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Erinnerung einer Rentnerin
Erinnerung einer Rentnerin
An jenen Tag erinnere ich mich ganz genau, obwohl ich nicht einmal groß genug war, um aus dem Fenster zu blicken. Meine Mama hatte hierfür einen Stuhl aufgestellt. Einen alten, schönen, mit roten Polstern auf der Sitzfläche und auf der Rückenlehne. Auf diesen konnte ich dann hochklettern. Durch die Pflanzen auf der Fensterbank hindurch schaute ich hinaus in die weite Welt. Draußen schien die Sonne und am blauen Moskauer Himmel gab es nicht eine einzige Wolke. Im Raum herrschte währenddessen eine ausgelassene Atmosphäre. Die Bretter aus denen unser Fußboden bestand waren frisch gewischt. Auf dem Sofa unterhielt sich meine Mutter mit ihrer Freundin, die Olga hieß. Diese war ein häufiger Gast bei uns.
Die Harmonie des Nachmittages unterbrach ein wildes Hämmern an der Eingangstür. Es kam so unerwartet und plötzlich, wie alles andere, was dem folgen sollte. Ich war zunächst nur zusammengezuckt, dann bekam ich es mit der Furcht zu tun. Meine Mutter geriet ohnehin in Panik, wann immer es irgendwo klopfte. So war das, seit sie meinen Vater geholt hatten. Doch jetzt - das war kein Klopfen. Es waren Schläge. Heftige Schläge, als versuche jemand, die Türe aufzubrechen.
Sie standen auf und gingen hin, während ich auf dem Stuhl blieb. Nur wenige Augenblicke später kamen sie wieder. Zu dritt. An beiden Armen hielten sie unsere Nachbarin fest. Deren Gesicht konnte ich zunächst nicht erkennen, denn ein Heulkrampf hatte es bis zur Unkenntlichkeit verändert. So hatte ich sie nie zuvor gesehen. Sie versuchte zu sprechen, aber aus ihrem Mund kam nur ein unverständliches Gewimmer. Die einzigen deutlichen Worte waren: „Meine Söhne, meine Söhne...“. Das wiederholte sie immer und immer wieder. Sie war hysterisch und auch ich begann, wie angesteckt, zu weinen. Die Angst war in unser Haus gekommen, furchtbare Angst. Wann immer ich dieses Wort höre, muss ich an die Augen dieser Frau denken. Aus ihren großen, rot-weiß-blauen Kugeln sprach die Machtlosigkeit vor dem Schicksal. Mama versuchte aus aller Kraft, sie zu beruhigen, während Tante Olga ein Glas Wasser aus der Küche geholt hatte. Erst als sie sich ein wenig beruhigt hatte und kurz vor ihrem nächsten Panikanfall stotterte sie etwas vor sich hin:
„Radio - Molotow spricht - Krieg“.