Was ist neu

Thema des Monats Entscheidungstag

Seniors
Beitritt
19.01.2004
Beiträge
935
Zuletzt bearbeitet:

Entscheidungstag

Die Felsen waren nur ein schwacher Schemen knapp eine Meile voraus. Nebel überzog an diesem Morgen den Küstenstreifen, dem sich die Boote aufgefädelt wie auf einer schwarzen Perlenkette langsam näherten.
Das Grollen der Maschinen übertönte die Gebete der Männer und das Plätschern des Erbrochenen.
„Nun ist ja längsam gut, Kämerad!“, lachte der Bootsführer zu Erwin hinunter. „Soviel kännst du gar nicht gefrühstückt häben.“
„Ich glaub, da war noch etwas vom gestrigen Mittag mit dabei“, stöhnte der Angesprochene und wischte sich über den Mund. Die aufschäumende Gischt am Bug des Bootes bot einige Sekunden lang eine willkommene Erfrischung: Spritzer kalten Nordseewassers, die ihn kurz den kommenden Schrecken vergessen ließen.
„Jäh, unsere VSA TypII-Länder sind nichts für schwäche Europäermägen“, grinste der Bootsführer und kaute genüsslich auf seiner längst erloschenen Zigarre herum.
Welle um Welle schlug gegen den Kiel. Erwin hatte Mühe, sich an seinem Platz zu halten und nicht gegen die Bordwand oder die Kameraden neben ihm geschleudert zu werden. Wie ein alter Seeräuber nur ohne Augenklappe und Holzbein stand der Bootsführer in seinem schwarzen Ölzeug über ihm auf dem Brückengitter und steuerte das kleine Boot quer durch die Brandung.
„Wie heißt du, Soldät?“, fragte er plötzlich, wobei seine Stimme mühelos gegen das Maschinendonnern und Wellenschlagen ankam.
„Gefreiter Erwin Roggenmüller, Herr Hauptmann“, rief Erwin, salutierte ordnungsgemäß und verlor dabei für eine Sekunde das Gleichgewicht. Der Bootsführer zollte ihm ein schadenfrohes Lächeln.
„Und woher kommst du, Erwin?“
„Aus Oberfranken, Herr Hauptmann, meine Eltern haben dort ein-“
„Oberfränken? Häb ich schon von gehört“, sagte der Bootsführer und schien sich ernsthaft von diesem Gedanken ablenken zu lassen. „Glaub, mein Urgroßvater väterlicherseits stämmte aus Oberfränken. Oder äber der mütterlicherseits“, grummelte er in seinen Stoppelbart.
„Und woher kommen Sie, Herr Hauptmann, wenn ich fragen darf?“, konnte Erwin gerade noch sagen, als ihn ein besonders tiefes Wellental für einen Augenblick des sicheren Standes beraubte und den Mageninhalt erneut nach oben trieb. Er warf sich an die Reling und...

(Einhundert Dreiundzwanzig Jahre früher)

... spuckte in den Eimer neben seinem Bett. Käsebleich rollte sich Johann zurück in die nassgeschwitzten Kissen. Trotz der Enge seiner Schlafkammer und der Nähe des mit frischen Holzscheiten gefütterten Kamins fröstelte ihm ganz gehörig. Dieses Jahr hatte ihn die winterliche Grippe schwer erwischt.
Er war gerade dabei sich tief in sein Federbett zu vergraben, als er Schritte und aufgeregte Stimmen auf der Veranda hörte. Mit wohlbekanntem Gezeter versuchte Lucy, die Hausnegerin, jemanden davon abzubringen, Master Staedler in seinem Krankenzimmer zu belästigen.
„Ist schon in Ordnung!“, versuchte Johann sich durch die schwere Holzbohlentür vernehmen zu lassen. „Nur herein mit-“
In diesem Moment wurde die Tür bereits aufgerissen. Ein Windzug fegte frische Luft in die Kammer, ließ das Kaminfeuer kurz flackern.
„Herr Staedler! Wie geht es Euch an solch historischem Tag?“ Mit diesen Worten stürmte Anwalt Hauffman herein, den verbliebenen Mief wohlwollend ignorierend.
„Eurer guten Laune nach zu urteilen, kann ich es mir wohl ersparen, nach dem Abstimmungsergebnis zu fragen“, stellte Johann fest und zwang sich zu einem dünnen Lächeln.
„Oh, es war denkbar knapp, lieber Staedler – nicht zuletzt dank Euch und Eurer Krankheit: 42 zu 41! Aber vermöge meines rhetorischen Geschicks gelang es mir, den Sprecher des Repräsentantenhauses, Herrn Muehlenberg auf unsere Seite zu ziehen. Seine Stimme war letztendlich das Zünglein an der Wage.“
„Wunderbar! Ich muss gleich-“ Johann machte Anstalten sich aus dem Bett zu erheben, aber der Anwalt drückte ihn sanft zurück.
„Ihr müsst vorerst nur gesunden, lieber Freund. Die nächsten Schritte überlasst getrost mir. Ein entsprechender Brief mit weiterführendem Antrag an den Kongress liegt bereits in meinem Sekretär. Denkt an meine Worte, Johann: Schon in wenigen Jahren spricht das ganze Land die Sprache der Dichter und Denker. Heute ist wahrlich ein entscheidender Tag für die Geschicke der Vereinigten Staaten.“

(Einhundert Dreiundzwanzig Jahre später)

„Aus den Staaten komme ich“, rief der Bootsführer Erwin zu, während dem langsam wieder das Blut ins Gesicht zurückfloss. „Neu-Bayern – däs liegt im mittleren Westen. Häb mich freiwillig zu den kaiserlichen Truppen gemeldet, um än diesem Himmelfahrtsunternehmen teilnehmen zu dürfen.“
Er lachte abermals. Laut und kräftig übertönte seine Stimme die mittlerweile aufgewühlte See. Nur noch tausend Fuß bis zur englischen Ostküste.
„Mächt euch fertig, Männer!“, rief er mit einem Mal. „Heute ist der Täg der Entscheidung. Zeigen wir’s diesen sturen Rotröcken. Für Gott und Vaterländ! Jäh!“

 

Hallo Hagen,

vom Schreibstil her hat mir der Text sehr gefallen und auch der Übergang zwischen den beiden Zeitebenen ist gelungen. Inhaltlich ist die Geschichte eher etwas mager: Die Amis haben Deutsch zur Landessprache gemacht. Das passt zwar zum Monatsthema, ist aber so alleine für mich noch etwas wenig für eine Geschichte. Der Plot besteht jetzt ja eigentlich nur aus der Erkenntnis, dass der Bootsführer ein deutschsprachiger Ami ist. Da hätte man wahrscheinlich schon noch etwas mehr daraus machen können. Ansonsten habe ich die Kurzgeschichte aber gerne gelesen.

Viele Grüsse,
Sorontur

 

Uups, jetzt hatte ich doch glatt noch nen Erklärungstext vergessen:

Basis dieses Textes ist die Legende von der knapp verfehlten Deutschsprachigkeit der USA aufgrund eines Entscheids im Repräsentantenhaus Virginias 1794.

Näheres hier: http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/0,1518,295157,00.html

Ich weiß, dass es sich hier eher um eine Legende als um einen historischen Fakt handelt, dennoch fand ich die Idee, die USA würde Deutsch anstatt Englisch sprechen, ganz interessant.

Hi Sorontur

Inhaltlich ist die Geschichte eher etwas mager:
Ich geb zu: viel steckt da nicht drin, deswegen ist sie ja auch so schön kurz.

Immerhin ist da noch eine spiegelweltlicher Geschichtsfakt drin verborgen: Die Deutschen und Deutschsprachigen landen an der englischen Ostküste, führen also einen eigenen D(ecision)-Day (= Entscheidungstag) durch.

Trotzdem danke für dein Interesse und deine Zeit :)


lg
Hagen

 

Ich hab mir noch gedacht, dass da etwas mehr dahinter steckt und jetzt wo du's sagst, erinnere ich mich auch wieder an diese fern zurückliegende Geschichtsstunde, in der so eine Abstimmung erwähnt wurde - nach dem Lesen deiner Geschichte werde ich's mir hoffentlich etwas länger merken können ;)

 

Hallo Hagen,

hat mir ganz gut gefallen die Geschichte. Die Legende von der knapp verfehlten Deutschsprachigkeit kenne ich, daher hatte ich keine Probleme, mir den Inhalt zu erschließen.
Ich hatte den Dialekt des Bootsmannes für Friesisch gehalten, daher verwirrte mich die Herkunftsbezeichnung "Neu-Bayern" etwas. Ich gebe zu, dass es nicht zwingend so sein muss, dass man in Neu-Bayern bayerisch spricht, in Neu-England wird ja auch kein Cockney gesprochen.

Na ja, ist nicht gerade ein Schwergewicht, aber ein netter Happen für zwischendurch.

Liste (kurz ;) ):

„Aus Oberfranken, Herr Hauptmann, meine Eltern haben dort ein-“

 

Reling ohne h!

Du hast zwar eine Legende aufgegriffen, aber konsequent umgesetzt. Nicht schlecht, vor allem die leicht modifizierte Sprache der Figuren: Da auch Amis in deutschen KG normalerweise deutsch sprechen, war das nötig und sinnvoll.

Ein inhaltlicher Verbesserungsvorschlag: Der "Chef" eines kleinen Invasionsschiffes ist wohl eher kein Hauptmann, sondern ein Unteroffizier (Uffz) oder Stabsunteroffizier (StUffz), der als Gruppenführer seine Schäfchen (Mannschaftsdienstgrade) in den Tod geleitet.

Die Überleitung mitten im Satz ist filmreif.

Fazit: sprachlich ok, inhaltlich interessanter Gedanke.

Uwe
:cool:

 

Hagen,

eine (mehr oder weniger) interessante Anmerkung fällt mir noch ein: Du beziehst Dich auf einen invertierten "D-Day" und übersetzt mit "Entscheidungstag". Soweit ich weiß, ist "Decision-Day" aber nur eine nachträgliche Interpretation von "D-Day", der Code wurde ursprünglich von den Invasionskräften absichtlich völlig inhaltsleer gewählt.
Das mag aber eine Legende sein, nachprüfen ist sowieso schwierig.

Grüße,
Naut

 

Hi Hagen,

Teilweise sehr schön geschrieben.
Idee ist leider nur Legende, denn bei der besagten Abstimmung ging es darum, ob Deutsch die zweite offizielle Amtssprache fuer die Staaten wird (wie es Spanisch in mindestens einem US-Bundesstaat ist, glaube Texas). Leider zu kurz und das was als Aufhänger gut ist, trägt die Story leider nicht.
Na ja, ist eben ein “Shorty”.

Gruss Proxi

 

Hi Hagen,
in einem Film hätte ich für die Überleitung in der Tat applaudiert. Schriftlich gefällt sie mir nicht so gut. Überhaupt empfinde ich die Rückblende hier eher als Notbehelf, weil es dir nicht gelungen ist, die Erklärung für den deutschsprachigen D-Day an der britischen Küste in den Hauptfaden mit einzuweben. Das würde mir angesichts der Kürzde dieser Story besser gefallen.
Das die Handlung etwas dünn ist hatten wir ja schon. Eigentlich ist es mehr eine Szene als eine vollständige Geschichte.

Sprachlich sehr schön, flüssige und schlüssige Dialoge.

Gruß lucutus

 

Hi

Erstmal einen allgemeinen Dank an alle, die bisher ihre wertvollen Minuten mit Lesen und Kommentieren verbracht haben.

Insgesamt scheint das Textchen sehr wohlwollend aufgenommen zu werden, auch wenn es wohl - wie ich leider zugeben muss - nicht sehr gehaltvoll ist :)

@Naut
Die Erklärung für den Dialekt brachte ja Uwe schon. Das mit dem D-Day wusste ich nicht, finde es aber seltsam, dass der Codename und der spätere Geschichtsname sogut übereinstimmen (Ich meine warum nicht A-Day? Oder X-Day?)


@Uwe
Mit dem Dienstgrad könntest du Recht haben. :hmm: Ich glaub, ich mach da einen Feldwebel draus :)


@James
Danke :D Ja, der Übergang gefällt mir auch *selbstlob*


@Proprox
Ich hab weiter oben einen Spiegel-Artikel dazu verlinkt. Offiziel besitzen die VSA überhaupt keine Amtssprache. Die haben sich darauf nie geeinigt.

@Luc
Eine plausible Erklärung an dieser Stelle miteinzuweben erschien mir schwierig. Wenn überhaupt hätte das ja nur in Dialogform geschehen können. Aber wie? Wie kann man schlüssig erklären, dass sich zwei Soldaten kurz vor einem mörderischem Angriff über die Abstimmung und ihre Konsequenzen unterhalten? Da entsteht doch nur irgendwas gekünsteltes draus. Ein Bruch in der Zeitebene, eine Überblendung auf einen ganz anderen (in Form und Funktion) Entscheidungstag schien mir erzählerisch und stilistisch interessanter.


Tschö
Hagen

 

Hi Hagen!

Ich möchte auch mal meinen Senf dazugeben:
Interessanter Stoff, den du da für die Geschichte verwendet hast. Die Umsetzung ist sprachlich sehr gelungen und macht neugierig.
Ich hatte jedoch den Eindruck, dass du das Potential nicht so richtig erkannt hast.
Welche weitreichenden Konsequenzen hätten sich ergeben können, wenn deutsch die offizielle Amtssprache in den USA geworden wäre?
Vielleicht, dass im Ersten Weltkrieg die Sympathien der Amerikaner eher auf Seiten der Deutschen gewesen wären? Dass sie zugunsten der Deutschen eingegriffen hätten?
Wäre ganz spannend, wenn so etwas bei deiner Geschichte rauskäme.
Außerdem: In dem Spiegel-Artikel werden zwei Jahreszahlen genannt: 1794 und 1828. Welche hast du genommen?

Ein paar klitzekleine Fehler waren schon dabei:

Einhundert Dreiundzwanzig Jahre früher

Einhundertdreiundzwanzig! Sieht nicht so schön aus, ist aber korrekt.

Seine Stimme war letztendlich das Zünglein an der Wage.“

Das heißt Waage.

meine Eltern haben dort ein-

Ich muss gleich-

Da gehören keine Bindestriche an die Enden, sondern immer noch dreifache Punkte. :teach:

Ciao, Megabjörnie

 

Tachi Mega :D

Vielleicht, dass im Ersten Weltkrieg die Sympathien der Amerikaner eher auf Seiten der Deutschen gewesen wären? Dass sie zugunsten der Deutschen eingegriffen hätten?
Ließ es mal genauer ;) Ein Amerikaner kommandiert einen Landungstrupp aus Deutschen bei der Invasion der britischen Küste.
Addiere 123 zu einer der beiden Jahreszahlen, in welchem Weltkrieg landest du dann?


Da gehören keine Bindestriche an die Enden, sondern immer noch dreifache Punkte.
Ist das eine feste Regel? Bin ich mir nicht so sicher. Soll in dem Fall ein Trennstrich sein. Punkte symbolisieren für mich eine Warte- oder Gedankenpause, während dem Sprecher hier ja, das Wort im Mund abgeschnitten wird.

Trotzdem Danke für das Lob. Fehler werden berichtigt.


Gruß
Hagen

 

Ließ es mal genauer

Das heißt, lies es mal genauer. :teach:
Aber stimmt, ich hatte mich wohl vor Müdigkeit verrechnet. Dachte sogar, ich lande im Zweiten Weltkrieg 1941, und bei der ersten Jahreszahl bei 1920.
Trotzdem, die Geschichte könnte ja völlig anders verlaufen sein, eben dadurch, dass die Amis die Machtverhältnisse auch politisch zugunsten der Deutschen verschieben. Der Krieg könnte früher oder später ausgebrochen sein.

Was die Trennstriche betrifft: Mich hätten die nicht weiter gestört, wenn davor keine einsilbigen Wörter stünden. Die Figuren sprechen das Wort fertig aus, daher ist der Trennstrich genaugenommen nicht korrekt. :klug:

 

Das heißt, lies es mal genauer.
Stümmt, main Fäler :D

Trotzdem, die Geschichte könnte ja völlig anders verlaufen sein, eben dadurch, dass die Amis die Machtverhältnisse auch politisch zugunsten der Deutschen verschieben.
Ich behaupte jetzt mal ganz frech (weil ich das irgendwo gelesen oder gehört habe), dass die USA bis zu ihrem Eintritt in den 1. WK politisch und wirtschaftlich nahezu ohne Einfluß auf Europa waren. Erst mit der damals im Zuge der militärischen Mobilisierung beginnenden Umstrukturierung von Agrar- auf Industriestaat bauten die Staaten ihren Machtbereich aus.
Somit sind die Änderungen vor 1914 maginal mE und nicht weiter von Interesse für die Geschichte.

Die Figuren sprechen das Wort fertig aus,
Gut, das kann ich ändern :D

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom