Ich .....“
Der Polizist drückt ab und als die Stromladung durch Marco's Körper zuckt, gehen bei ihm die Lichter für immer aus.