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Entscheidungstag
Die Felsen waren nur ein schwacher Schemen knapp eine Meile voraus. Nebel überzog an diesem Morgen den Küstenstreifen, dem sich die Boote aufgefädelt wie auf einer schwarzen Perlenkette langsam näherten.
Das Grollen der Maschinen übertönte die Gebete der Männer und das Plätschern des Erbrochenen.
„Nun ist ja längsam gut, Kämerad!“, lachte der Bootsführer zu Erwin hinunter. „Soviel kännst du gar nicht gefrühstückt häben.“
„Ich glaub, da war noch etwas vom gestrigen Mittag mit dabei“, stöhnte der Angesprochene und wischte sich über den Mund. Die aufschäumende Gischt am Bug des Bootes bot einige Sekunden lang eine willkommene Erfrischung: Spritzer kalten Nordseewassers, die ihn kurz den kommenden Schrecken vergessen ließen.
„Jäh, unsere VSA TypII-Länder sind nichts für schwäche Europäermägen“, grinste der Bootsführer und kaute genüsslich auf seiner längst erloschenen Zigarre herum.
Welle um Welle schlug gegen den Kiel. Erwin hatte Mühe, sich an seinem Platz zu halten und nicht gegen die Bordwand oder die Kameraden neben ihm geschleudert zu werden. Wie ein alter Seeräuber nur ohne Augenklappe und Holzbein stand der Bootsführer in seinem schwarzen Ölzeug über ihm auf dem Brückengitter und steuerte das kleine Boot quer durch die Brandung.
„Wie heißt du, Soldät?“, fragte er plötzlich, wobei seine Stimme mühelos gegen das Maschinendonnern und Wellenschlagen ankam.
„Gefreiter Erwin Roggenmüller, Herr Hauptmann“, rief Erwin, salutierte ordnungsgemäß und verlor dabei für eine Sekunde das Gleichgewicht. Der Bootsführer zollte ihm ein schadenfrohes Lächeln.
„Und woher kommst du, Erwin?“
„Aus Oberfranken, Herr Hauptmann, meine Eltern haben dort ein-“
„Oberfränken? Häb ich schon von gehört“, sagte der Bootsführer und schien sich ernsthaft von diesem Gedanken ablenken zu lassen. „Glaub, mein Urgroßvater väterlicherseits stämmte aus Oberfränken. Oder äber der mütterlicherseits“, grummelte er in seinen Stoppelbart.
„Und woher kommen Sie, Herr Hauptmann, wenn ich fragen darf?“, konnte Erwin gerade noch sagen, als ihn ein besonders tiefes Wellental für einen Augenblick des sicheren Standes beraubte und den Mageninhalt erneut nach oben trieb. Er warf sich an die Reling und...
(Einhundert Dreiundzwanzig Jahre früher)
... spuckte in den Eimer neben seinem Bett. Käsebleich rollte sich Johann zurück in die nassgeschwitzten Kissen. Trotz der Enge seiner Schlafkammer und der Nähe des mit frischen Holzscheiten gefütterten Kamins fröstelte ihm ganz gehörig. Dieses Jahr hatte ihn die winterliche Grippe schwer erwischt.
Er war gerade dabei sich tief in sein Federbett zu vergraben, als er Schritte und aufgeregte Stimmen auf der Veranda hörte. Mit wohlbekanntem Gezeter versuchte Lucy, die Hausnegerin, jemanden davon abzubringen, Master Staedler in seinem Krankenzimmer zu belästigen.
„Ist schon in Ordnung!“, versuchte Johann sich durch die schwere Holzbohlentür vernehmen zu lassen. „Nur herein mit-“
In diesem Moment wurde die Tür bereits aufgerissen. Ein Windzug fegte frische Luft in die Kammer, ließ das Kaminfeuer kurz flackern.
„Herr Staedler! Wie geht es Euch an solch historischem Tag?“ Mit diesen Worten stürmte Anwalt Hauffman herein, den verbliebenen Mief wohlwollend ignorierend.
„Eurer guten Laune nach zu urteilen, kann ich es mir wohl ersparen, nach dem Abstimmungsergebnis zu fragen“, stellte Johann fest und zwang sich zu einem dünnen Lächeln.
„Oh, es war denkbar knapp, lieber Staedler – nicht zuletzt dank Euch und Eurer Krankheit: 42 zu 41! Aber vermöge meines rhetorischen Geschicks gelang es mir, den Sprecher des Repräsentantenhauses, Herrn Muehlenberg auf unsere Seite zu ziehen. Seine Stimme war letztendlich das Zünglein an der Wage.“
„Wunderbar! Ich muss gleich-“ Johann machte Anstalten sich aus dem Bett zu erheben, aber der Anwalt drückte ihn sanft zurück.
„Ihr müsst vorerst nur gesunden, lieber Freund. Die nächsten Schritte überlasst getrost mir. Ein entsprechender Brief mit weiterführendem Antrag an den Kongress liegt bereits in meinem Sekretär. Denkt an meine Worte, Johann: Schon in wenigen Jahren spricht das ganze Land die Sprache der Dichter und Denker. Heute ist wahrlich ein entscheidender Tag für die Geschicke der Vereinigten Staaten.“
(Einhundert Dreiundzwanzig Jahre später)
„Aus den Staaten komme ich“, rief der Bootsführer Erwin zu, während dem langsam wieder das Blut ins Gesicht zurückfloss. „Neu-Bayern – däs liegt im mittleren Westen. Häb mich freiwillig zu den kaiserlichen Truppen gemeldet, um än diesem Himmelfahrtsunternehmen teilnehmen zu dürfen.“
Er lachte abermals. Laut und kräftig übertönte seine Stimme die mittlerweile aufgewühlte See. Nur noch tausend Fuß bis zur englischen Ostküste.
„Mächt euch fertig, Männer!“, rief er mit einem Mal. „Heute ist der Täg der Entscheidung. Zeigen wir’s diesen sturen Rotröcken. Für Gott und Vaterländ! Jäh!“