Engel
Sie schläft tief, atmet ruhig. Von Zeit zu Zeit zuckt ihr rechtes Augenlid leicht, kaum merklich. Aber er sieht es.
Nach so langer Zeit kennt er sie in- und auswendig. Er beobachtet sie viel, ihm gefällt das. Ohne zu reden kann er sich stundenlang neben sie setzen und sie ansehen, jede Kleinigkeit. Wie sie sich mit der rechten Hand durch ihr langes Haar fährt, wenn sie verlegen ist. Wie sie beide Augen beim Nachdenken leicht zusammenkneift. Er kann ihre schmeichelnden Fältchen um die Augen und das Grübchen in der linken Wange beobachten, wenn sie lacht. Sie lacht viel. Er kann sich auch nach langem Überlegen nicht vorstellen, wie sie aussieht, wenn sie weint.
Wieder zuckt ihr Augenlid. Sie dreht sich vom Rücken auf die linke Seite, schläft weiter. Er setzt sich vorsichtig neben sie an den Bettrand. Ihr Gesicht ist ihm zugewandt. Er möchte ihr sanft über die Wange streichen, zieht die Hand aber kurz vor der Berührung zurück. Sie sieht aus, als ob sie ein leichtes Lächeln auf den Lippen hätte.
So sieht sie meistens aus. Einfach fröhlich. Probleme versucht sie mit all ihren Kräften aus dem Weg zu schaffen, gibt nie auf. Das bewundert er an ihr. Ihm wird es schnell zu viel. Manchmal schreit er sie an, in letzter Zeit immer häufiger. Danach tut es ihm leid. Sie vergibt ihm wieder und wieder. Er findet, dass er das nicht verdient. Aber sie hat ein gutes Herz, hat Verständnis, hilft wo sie kann. Ihr wird es nie zu viel. Sie ist sein Engel.
Und so sieht sie auch aus. In ihrem roséfarbenen Nachthemd liegt sie auf dem Bett, die langen Beine an den zierlichen Körper gezogen, eine Hand unter der Wange, die andere liegt auf ihrem Oberschenkel. Ihr langes dunkelbraunes - ja fast schwarzes - Haar ist auf dem Kissen ausgebreitet. Er riecht den Duft ihres Parfums, atmet tief ein.
Wie konnte er sie je anschreien? Und wie konnte sie ihm immer wieder verzeihen? Und warum tat sie das? Er kommt sich schlecht vor, weil sie so gut ist. Er kann an ihr nichts Schlechtes finden, keinen Fehler. Und er selbst hat doch so viele. Sie mag auch seine Fehler, kann darüber lachen. Sie scherzen viel gemeinsam. Ihr Lachen ist herzlich, nie aufgesetzt. Denn sie ist ehrlich, ist es immer gewesen. Wahrscheinlich hat sie noch nie in ihrem Leben die Unwahrheit gesagt. Ihm allerdings verzieh sie auch seine Lügen. Warum? Sie ist zu gut für ihn.
Ihr Nachthemd ist roséfarben. In einem Kleid dieser Farbe möchte sie heiraten. Es passe so gut zu ihrem dunklen Haar. Alles wäre perfekt. Wie immer. Sie sagt, sie sei glücklich. Sie freut sich auf die Hochzeit. Sie richtete die Wohnung ein, stellte Pflanzen auf den Balkon, rahmte Fotos von ihnen beiden, dekorierte die kahlen Fenster. Seidener Bettbezug, glänzende Waschbecken, polierter Boden, teure Teppiche, blanke Fenster, Designermöbel und -kleidung. Sie ist perfekt, die Wohnung ist es und ihr Leben. Alles - bis auf ihn. Ein Mann wie er kann nicht mit einem Engel wie ihr in diesem Paradies leben. Auf Dauer geht das nicht, er weiß es.
Es wird heller im Zimmer, einzelne Sonnenstrahlen fallen durch die Vorhänge ins Schlafzimmer, auf das Bett. Sie wird bald aufwachen, die andere Betthälfte leer vorfinden, ihn beim Joggen vermuten, aufstehen. Sie wird das Nachthemd über den Kopf ziehen, ins Bad gehen, das lange Haar mit einer Spange nach oben stecken, eine Dusche nehmen. Nach dem Duschen wird sie sich abtrocknen, eincremen, die Zähne putzen. Sie wird sich schminken, nicht übertrieben, nur um etwas frischer zu wirken, wie sie selbst sagt. Sie wird die Haarspange lösen, ihr langes glänzendes Haar frisieren. Zurück im Schlafzimmer wird sie sich ihr Kleid anziehen, im Schuhschrank die dazugehörigen Schuhe suchen. Angezogen wird sie zurück ins Bad gehen, um die Dusche zu reinigen. Wegen der Kalkflecken. Nun wird sie das Frühstück vorbereiten. Tisch decken, Kaffee kochen, sie wird Brötchen und Zeitung holen, sich an den Tisch setzen und darauf warten, dass er vom Joggen kommt. Und sie wird in ihrer gewohnten Fröhlichkeit ein Lied summen und in sich hinein lächeln.
Aber er wird nicht kommen. Sie wird später einen Zettel an seinem leer geräumten Schrank finden. „Du bist ein Engel.“