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Enten und andere Mörder

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09.06.2024
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Enten und andere Mörder

Rüdiger liegt im Bett und starrt seit zwei Stunden an die Decke. Seine eigentliche Schlafenszeit ist längst vorbei. Jetzt ärgert sich Rüdiger, denn er muss morgen früh raus. Schließlich gibt er es auf. Rüdiger beschließt, einen Waldspaziergang zu machen, um seine Gedanken zu ordnen. Zum Glück lebt Rüdiger gleich neben einem Waldstück also hat er nur einen kurzen Weg. Auch seine Taschenlampe braucht Rüdiger nicht, denn es ist Vollmond.

Seine Spazierrunde führt ihn vorbei am Ententeich, wo gerade ein junges Pärchen eine ausführliche Untersuchung am jeweils anderen Körper vornimmt. Rüdiger tut so, als würde er sie nicht bemerken.
Er wandert weiter zu einer Weggabelung, in deren Mitte eine alte Eiche steht.
Auf der anderen Seite der Eiche und vor Rüdigers Blick verborgen, stehen zwei Männer, die auf einen am Boden liegenden Dritten eintreten. Er biegt an der Gabelung nach links ab und schlendert weiter durch ein dichtbewachsenes Waldstück, in dem er trotz Vollmond kaum etwas erkennen kann. Hier stapft Rüdiger an einem alten Mann vorbei, der ohnmächtig im Gebüsch liegt, nachdem er sich bei einem Sturz den Oberschenkelhalsknochen gebrochen hat.
Schließlich vollendet Rüdiger die Runde am Ausgangspunkt seiner Wanderung. Er denkt kurz nach und kommt zu dem Schluss, dass er nicht schlafen können wird. Also geht Rüdiger weiter und macht noch eine zweite Runde.

Am Ententeich tritt Rüdiger in ein benutztes Kondom und ärgert sich kurz. Doch nicht so sehr wie der Erpel, der sein ganzes Leben gearbeitet hatte, um sich in dem Teich ein zu Hause für sich und seine Familie zu schaffen. Und nun so etwas. Seine Familie musste mit ansehen, wie ein junges Pärchen expliziten Geschlechtsverkehr vor ihrer Haustüre hatte.
Der Erpel tut, was jeder gute Vater und Ehemann in dieser Situation tun würde. Er filmt den ganzen Akt und benutzt die Videoaufnahmen, um Schweigegeld von dem Pärchen zu erpressen.
Da die Forschung zu Ente-Mensch-Ente Kommunikation noch in ihren Kinderflossen steckt, wusste jedoch keine der beiden Parteien, was die Andere von ihr will. Schließlich eskaliert der Konflikt, als der Enterich ein benutztes Kondom auf den Schnabel bekommt. Daraufhin schickt er seine Küken zu ihrer Großmutter und sperrte seine Frau in ihr Nest ein. Dann nimmt er die großkalibrige Waffe, welche er sich durch die Schweigegeldzahlung eines anderen Pärchens gekauft hat. Er zielt kaum, weil das auf die Entfernung nicht nötig ist.
Rüdiger beobachtet die Szene aufmerksam, doch geht er weiter, bevor der erste Schuss abgefeuert wird.
Er erreicht die Weggabelung und sieht zwei in dunkle Kleidung gehüllte Männer, die sich lautstark unterhalten. Rüdiger achtet nicht auf den Inhalt des Streitgesprächs, sondern nimmt ohne zu zögern die linke Abzweigung.
Am Rand zum dicht bewachsenen Waldstück sieht er einen übel zugerichteten Mann im Gebüsch knien, dessen vormals weißes T-Shirt mit dem Aufdruck "Nieder mit den Enten" mit roten Blutspritzern übersät ist. Kurz überlegt Rüdiger, ob er den Mann zur Rede stellen soll, doch dann fällt ihm ein, dass er sich bereits vor langer Zeit dagegen entschieden hat.
Ein gutes Stück den Weg entlang hört Rüdiger ein Stöhnen im Gebüsch, wo er einen alten Mann liegen sieht. Der Alte blickt mit unbestimmten Gesichtsausdruck zu Rüdiger, der ihm aufhilft.
"Gutes, dass du anderen tust, tust du dir selbst."
Rüdiger nickt zustimmend, auch wenn er noch nie etwas Gutes für andere getan hatte und es wohl auch nicht tun würde.
So beendet Rüdiger die zweite Runde im Wald. Er hilft dem alten Mann noch zu einer Sitzbank und spaziert dann weiter zum Ententeich.

Dort liegt die Leiche einer jungen Frau, welche man aus kurzer Entfernung mit einer großkalibrigen Waffe kaltblütig ermordet hatte. Von ihrem Liebhaber ist keine Spur zu sehen und bis auf ein Büschel Federn sieht Rüdiger auch nichts vom Enterich.
Rüdiger pinkelt in den Teich und geht weiter, wobei er darauf achtet, nicht auf Gewebemasse oder Knochensplitter zu treten. Er tritt auf das benutzte Kondom.
An der Weggabelung trifft er wieder auf zwei Männer, nur dass es sich diesmal um den jungen Liebhaber handelt, der gespannt den Erzählungen des etwas älteren horcht, welcher immer wieder auf sein T-Shirt mit dem blutigen Aufdruck "Nieder mit den Enten" deutet.
Diesmal nimmt Rüdiger die rechte Abzweigung des Weges, welcher etwas länger und weniger gut präpariert ist. Im Schlamm erkennt Rüdiger die Schuhabdrücke eines Erwachsenen und daneben, auf gleicher Höhe, die Abdrücke von Entenfüßen. Die Spur verliert sich schließlich und Rüdiger erreicht zum dritten Mal seinen Ausgangspunkt.
Die Sitzbank ist leer, der alte Mann nirgends zu sehen. Rüdiger spürt langsam die Müdigkeit in ihm hochsteigen, doch er entscheidet sich, weiterzugehen.

Der Alte sitzt mit den Füßen im Wasser am Rand des Ententeichs. Die junge Frau war verschwunden. Stattdessen hatte der Enterich neben dem Alten platzgenommen, sein Federkleid war nunmehr weiß und an manchen Stellen kahl. Die großkalibrige Waffe liegt zwischen den beiden und in ihrem Lauf reflektiert sich der Vollmond. Das ungleiche Paar flüstert unverständlich und doch kann Rüdiger die bedeutsame Schwere ihrer Worte in seinem innersten Spüren. Ein Enterich, der ein Leben voller Gewalt und Missbrauch geführt hat. Er zerstört das Leben zweier junger Menschen und die Schuld hierüber frisst ihn auf.
Rüdiger beobachtet wie sich der junge Liebhaber der ermordeten Frau an den Teich heranschleicht. Lange blickt dieser auf die großkalibrige Waffe. Die Taten des Enterichs, ein Akt der Willkür, verdammen den jungen Mann zu einem Leben, angetrieben von Zorn und dem unbändigen Wunsch Rache zu nehmen an seinem Peiniger. Der zweite, etwas ältere Mann stellt sich an die Seite des jungen Liebhabers. Doch anstatt nieder mit den Enten, trägt sein T-Shirt nun die Aufschrift »Nieder mit den alten Überzeugungen«. Er legt dem Jungen Mann seine Hand auf die Schulter und sie setzen sich gemeinsam an den Teich, gleich neben dem Enterich.
Der Alte blinzelt Rüdiger verstohlen zu, als er mit einer scheinbar beiläufigen Bewegung die großkalibrige Waffe ins Wasser gleiten lässt.
"Anderen zu verzeihen, heißt sich selbst verzeihen."
Rüdiger nickt zustimmend. Er beobachtet die stille Szene noch für einen Moment, dann macht er sich daran die vierte und letzte Runde des heutigen Abends abzuschließen. Unterwegs blitzt Rüdigers Vergangenheit flimmernd wie einer dieser alten Nitrofilme vor ihm auf. Es war schön, zu wissen, dass er dem Enterich irgendwann verzeihen können würde. In Momenten wie diesen, Momenten großer Offenbarungen, hat Rüdiger manchmal den Eindruck, seine Vergangenheit sei etwas Unwirkliches. Seine Erinnerungen etwas, dass so nie stattgefunden haben kann. Dass Enten eigentlich gar nicht sprechen können und er gerade eben nicht drei Versionen von sich selbst in verschiedenen Etappen seines Lebens gesehen hat.

Rüdiger war fast bei sich zu Hause angelangt, da schossen ihm zwei neue, zur derzeitigen Situation völlig irrelevante Gedanken in den Kopf. Der eine Gedanke beinhaltet die Erinnerung an ein romantisches Abendessen mit einer Frau, die er auf Tinder kennengelernt hat. In seiner Erinnerung sprachen sie gerade über komische Eigenheiten, die dem jeweils anderen bei sich selbst aufgefallen sind. Rüdiger erzählte dem Mädchen damals, dass er manchmal Heißhungerattacken hat, wenn er nicht schlafen kann. Der zweite, ebenfalls essensbezogene Gedanke beinhaltete einen Kochkurs, den Rüdiger auf der Volkshochschule besucht hat. Hier erklärte ihm der Kursleiter die Unterschiede in Form und Farbe von genießbaren gegenüber giftigen Pilzen. Ein dritter Gedanke, mehr eine Frage an sich selbst lautet: Wie sahen noch mal die Pilze aus, die da beim Ententeich gewachsen sind? Rüdiger verwirft den Gedanken, denn seine Sicht schwindet, vermutlich aufgrund der plötzlich einsetzenden Müdigkeit. Seine Beine versagen ihm den Dienst, was gut ist, weil wenn man schlafen will, sollte man still stehen. Oder liegen. Rüdiger gefällt dieser Gedanke besonders gut, deshalb legt er sich in seine Hauseinfahrt und stirbt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @MartinH und herzlich willkommen im Forum!

Ich habe deine Geschichte zweimal gelesen, aber so richtig einen Reim konnte ich mir nicht darauf machen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie einen Pilztrip beschreibt. So verhält sich dein Protagonist anfangs nur teilnahmslos in scheinbar schrecklichen Situationen, indem er an Leuten in Not vorbeigeht, da er sie entweder für Halluzinationen hält oder nicht mehr in der Lage ist, ihnen zu helfen.

Später passieren diverse Interaktionen zwischen Enten und Menschen, die ich mir als Leser nicht wirklich vorstellen kann. Zum Beispiel kann ich mir allein aufgrund der unterschiedlichen Größenverhältnisse bildlich nicht vorstellen, wie eine Ente „eine großkalibrige Waffe“ halten soll. Dafür fehlt mir entweder Psilocybin oder – besser – bildhaftere Beschreibungen deinerseits, wie das anatomisch zustande kommen soll.

Hinzu kommt, dass solche Beschreibungen wie „eine großkalibrige Waffe“ wahnsinnig unspezifisch sind. Geht es um ein Jagdgewehr? Eine .45 Magnum? Eine Barrett M82? Eine Bazooka? Ich sage nicht, dass du irgendwelche Herstellerbezeichnungen einbauen musst, aber konkreter (oder „partikulärer“) zu schreiben, würde die Fantasie der Leser nicht einschränken, sondern sie im Gegenteil bereichern.

Für einen Erstling schreibst du angenehm fehlerfrei, ein paar Kleinigkeiten sind mir allerdings aufgefallen. Ich gehe den Text chronologisch durch und mische Rechtschreibung mit Inhaltlichem:

Schließlich gibt er es auf
„Schließlich gibt er auf“ würde ausreichen. Erstaunlich, wie häufig man das unspezifische „es“ streichen kann.

Also geht Rüdiger weiter und macht noch eine zweite Runde.
Dreht?

und ärgert sich kurz
Very tell, no show.

Der Alte sitzt mit den Füßen im Wasser am Rand des Ententeichs. Die junge Frau war verschwunden. Stattdessen hatte der Enterich neben dem Alten platzgenommen, sein Federkleid war nunmehr weiß und an manchen Stellen kahl. Die großkalibrige Waffe liegt zwischen den beiden und in ihrem Lauf reflektiert sich der Vollmond.
Hier wird ein Problem ersichtlich, das sich durch den ganzen Text zieht: Du springst ziemlich zwischen den Zeiten. Überleg dir zu Anfang, ob du im Präteritum („sein Federkleid war nunmehr weiß“) oder im Präsens („der Alte sitzt“) schreiben möchtest.

Das ungleiche Paar flüstert unverständlich [,] und doch kann Rüdiger die bedeutsame Schwere ihrer Worte
Vor Widerspruchs-Konjunktionen wie aber, sondern, doch etc. kommt immer ein Komma.

Rüdiger beobachtet [,] wie sich der junge Liebhaber der ermordeten Frau
Auch hier ein Komma.

Doch anstatt nieder mit den Enten, trägt sein T-Shirt
Am besten deinem bisherigen Stil treubleiben und die Aufschrift wieder in Anführungszeichen setzen. Du verwendest übrigens zwei verschiedene Arten von Anführungszeichen, die hübschen Pfeilchen und die schlichten (Englischen), die der Editor des Forums setzt.

Er legt dem Jungen Mann
„jungen“ klein.

Rüdiger gefällt dieser Gedanke besonders gut, deshalb legt er sich in seine Hauseinfahrt und stirbt.
Die ganze Zeit habe ich beim Lesen auf eine Pointe oder zumindest Erklärung gewartet, was hier eigentlich vor sich geht. Im letzten Absatz wurde ich dann immerhin in meinen Vermutungen bestätigt, dass es um Halluzinationen aufgrund einer Pilzvergiftung geht. Den letzten Satz finde ich dann wieder so abrupt, brachial und in sich selbst unstimmig, dass du ihn beinahe hättest weglassen können. Oder vielleicht so umschreiben, dass Rüdigers Tod durchaus eine Möglichkeit ist, jedoch (wie bereits der Rest der Geschichte) Raum für Interpretationen zulässt.

Insgesamt würde die Auflösung im letzten Absatz für mich besser funktionieren, wenn vorher bereits erwähnt worden wäre, dass am Ententeich Pilze wachsen. Die „zwei neuen Gedanken“ bzw. „ein dritter Gedanke“, die Rüdiger gegen Ende einfach so durch den Kopf schießen, finde ich sehr plump. Sowohl seine Heißhungerattacken als auch die Information mit der „Form und Farbe von genießbaren gegenüber giftigen Pilzen“ hättest du besser und früher rüberbringen können, zum Beispiel durch mehr Show und weniger Tell. Beschreibe seinen Heißhunger und lass Rüdiger am Teich nach Essen suchen. Zeige die Pilze in einer anderen Szene, sie müssen (und sollten) nicht in derselben auftauchen, damit es weiterhin spannend bleibt. Warum wird ihm nicht übel oder heiß und kalt? Warum muss er nicht gähnen, um sich mehr Sauerstoff zuzuführen? Das alles hättest du gut einbauen können, um das Bild der Pilzvergiftung am Ende zu komplettieren.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es nicht leicht ist, Zustände der Bewusstseinserweiterung so niederzuschreiben, dass sie auch bei nüchternen Lesern ankommen. So richtig zufrieden war ich auch noch nie mit meinen Resultaten. Aber ich begrüße deinen Anlauf, selber darüber schreiben zu wollen.

Beste Grüße und bis zum nächsten Mal

imperfektionist

 

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