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Engel

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21.04.2005
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Engel

Sie schläft tief, atmet ruhig. Von Zeit zu Zeit zuckt ihr rechtes Augenlid leicht, kaum merklich. Aber er sieht es.
Nach so langer Zeit kennt er sie in- und auswendig. Er beobachtet sie viel, ihm gefällt das. Ohne zu reden kann er sich stundenlang neben sie setzen und sie ansehen, jede Kleinigkeit. Wie sie sich mit der rechten Hand durch ihr langes Haar fährt, wenn sie verlegen ist. Wie sie beide Augen beim Nachdenken leicht zusammenkneift. Er kann ihre schmeichelnden Fältchen um die Augen und das Grübchen in der linken Wange beobachten, wenn sie lacht. Sie lacht viel. Er kann sich auch nach langem Überlegen nicht vorstellen, wie sie aussieht, wenn sie weint.
Wieder zuckt ihr Augenlid. Sie dreht sich vom Rücken auf die linke Seite, schläft weiter. Er setzt sich vorsichtig neben sie an den Bettrand. Ihr Gesicht ist ihm zugewandt. Er möchte ihr sanft über die Wange streichen, zieht die Hand aber kurz vor der Berührung zurück. Sie sieht aus, als ob sie ein leichtes Lächeln auf den Lippen hätte.
So sieht sie meistens aus. Einfach fröhlich. Probleme versucht sie mit all ihren Kräften aus dem Weg zu schaffen, gibt nie auf. Das bewundert er an ihr. Ihm wird es schnell zu viel. Manchmal schreit er sie an, in letzter Zeit immer häufiger. Danach tut es ihm leid. Sie vergibt ihm wieder und wieder. Er findet, dass er das nicht verdient. Aber sie hat ein gutes Herz, hat Verständnis, hilft wo sie kann. Ihr wird es nie zu viel. Sie ist sein Engel.
Und so sieht sie auch aus. In ihrem roséfarbenen Nachthemd liegt sie auf dem Bett, die langen Beine an den zierlichen Körper gezogen, eine Hand unter der Wange, die andere liegt auf ihrem Oberschenkel. Ihr langes dunkelbraunes - ja fast schwarzes - Haar ist auf dem Kissen ausgebreitet. Er riecht den Duft ihres Parfums, atmet tief ein.
Wie konnte er sie je anschreien? Und wie konnte sie ihm immer wieder verzeihen? Und warum tat sie das? Er kommt sich schlecht vor, weil sie so gut ist. Er kann an ihr nichts Schlechtes finden, keinen Fehler. Und er selbst hat doch so viele. Sie mag auch seine Fehler, kann darüber lachen. Sie scherzen viel gemeinsam. Ihr Lachen ist herzlich, nie aufgesetzt. Denn sie ist ehrlich, ist es immer gewesen. Wahrscheinlich hat sie noch nie in ihrem Leben die Unwahrheit gesagt. Ihm allerdings verzieh sie auch seine Lügen. Warum? Sie ist zu gut für ihn.
Ihr Nachthemd ist roséfarben. In einem Kleid dieser Farbe möchte sie heiraten. Es passe so gut zu ihrem dunklen Haar. Alles wäre perfekt. Wie immer. Sie sagt, sie sei glücklich. Sie freut sich auf die Hochzeit. Sie richtete die Wohnung ein, stellte Pflanzen auf den Balkon, rahmte Fotos von ihnen beiden, dekorierte die kahlen Fenster. Seidener Bettbezug, glänzende Waschbecken, polierter Boden, teure Teppiche, blanke Fenster, Designermöbel und -kleidung. Sie ist perfekt, die Wohnung ist es und ihr Leben. Alles - bis auf ihn. Ein Mann wie er kann nicht mit einem Engel wie ihr in diesem Paradies leben. Auf Dauer geht das nicht, er weiß es.
Es wird heller im Zimmer, einzelne Sonnenstrahlen fallen durch die Vorhänge ins Schlafzimmer, auf das Bett. Sie wird bald aufwachen, die andere Betthälfte leer vorfinden, ihn beim Joggen vermuten, aufstehen. Sie wird das Nachthemd über den Kopf ziehen, ins Bad gehen, das lange Haar mit einer Spange nach oben stecken, eine Dusche nehmen. Nach dem Duschen wird sie sich abtrocknen, eincremen, die Zähne putzen. Sie wird sich schminken, nicht übertrieben, nur um etwas frischer zu wirken, wie sie selbst sagt. Sie wird die Haarspange lösen, ihr langes glänzendes Haar frisieren. Zurück im Schlafzimmer wird sie sich ihr Kleid anziehen, im Schuhschrank die dazugehörigen Schuhe suchen. Angezogen wird sie zurück ins Bad gehen, um die Dusche zu reinigen. Wegen der Kalkflecken. Nun wird sie das Frühstück vorbereiten. Tisch decken, Kaffee kochen, sie wird Brötchen und Zeitung holen, sich an den Tisch setzen und darauf warten, dass er vom Joggen kommt. Und sie wird in ihrer gewohnten Fröhlichkeit ein Lied summen und in sich hinein lächeln.
Aber er wird nicht kommen. Sie wird später einen Zettel an seinem leer geräumten Schrank finden. „Du bist ein Engel.“

 

Hi!
Mir hat die Geschichte gut gefallen. Ich mag die Stimmung. Außerdem hatte sie für mich irgendwie einen überraschungseffekt, da ich zunächst dachte, "er" wäre der engel, der an ihrem bett wacht.
die geschichte lässt jedoch einige fragen offen, besonders, warum er sie verlässt. weil sie zu gut für ihn ist? Naja, aber vielleicht ist es auch nicht unbedingt nötig, dass der leser das erfährt...

liebe grüße,
Casey

 

Hi Maia!

Ich glaube, dass es hier sogar besser ist, dass der Hintergrund, also warum er sie verlassen hat, nicht deutlich wird. Dadurch ist das Ende schöner. Es macht nachdenklich. Zwar ist eigentlich das Ende klar. Nämlich, dass er sie verlässt, nur einen Zettel hinterlässt und sie ihn irgendwann im Laufe des Tages finen wird. Was einen jedoch nachdenklich macht ist einmal, dass der Grund, warum er sie verlässt, nicht klar ist und weil er ja am Schluss nur glaubt, dass sie es so machen wird, wie beschrieben.

Eine tolle Geschichte!

LG, Naomi

 

Hallo Casey, hallo Naomi,

danke fürs Lesen und natürlich noch mehr für das Lob. Es freut mich sehr, dass Euch die Geschichte gefallen hat.

Ich finde auch, dass nicht mehr verraten werden sollte über seine Gründe als schon in der Geschichte steht. Das würde die Stimmung, die ich hoffentlich erzeugen konnte, zerstören.
So kann sich jeder seine ganz persönlichen Gedanken darüber machen.

Liebe Grüße,
Maia

 

Hallo Maia

In ihrem roséfarbenen Nachthemd liegt sie auf dem Bett
...
Ihr Nachthemd ist roséfarben
Eine der beiden Beschreibungen würd ich löschen. Die Wiederholung stört beim lesen.

Eine sehr schöne Geschichte, und Liebeserklärung. Schade nur, dass er nicht einfach versucht sich zu ändern, wenn er sie doch so liebt.

Gruß
LoC

 

Hallo Lady of Camster,

vielen Dank fürs Lesen, freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefällt.
Das mit der Wiederholung werd ich mir nochmal durch denk Kopf gehen lassen, wobei ich eigentlich ganz bewusst solche Wiederholungen mit eingebaut habe.

Lieben Gruß,
Maia

 

Hallo Maia,

eine schöne Geschichte, auch wenn sie zuweilen durch die vielen Beschreibungen etwas aufgesetzt wirk. Aber dennoch lässt sie sich gut und flüssig lesen, wobei sie eine passende Atmosphäre aufbaut. Ich finde, dass man den Grund für seinen Weggang sehrwohl erahnen kann. Dein Prot fühlt sich ihr einfach unterlegen. Das ist wenigstens meine Meinung. Wenn man sich dem Partner in allen Dingen unterlegen fühlt, kann das die Beziehung enorm beeinflussen. Auch wenn sie es nicht will, suggeriert sie ihm immer das Gefühl etwas schlechteres zu sein und dadurch fühlt er sich schlecht.

Einen lieben Gruß...
morti

 

Hi Maia,

sehr schön, und eine wundervolle Frau! Ich kann sie auch vor mir sehen. Sie erinnert mich an Harey aus Stanislaw Lems Solaris, das schreibe ich nicht, weil ich das Gefühl habe, alles schon einmal gelesen zu haben, sondern, weil der Eindruck wirklich stark ist.

Bei einer Stelle war ich stilistisch fast schockiert, nämlich in Folgendem der zweite Satz:

Angezogen wird sie zurück ins Bad gehen, um die Dusche zu reinigen. Wegen der Kalkflecken.
und ich habe erst einmal aufgehört zu lesen und mir gedacht: "Was sollen die Kalkflecken hier?" Das fand ich also nicht schön, alles andere dagegen ist gelungen.

Grüße, Christian

 

Hm, ihc fand die Geschichte ganz nett, allerdings nicht überragend. Dafür gibt sie mir zu wenig.
Er beschreibt, warum sie ein Engel für ihn ist und am Ende geht er. Tja. Ich kenne ihn nicht wirklich gut, sie auhc nicht viel mehr und der Grund, aus dem er scheinbar geht, ist in meinen Augen etwas dürftig. Beziehungsweise habe ich nicht den Eindruck, dass nur dieser eine Punkt für den Charakter des Protagonisten ausreicht, um zu gehen. Vor allen Dingen: Warum überlegt sich der Prot. ausgerechnet in dem Moment, warum er sie immer angeschrieen etc hat? Was ist der Auslöser dafür?
Für meinen Geschmack ist von allem etwas wenig in der Geschichte.

Lieben Gruß
moon

 

Da schaue ich nach längerer Zeit zufällig hier herein und dann gleich so viele Kommentare auf einmal, freut mich natürlich :)
Danke fürs Lesen!

@morti: Da kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen. Genau das ist natürlich der Grund, warum er sie verlässt und ich bin eigentlich auch überzeugt, dass das ein nachvollziehbarer Grund ist für seine Entscheidung. Deine Beschreibung zeigt das ja auch.

@Christian: Das hat mich natürlich besonders geehrt :) Solch ein Kompliment, freut mich, dass die Geschichte bei dir einen so starken Eindruck hinterlassen hat. Ja, ich gebe zu, die Kalkflecken stören hier und ich bin auch schon darüber gesolpert. Aber irgendwie konnte ich mich nicht von ihnen trennen ;) , weil sie diese Perfektion in ihren Handlungen einfach noch verstärkt haben. Ich werde auf jeden Fall noch mal darüber nachdenken.

@moonshadow: Es stimmt, man kennt ihn nicht und sie auch nicht. Aber ich wollte eigentlich auch keine genauere Beschreibung über die beiden abgeben. Ich war eigentlich der Meinung, dass das Problem der beiden klar wird und auch sein Handeln nachvollziehbar ist. So wie es morti schon geschrieben hat.
Und ich denke, er überlegt sich in diesem Moment, warum er sie immer angeschrieen hat, weil er über ihr Verhältnis nachdenkt. Er möchte etwas finden, was ihre Beziehung doch retten kann. Allerdings stößt er immer wieder darauf, dass er nicht gut genug für sie ist und bereut das hier, als er dabei ist, die Entscheidung zu treffen, dass er sie verlassen wird.

Lieben Gruß,
Maia

 

Allerdings fällt mir jetzt auf, dass ich natürlich genau das gemacht habe, was ich eigentlich nicht wollte. Oben habe ich es schon geschrieben... Es sollte nicht mehr über seine Gründe gesagt werden als schon da steht.
Aber ich werde mich auf jeden Fall noch mal damit beschäftigen, vielleicht kann man es ja im Text noch verdeutlichen, ich dachte nur, es kommt klar heraus.

 
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Nette Geschichte

Hallo Maia,

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen. Gut, sie geht vielleicht nicht genug auf ihre Beziehung und ihre Persönlichkeiten ein, aber gerade die Kompaktheit macht den Text so dicht und eindringlich. Dazu ist die Stimmung aber notwendig, weil sie allein die Tiefe erzeugt, die mich so in den Text zieht.

Ein paar Anmerkungen, die zu beherzigen Dir natürlich freigestellt ist:

Sie mag auch seine Fehler, kann über sie lachen.
"auch" verfälscht den Sinn dieses Satzes, wie ich glaube. Liest sich fast so, als ob sie mehr Männer hätte, über deren Fehler sie lachen kann. "darüber" u.ä. passt (für mein Gefühl) nur auf unzählbare nichtkörperliche Substantive, zum Beispiel Gesagtes, woanders schreibe ich meist über + Pronomen.

Ihm allerdings verzieh sie auch seine Lügen.
Dito. Außerdem gibt es auch vergeben als Synonym für das schon verwendete Wort "verzeihen".

Es passte so gut zu ihrem dunklen Haar.

Auf Dauer geht das nicht, er weiß es.
Ich würde schreiben: ..., das weiß er.

Sie wird bald aufwachen, die andere Betthälfte leer vorfinden, ihn beim Joggen vermuten, [...] Und sie wird in ihrer gewohnten Fröhlichkeit ein Lied summen und in sich hinein lächeln.
Diese Passage ist dir ausgezeichnet gelungen!

Das Ende hat mich entzwei gerissen: Einerseits traurig, andererseits war ich glücklich, dass Dein Protagonist sich von der unheimlichen Perfektion seiner Liebschaft und seinem schlechten Gewissen, ihrer unendlichen Gutmütigkeit nichts entgegensetzen zu können zu befreien im Stande war. Und das Ende gibt auch der überaus idealisierten Darstellung des Mädchens einen Sinn.


Gern gelesen,
FLoH.

 

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