- Beitritt
- 13.04.2003
- Beiträge
- 7.599
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 54
Er gehört zu mir
»Papa!« Henning fliegt vom Ausgang der Schule auf mich zu, breitet seine Arme aus, lässt sich von mir anheben und einmal im Kreis drehen. Ist er so viel schwerer geworden oder ich so viel schwächer? Ich kann ihn kaum halten, wenn die Fliehkraft an seinen Füßen zerrt und die Beine wie Flügel in der Luft schwingen. Nach einem Kuss setze ich ihn zu Boden.
»Schau mal in den Kofferraum meines Wagens.« Aufgeregt läuft er los und öffnet die Heckklappe.
»Du willst fort.« Sein Gesicht betrübt sich, als er die beiden Rucksäcke sieht. Daran hatte ich nicht gedacht, dass er es so auffassen könnte. Ich schüttle den Kopf.
»Nein, Henning. Ich will nicht fort. Wir verreisen.«
»Jetzt gleich?« Ungläubig schaut er mich an. »Kommt Mama auch mit?«
»Deine Mama muss arbeiten. Und da du Ferien hast, hat sie mich gebeten, mit dir wegzufahren.«
Hennings Augen werden immer größer, der Mund ist weit geöffnet. »Aber warum hat sie heute Morgen nichts gesagt?«
»Es sollte eine Überraschung sein.«
Hatte ich erwartet, dass er mir vor Freude noch einmal um den Hals fällt? Ich weiß doch, wie es ist, wenn Überraschungen zu gut gelingen. Man kann sich nicht freuen. Hennings Mund bleibt offen, aber er jubelt nicht. Er sagt nicht einmal etwas. Er steigt wortlos in den Wagen und erst, als er schon auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, fragt er: »Darf ich vorne sitzen?«
»Klar«, antworte ich und spüre den strafenden Blick Elaines auf mir. Wie mächtig können Menschen sein?
»Wohin fahren wir?«
»Wohin möchtest du?«
»In die Berge.«
Das Meer hat ihn nie gereizt. Immer, wenn wir gefragt haben, wollte er in die Berge. Das muss er von mir haben. Elaine hasst die Berge.
»In Ordnung. Fahren wir in die Berge.«
»Schau mal!« Henning zerrt mit seinen kleinen Händen an meinem Hemd, während er gebannt aus dem Fenster sieht. Vor ihm der aufgeklappte Tisch mit einer Flasche Apfelsaft darauf. Immer näher rückt er an die Scheibe, presst seine Nase ans Glas, um nichts zu verpassen.
»Pass auf, Henning, sonst schmeißt du noch die Flasche um.« Ich fange schon an, wie seine Mutter. Wird man so, beladen von Verantwortung?
Unter uns rattern die Räder über die Gleise, ich gähne und übersehe lieber, dass Henning sich die Schuhe nicht ausgezogen hat, bevor er sich auf den Sitz kniete.
»Schau doch mal!« Kurz dreht er sich zu mir um, während er aufgeregt mit dem Finger nach draußen zeigt. Sachte erheben sich dort die ersten Ausläufer der Alpen. Hinter den Weiden türmen sich Mischwälder auf, aber Henning zeigt in den Himmel. »Siehst du den Vogel dort? Was ist das für einer?«
Hätte ich doch bloß besser aufgepasst in der Schule. Dann wüsste ich, ob es ein Adler ist, der dort oben kreist. Ich stehe auf, stelle mich ans Fenster und umschließe den zarten Körper des Jungen. »Ein Habicht oder ein Bussard? Ich kann es dir nicht sagen.«
Mund und Nase hinterlassen Spuren an der Scheibe.
»Mama hätte es bestimmt gewusst.«
»Ja, deine Mama ist klug.« Henning soll nicht schlecht über sie denken.
Ein paar Stunden Zugfahrt noch, dann werden wir am Ziel sein. Zum Glück ist der Blick aus dem Fenster aufregend für Henning.
»Siehst du einen Hasen oder ein Kaninchen auf den Weiden? Wenn der Vogel so kreist, könnte er sich bald hinab auf sein Opfer stürzen.«
»Nein.« Der Junge muss den Kopf schon weit drehen, um seinen Blick von dem winzigen Punkt im Himmel hinunter ins Tal lenken zu können. Bald wird der Vogel nicht mehr zu sehen sein.
»Schade.« Wie schön ist es, meine Hand auf seine Schulter zu legen, meinen Kopf nah an seinen zu halten und mit ihm in die gleiche Richtung zu schauen. Wie habe ich es vermisst, dass er sich so vertrauensvoll an mich schmiegt.
Die Sohlen seiner Schuhe sind zum Glück sauber. Trotzdem ziehe ich sie Henning sicherheitshalber aus, bevor ich mich wieder auf meinen Platz setze.
Der Vogel ist hinter dem Horizont verschwunden, die Geschwindigkeit des Zuges achtet nicht auf das, was wir sehen wollen, aber sie bringt uns immer weiter in Sicherheit. Die Hügel fangen an, Henning zu langweilen. Er rutscht wieder hinunter auf seinen Platz.
»Wann sind wir da?«
»Ein paar Stunden noch. Hast du Hunger?«
Henning nickt. Ich hole ein paar Brote mit Cervelatwurst und Gurken aus meinem Rucksack. Die hat er immer gerne gegessen, damals.
Damals. Das klingt, als ob es ewig her wäre. Dabei sind zwei Jahre nur dann eine Ewigkeit, wenn sie mit wartender und verzweifelter Sehnsucht gefüllt sind. Damals ist er noch nicht zur Schule gegangen.
Die Alufolie knistert, als ich eines der Brote auspacke und es ihm gebe. Wie vertraut einem Geräusche doch bleiben. Früher habe ich dieses Knistern immer nur gehört, wenn Elaine Henning ein Brot gab, während ich mich auf den Verkehr konzentrierte.
»Warum fährt Mama nicht mit mir in den Urlaub?« Brot quillt aus seinem Mund. Die Ungeduld lässt keinen Raum dafür, erst zu schlucken.
»Deine Mama muss doch arbeiten. Aber sie freut sich schon darauf, dich in zwei Wochen wieder zu sehen.« Wann würde er mich das nächste Mal fragen?
»Früher sind wir immer zusammen weggefahren.«
Früher. Als wir noch glaubten, so viel Glück gar nicht verdient zu haben und gemeinsam tief befriedigt lächelten, wenn wir noch einmal in sein Zimmer schauten, bevor wir ins Bett gegangen sind. Früher ist die Zeit der gemeinsamen Reisen, Henning auf der Rückbank und Elaine, die sich zu ihm umdrehte und dabei lachte.
»Ja, das war schön.«
Früher, als wir uns noch nicht dafür verletzten, dass wir uns auseinander gelebt haben.
Henning nickt bekräftigend. Das Brot hält er mit beiden Händen, wenn er hineinbeißt. Das blonde Haar hat er von Elaine, genau, wie die leicht angestupste Nase und die Sommersprossen. Nur die braunen Augen hat er von mir. Etwas scheint in seinem Kopf vorzugehen. Die Augen bewegen sich unruhig, schauen auf die beiden Rucksäcke, die über uns im Gepäcknetz liegen.
»Ich hoffe, Mama hat Nasi eingepackt.«
Das Nashorn. Wie konnte ich das vergessen. Hatte ich gehofft, dass er es nicht mehr braucht, wenn er in der Schule ist?
»Hey, beim Wandern nimmt Nasi doch viel zu viel Platz weg.«
Wie konnte ich erwarten, dass er sich damit zufrieden geben würde.
»Hat Mama ihn nun eingepackt?«
Ich darf ihn nicht belügen, nicht die Schuld auf Elaine schieben. Schließlich habe ich alle Sachen für ihn neu kaufen müssen. Ich weiß ja noch nicht mal, ob sie ihm passen.
»Nein. Ich habe es vergessen.«
Einen Moment lang vergisst er, zu kauen, mustert mich aus weit geöffneten Augen. Wenn ich ihm jetzt durch das Haar streichelte, würde der Schweiß meiner Hände es nässen. »Es tut mir Leid.« Ich könnte ihm anbieten, ein anderes Tier zu kaufen, sobald wir am Urlaubsort angekommen sind. Aber wäre das ein Ersatz für sein Nashorn?
»Armer Nasi«, sagt Henning. »Jetzt muss er zwei Wochen ohne mich auskommen.« Dann legt er seine Hand auf mein Knie. »Mach dir nichts draus, Papa. Ich vergesse ja auch manchmal etwas.«
Es muss schön sein, wenn man noch so klein ist, dass man mit zwei Sitzen auskommt, um sich hinzulegen. Es ist gut, dass er schläft. So kann er Kraft tanken für die Wanderungen von Hütte zu Hütte.
Gleich morgen in der Früh werden wir aufbrechen. In der Einsamkeit der Berge können wir verschnaufen, Vater und Sohn sein und gemeinsam etwas erleben. Dort werden sie uns hoffentlich nicht suchen.
Was spricht dagegen, dass er seinen Kopf so selig auf meine Beine bettet und ich ihn sacht streichle, während er schläft? Wie gefährde ich ihn in seinem Wohl? Was hat sie mir nicht alles angedichtet, nur damit ich ihn nicht sehen darf? Er würde nicht zu mir wollen, käme verstört von mir zurück. Er würde sich neuerdings im Bad einschließen, nachdem er bei mir war. Wie kommt sie auf solche abstrusen Ideen?
Ahnt er, dass Elaine mir hat verbieten lassen, mich ihm zu nähern? Weiß er um die Aufsicht, die immer dabei sein muss, wenn wir uns legal sehen wollen? Weiß er um die Bannmeile von fünfzig Metern? Wäre er dann so hoffnungsvoll auf mich zu gelaufen?
»Henning, wir müssen gleich umsteigen.« Ich mag ihn kaum wecken, so friedlich schläft er auf meinem Schoß. Er blinzelt leicht, murrt ein bisschen, bevor er die Augen öffnet.
»Was ist los?«
»Wir sind gleich in München.«
Langsam reckt er sich hoch, die Augen sind noch verklebt, die Haare verwuselt und platt gedrückt. Er schaut sich im Abteil um, blickt aus dem Fenster, dann auf mich.
»Guten Morgen Papa«, sagt er verwundert. »Dann habe ich ja doch nicht geträumt.«
So unwirklich bin ich schon für ihn.
»Nein, du träumst nicht.«
»Wo fahren wir hin?« Er blickt aus dem Fenster, sieht die Häuser an der Bahnlinie.
»Heute Abend erst mal nach Ainring.«
»Zum singenden Wirt?« Langsam kommt Leben in ihn. Den singenden Wirt kennt er aus der glücklichen Zeit. Aber darauf würde Elaine kommen. Ich reiche ihm seine Schuhe.
»Nein«, antworte ich währenddessen. »Dort hatten sie leider kein Zimmer mehr frei. Wir übernachten im Ainringer Hof. Und morgen früh kaufen wir dir neue Stiefel und wandern über das Steinerne Meer.«
»Ich kann das alleine«, wehrt er ab, als ich ihm die Schuhe zubinden will. So viele Fortschritte ohne mich. Also hole ich das Gepäck aus der Ablage. Einen Rucksack wird er tragen müssen. Aber ich habe nur ganz leichte Dinge darin.
»Ich habe es nur gut gemeint.« Irritiert schaut er kurz auf, bevor er den Knoten ein letztes Mal festzurrt.
»Wie kommt es, dass du auf einmal wieder etwas von mir wissen willst?« Er schaut mich nicht an, als er das fragt. Meine Hand schüttelt er ab, als ich seinen Kopf zu mir drehen möchte.
»Wieso denkst du, dass ich das nicht mehr wollte?«
»Mama hat es gesagt.«
Wütend beiße ich die Zähne zusammen. Wie schaffe ich es, ihm die Wahrheit zu erzählen, ohne Elaine schlecht zu machen? Wie schaffe ich es, ihr nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, was sie mit mir tut. Sie ist seine Mutter. Er soll sie lieben. Wir sind doch noch nicht einmal im Streit auseinander gegangen.
»Ich wollte immer etwas von dir wissen.« Den Zusatz - ich durfte ja nicht – verkneife ich mir. Damit hat er nichts zu tun. »Ich konnte nur nicht. Aber jetzt habe ich Zeit für dich.« Ob er sich damit zufrieden gibt? Ich halte ihm seinen Rucksack hin, sodass er mit seinen Armen durch die Träger greifen kann. Die Gurte zieht er sich alleine zurecht. Er hat viel gelernt in den zwei Jahren. Wir stolpern im Gang, als der Zug bremst. In München wollen viele Passagiere aussteigen. Ich nehme Henning an die Hand. Wir müssen uns beeilen, denn der Zug nach Freilassing fährt schon bald ab.
Hat jemand gesehen, wie Henning zu mir ins Auto gestiegen ist? Ich sollte Henning bei Elaine anrufen lassen, damit sie weiß, dass es ihm gut geht und er in zwei Wochen wieder kommt. Sie würde mir selbst diese zwei Wochen nicht gönnen. Vielleicht war es keine gute Idee, ausgerechnet nach Ainring zu fahren. Oder ist es nur Zufall, dass ein Polizeiwagen am Bahnhof steht?
Wir könnten überall sein. Das schlechte Gewissen redet mir Gespenster ein. Ich hoffe, Henning spürt meine Angst nicht. Bisher hat er mir geglaubt, dass seine Mutter mich gebeten hatte, mit ihm zu verreisen. Als ob wir noch anders als über Anwälte miteinander reden würden.
Wir sind nur Vater und Sohn, kein Grund zur Panik. Wir werden jetzt das Gepäck schultern, aus dem Zug aussteigen und den schmalen Weg zum Gasthof gehen.
Einer der Beamten lächelt freundlich, als wir auf den Bahnsteig treten. Bin ich auffälliger, wenn ich grüße, oder wenn ich an ihm vorbeischaue?
Wir müssen warten. Die Schranke öffnet sich erst, wenn der Zug fort ist. Dann können wir über die Gleise. Henning ist hellwach. Zum Glück redet er pausenlos auf mich ein, zeigt auf die Berge der Umgebung, auf den Watzmann, auf den Hundstot und auf den Untersberg, der sich als gewaltiges Massiv über das Tal erhebt und es dominiert.
Es ist erstaunlich, wie gut sich Henning die Namen der Berge merken kann. Fast, als wäre er hier zu Hause. Solange die Schranke unten ist, knie ich mich zu ihm, lasse mir alles erklären, was ich ihm gezeigt habe, als wir das erste Mal mit ihm hier waren.
Im Rücken spüre ich den Schatten, der auf mich zukommt.
»Herr Gravensen?«
Die Wörter des Illusionisten waren Zugfahrt, kreisen, hoffnungsvoll, beladen, Tal